Jukebox

© yupag chinasky

 
Als er die halbdunkle Bar betrat und wohlige Kühle ihn umgab, entkam er zwar der brütenden Hitze des frühen Nachmittags, doch zugleich begann mit diesem Schritt sein Verhängnis, dessen fatale Folgen er erst später merkte. Zunächst atmete er erleichtert auf, stellte seine schwere Fototasche und ein solides Stativ auf die staubigen, hellen Fliesen des Fußbodens, auf dem das Sonnenlicht die nicht ganz dichten Jalousien als regelmäßiges Muster abbildete, und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Der Raum war leer, auch hinter der großen Theke war kein Mensch. Es musste aber jemand da sein, denn es war nicht nur die Klimaanlage, die quietschte und rappelte, auch aus einer alten Jukebox tönte kratzend, leicht dissonant, ab- und anschwellend und manchmal aufjaulend, aber immer in moderater Lautstärke eine Rumba. Eine verführerische Frauenstimme sang von einem Herz aus Kristall und dass viele Gefühle grausam verletzt worden waren. Fasziniert betrachtet er die Jukebox, eine Wurlitzer, ein prächtiges, altmodisches Modell aus Holz, Glas und Metall, das aus derselben Zeit stammen musste wie die alten Straßenkreuzer, die in diesem Land notgedrungen immer noch in Betrieb waren. In dem Glaskasten dominierte ein Fächer mit echten, schwarzen Vinyl-Schallplatten und für die Auswahl der Titel, die auf einer kaum noch lesbaren, handgeschriebenen Liste verzeichnet waren, gab es große, elfenbeinfarbene Druckknöpfe aus Bakelit. An der Frontseite des Prachtstücks blinkten ständig bunte Streifen und Ringe auf einer von hinten beleuchteten Glasplatte. Nachdem er das nostalgische Wunder ausreichend bestaunt hatte, er liebte solche alten Geräte aus der Zeit, die noch vor seiner Jugend lag, setzte er sich in einen der ausgefransten Korbsessel, die zusammen mit einigen runden Tischchen mit Metallbeinen vor der Theke standen und gab sich dieser einschmeichelnden, rauchigen, wenn auch ziemlich kratzigen Frauenstimme hin. Die Jukebox war aber entweder defekt oder auf Dauerbetrieb eingestellt, denn sie spielte immer denselben Schlager und es waren immer dieselben Worte, die er heraushörte: corazon de cristal, tanto, tanto amar, lastima, pena. Bei dem gleichförmigen Gedudel überfiel ihn eine wohlige Müdigkeit, er kuschelte sich tiefer in den Sessel, schloss die Augen, begann zu dösen und schlief schließlich ein.
Er wachte auf, weil jemand den Dauerbetrieb der Jukebox unterbrochen hatte. Die plötzliche Stille brachte ihn zurück ins Leben. Er blinzelte und sah von diesem Jemand zuerst nur die Füße. Diese Füße waren ziemlich dunkel, ob wegen der Hautfarbe oder wegen des Straßenstaubs konnte er in dem spärlichen Licht nicht ausmachen, sie steckten jedenfalls in ausgetretenen Slippern, die früher einmal rosafarben gewesen sein mussten. Langsam wanderte sein Blick höher, über schlanke Fesseln und stramme Waden hinweg zu halblangen, blau verwaschenen Jeans, die knapp unterhalb der Knie begannen und dann die immer breiter werdenden Oberschenkel und schließlich auch noch die ausladenden Hüften umspannten. Seine immer noch durch den Schlaf getrübten, aber zunehmend klarer werdenden Augen, verweilten für einige Sekunden auf einem breiten Reißverschluss aus Aluminium,  der aus einer ausgeprägten, senkrechten Falte zu entspringen schien, die ihren Ursprung in der Tiefe des Venusdreiecks hatte. Die beiden Metallbahnen wurden durch den Bauch, der zwar nicht übermäßig dick, aber doch deutlich vorhanden war, um so weiter gespreizt, je höher sie anstiegen. Das obere Ende dieses "Reitzverschlusses" war seinem Blick entzog, weil es von einem Gürtel überdeckt wurde, einem sehr breiten, geflochtenen Ledergürtel mit einer noch breiteren Silberschnalle, in Form zweier sich ineinander verwindenden Schlangen. Hier endeten auch die Jeans und es begann viel