Diesmal berichte ich ausnahmsweise NICHT aus Brasilien, sondern aus Buenos Aires, Argentinien. Ich bin hierher auf Einladung meines Freundes Cristian Diaz gekommen, ein sympatischer, junger Mann den ich vor ein paar Jahren in Brasilien kennegelernt habe. Nachdem er mich vom Flughafen abgeholt und zu sich gebracht hatte, drückte mir die Schlüssel in die Hand, sagte: "Mein Haus ist dein Haus!" und dann verschwand wieder, um zur Arbeit zu gehen. Wie die meiste Argentinier hat er nämlich mehrere Beschäftigungen. Zur Zeit arbeitet er als Promoter, tagsüber für eine Supermarktkette und abends für Nokia. Er stellt sich zusammen mit anderen jungen Leuten in Parks, Einkaufszentren oder Diskotheken und verteilt Prospekte, Luftballons und anderes Werbematerial. Gelegentlich versucht er sich als Schauspieler, und Tänzer. Er hat schon mehrere Spots für´s Fernsehen gedreht und in einigen Musicals mitgemacht. Drei seiner Spots hat er mir gezeigt. In einem tanzt er Tango mit einer wunderschönen Frau, die leider wenig später ihn für einen Schokoriegel verlässt. Traurig! Cristians Mutter Eliane habe ich auch schon kennegelernt, eine nette, liebe, alte Frau die mich ins Herz geschlossen hat. Sie ruft morgens und abends, um sich nach mir zu erkündigen und möchte mich am liebsten jeden Tag zum Essen einladen. Sie kocht sehr gut und bei ihr gibt es das beste Fleisch weit und breit; in den Restaurants ist es manchmal ungeniessbar. Die Argentinier essen am liebsten Grillfleisch, das heißt hier: Asado. Oder man kann Parrilla bestellen, dann bekommt man 2, 3 verschiedene Fleischsorten, eine Bratwurst, eine Blutwurst und komische, total fette Innereien die nicht mal ein Hund fressen würde. Bei Mama aber (so nenne ich sie mittlerweile auch schon) ist das Fleisch so wunderbar zart, daß es im Munde zergeht. Apropos Hünde. Eines haben die Argentinier mit den Deutschen gemeinsam: Sie lieben Hunde über alles! Ich habe kürzlich ein armer Bettler am Boden liegen gesehen; über ihm hing ein Werbeplakat, der einen lachenden Boxerhund zeigte, darunter war zu lesen: Hauptsache, der Hund ist glücklich! Die größte Leidenschaft der Argentinier ist aber der Fussball. Hier sind alle fussballverrückt! Ich durfte es letzten Sonntag nachmittags beinahe am eigenen Leib erfahren. Weil ich nichts besseres zu tun hatte, bin ich kurzentschlossen zum Spiel zwischen der städtischen Mannschaft Boca Junior und einem ihrer Erzrivalen, dem Fussballklub ?Independiente? gefahren. Nachdem ich auf dem Schwarzmarkt eine Eintrittskarte für die exorbitante Summe von 100 Pesos erworben hatte, wurde ich in die obersten Rängen eines altertümlichen Stadions genannt ?La Gancha? dirigiert, weil meins ein Ticket ohne Sitzplatzanspruch war; von dort konnte ich zwar fast nichts von dem, was sich tief da unten auf dem Rasen tat sehen, dafür aber spüren wie, jedesmal als die Fans im Rhythmus hüpften, der Boden unter meinen Füssen schwankte und sehen, wie die Wände sich gefährlich hin und her bewegten. Nach einiger Zeit fiel mir auf, dass die andere Zuschauer mich irgenwie komisch angeschaut haben. Erst jetzt merkte ich, dass ich als einziger ganz in ROT bekleidet war, während um mich herum fünfzigtausend Leute in BLAUEN Trikots standen. Fast alle im Stadion waren in blau gekleidet; nur auf der gegenüberliegenden Seite war eine Sektion mit lauter Leuten in Rot. Es waren die feindliche Fans von Independiente, die von einer Armee von Polizisten beschützt wurden. Während des Spiels und besonders nach einem Tor, haben die Blauen im Chor die Roten beschimpft mit Rufen wie, zum Beispiel: Das ist für euch, ihr Hurensöhne! Gott sei Dank, hat Boca Junior zwei zu null gewonnen, sonst weiss ich nicht, was mit mir passiert wäre. Später hat mir mein argentinischer Freund Cristian erklärt, dass nur die Tatsache, dass ich ein rotes HEMD getragen habe, mir das Leben gerettet hat. Hätte ich dagegen ein rotes T-Shirt oder, noch schlimmer, ein rotes Trikot angehabt, dann wäre ich jetzt tot und begraben.
Dieser Boca Junior ist wie der F. C. Bayern, sie gewinnen fast immer. Gerade sind sie argentinische Meister geworden und zwei Wochen später südamerikanische Meister. Nach jedem Sieg, gehen die Fans zum grossen Obelisk in der Avenida 9 de Julio und feiern die ganze Nacht. Sie schwenken Fahnen, trinken, singen und schiessen Feuerwerkskörper in die Luft. Die meisten von ihnen haben keine Arbeit und fast nichts zu essen, aber das macht nichts. Hauptsache wir sind die Champions (und der Hund ist glücklich)!
Mein Freund Cris hat nichts für den Boca Junior übrig, er ist nämlich ein Anhänger des anderen grossen Fussballklubs aus Buenos Aires, des F. C. River Plate. Weil beide Klubs aus dem Armenviertel Boca stammen, haben sie sich jahrelang aufs heftigst bekriegt; jeden Tag gab´s blutige Strassenkämpfe bis, in den 60er Jahren sie zu der Einsicht kamen, dass es so nicht weitergehen konnte. Sie beschlossen um den Stadtteil zu spielen; der Verlierer sollte auswandern. Boca Junior gewann das Match und blieb; sein Stadion befindet sich bis heute mitten in dem Stadtteil und wird, wegen seiner quadratische Form, ?La Bombonera? (Bonbonsschachtel) genannt. River Plate wanderte nach Norden in den Stadtteil Belgrano aus, eine vornehme Gegend wo hauptsächlich wohlhabende Familien wohnen, baute dort für viel Geld ein neues, gigantisches Stadion und gab ihm den Namen: El Magnifico (der Prächtige). So wurde aus einer Niederlage letzendlich doch noch ein Sieg für den F. C. River Plate!


© Giuseppe Tistera


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Beschreibung des Autors zu "LIEBER BLAU ALS TOT!"

Fußball kann auch lebensgefährlich sein!

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