nackte, eindeutig braune Haut und hier sah er auch die Hände der Frau, deren Daumen resolut in dem Gürtel verhakt waren. Hände, denen man ansah, dass sie zupacken konnten und jede Art von Arbeit verrichten mussten, Hände mit kurzen, kräftigen Fingern, an denen diverse silberne Ringe steckten und die allein durch ihre resolute Haltung einiges über den Charakter dieser Frau aussagten. Die kurzen Fingernägel waren vermutlich noch nie besonders gepflegt worden, aber dennoch hatte man sie irgendwann einmal dunkelrot lackiert, denn der Lack, obwohl weitgehend abgeblättert, war immer noch in Spuren vorhanden. Bis zu diesen Händen und bis zu dem Bauchnabel, der eine Handbreit über dem Gürtel, statt sich in einer Mulde zu verstecken, deutlich heraustrat, ein kleiner Hügel auf dem Bauchberg, war der Blick des zunehmend interessierten Betrachters allein durch die Bewegung der Augen gelangt. Um die Erforschung des restlichen Teils des Körpers fortsetzen zu können, musste er den Kopf heben und sein Blick traf nun auf die ersten Rippen am Beginn des Brustkorbs. Diese waren gerade noch zu sehen, dann bedeckte ein straff sitzendes, leicht angeschmutztes, weißes T-Shirt die mächtige Brust, die breiten Schultern und die stämmigen Oberarme. Es schien ihm, dass dieses Kleidungsstück nur dazu da war, diesen Busen, den tiefen Ausschnitt, einen deutlich sichtbaren, reichlich knappen, hellblauen BH und die sich trotz des BHs klar abzeichnenden Brustwarzen zur Geltung zu bringen. Auf einem der exponierten Hügel war mit glashellen Strassperlen „touch me“, auf dem anderen „me too“ gestickt. Als er seinen Kopf noch weiter anhob, sah er nun auch das Gesicht der Frau, umrahmt von halblangen, schwarzen, gekräuselten Haaren, die mit einem bunten Band zusammengehalten wurden. Dieses Gesicht wirkte auf ihn beim ersten Anblick ein wenig plump und ein wenig vulgär. Das Kinn war energisch vor gereckt, die vollen, rot angemalten Lippen strahlten eine unverhohlene Sinnlichkeit aus. Die Nase war zu breit, die Stirn dagegen zu hoch, die Backenknochen kaum ausgeprägt. Das Gesicht hätte er als langweilig abgetan, wenn da nicht diese schönen, wirklich schönen, tiefschwarzen Augen gewesen wären. Und diese Augen schauten den Mann, der in dem Korbsessel kauerte und seinen Kopf verrenken musste, um sein Gegenüber anzuglotzen, mit einer Mischung aus Neugier, Vorsicht und Herausforderung an, jedoch ohne eine Miene zu verziehen, ohne den Hauch eines Lächelns.
Während des visuellen Abtastens, ja Abgrapschens der Einzelheiten dieses formidablen Körpers, war er hellwach geworden, richtete sich endlich in seinem Sessel auf und rückte auch seine verrutschte Brille zurecht, erst jetzt konnte er sie in aller Deutlichkeit anschauen. Auch sie schaute ihn immer noch wortlos an, beide sagten eine ganze Weile nichts und er kam zu dem Schluss, dass die Frau, zwar weder taufrisch noch besonders hübsch war, schon gar nicht von der fragilen Schlankheit die er an den hiesigen Frauen schätzt, dass sie aber dennoch attraktiv und irgendwie irritierend war. Er schätzte sie auf Ende zwanzig bis höchstens Mitte dreißig und nahm, angesichts ihrer milchkaffeebraunen Haut und ihrer Gesichtszüge an, dass es sich um eine Mulattin handeln müsse. Er mochte Mulattinnen, sie schienen ihm immer für Liebe und Sex empfänglich zu sein und auch die, die vor ihm stand und ihn abschätzend anstarrte, musste ein heißes Weib sein. Allein wegen ihrer ausgeprägten Körperrundungen, ihrer sexbetonten Kleidung, ihrer selbstbewussten Körperhaltung und ihrem forschen, fordernden Gesichtsausdruck war es vermutlich eine, die nichts dagegen hatte, wenn (M)man(n) sie beachtete, die es genoß, wen (M)man(n) ihr nach pfiff, die sich nicht sehr wehrte, wen (M)man(n) sich an sie ran machte. Eine, die wie die Männer, auch immer nur das eine im Kopf hatte.
Während dieser Überlegungen, starrte er sie weiter ziemlich dämlich an, verzog, als sie sich nach wie vor nicht rührte und nichts sagte, die Mundwinkel zu einer Art Lächeln, räusperte sich, weil seine Kehle immer noch ausgetrocknet war und begann zu erklären, dass er wohl sehr müde gewesen war und eingeschlafen sei und das auch wegen der einlullenden Musik aus dieser wunderbaren Jukebox und er deute in Richtung des nun stillen Schmuckstücks. Nun endlich zeigte sich ein leichtes Grinsen in dem Gesicht und die Frau sagte, dass dies nicht schlimm sei und dass es ihr leidtäte, ihn geweckt zu haben, wenn er so müde sei. Dann fragte sie ihn, er wolle doch sicher etwas zu trinken und ob er auch noch etwas essen wolle, sie könne ihm das Übliche, was man hier so essen würde, anbieten. Ja, sicher, ein Bier wäre schön, ein kaltes, wenn es das gäbe und, ja auch etwas zu essen, obwohl er bei der Hitze nicht viel Hunger habe, aber seit dem Frühstück habe er nichts mehr bekommen und nun sei es ja schon deutlich nach Mittag. Als die Frau sich umdrehte und mit wenigen Schritten hinter die Theke ging, verfolgte er sie erneut mit seinem taxierenden Blick und fand ihre Rückseite, besonders den strammen Hintern, den wiegenden Gang und das Gewackel der Pobacken, genauso anziehend und aufreizend wie ihre Vorderfront. Aus einem uralten, großen Kühlschrank entnahm sie eine dunkelrote Dose Bucanero und goss das Bier in einen schweren Glaskrug, einen wahren Humpen, der ihm in dieser Umgebung völlig deplatziert vorkam und der durch den Doseninhalt zu kaum einem Drittel gefüllt wurde. Sie stellte das Glas auf die Theke, denn der Mann war inzwischen aus seinem Sessel aufgestanden und hatte sich, einen sehnsüchtigen Blick auf diesen Traum von Jukebox werfend, auf einen der wackeligen Barhocker gesetzt. Das Bier war tatsächlich kalt und schmeckte vorzüglich. Während er es in kleinen Schlucken genüsslich trank, fuhr er fort, die Frau anzustarren, wobei seine Augen die Zonen fixierten, die ihre Weiblichkeit so ausgeprägt zur Geltung brachten und auf die wohl alle Männer gestarrt hätten. Die Angestarrte war das anscheinend gewohnt, denn sie blickte herausfordernd zurück, konnte jedoch seinem hungrigen, provokativen Blick nicht lange standhalten und wurde sichtlich verlegen. Sie begann an ihrem spärlichen T-Shirt herumzuzupfen und verschwand schließlich mit der Bemerkung, sie wolle jetzt das Essen zubereiten, in der angrenzenden Küche, streckte aber noch einmal kurz den Kopf durch die Tür und meinte, er könne die Jukebox bedienen, wenn er wolle, sie würde noch tadellos funktionieren, auch ohne Geld. Er nickte erfreut, stand auf, stellte sich vor den Kasten und wählte einen Titel, den er zu kennen glaubte, aber das Lied, das dann ertönte, war ihm völlig fremd. Dann öffnete er die Kameratasche und holte einen Fotoapparat heraus, eine teure Profikamera mit einem mächtigen, ausgezeichneten Objektiv und begann seinen Traum festzuhalten.
Nach einer Weile kam die Frau zurück und stellte einen Teller mit frittierten Bananen, Reis, schwarzen Bohnen und einem undefinierbaren braun-roten Brei, der entfernt nach gebratenem Hackfleisch in Tomatensoße schmeckte, auf die Theke. Während er aß und ein zweites Bier trank, setzte sie sich dicht neben ihn und kramte eine Schachtel Populares sowie ein billiges, purpurrotes Plastikfeuerzeug aus den Taschen ihrer Jeans. Ohne zu fragen, ob es ihn beim Essen störe, zündete sie eine der billigen Zigaretten an und blies ihm den Rauch, halb unüberlegt, halb provokativ ins Gesicht. Dann fragte sie ihn nach dem woher und dem wohin und was er hier, in dieser abgelegenen, gottverlassenen Gegend eigentlich mache. Er zeigte auf den Fotoapparat, der neben dem Teller lag und erklärte ihr, dass er seltene Blumen und Insekten fotografiere, die es nur hier gäbe. Daraufhin fing sie an zu lachen und meinte, dass es ganz schön blöd von ihm sei, bei dieser Hitze im Freien herumzulaufen und Bilder von langweiligen Pflanzen und bescheuerten Mistkäfern zu machen. Er solle doch lieber sie aufnehmen, sie sei ein viel schöneres Motiv und dabei lachte sie noch mehr, wohl wissend, dass es mit ihrer Schönheit nicht mehr gar so weit her war. Es sei schon immer ihr Traum gewesen, einmal Fotomodell zu spielen, seit sie als junges Mädchen eine Sendung über Modells im Fernsehen gesehen hatte, aber hier, in diesem Scheißkaff, gäbe es keinen Fotografen, ja nicht einmal einen Fotoapparat und Touristen, die ja alle Fotoapparate hätten, kämen nicht bis hier her. Sie schwieg, sah dem Rauch nach und drückte die Zigarette auf dem Fußboden mit ihrem Fuß auf. Dann meinte sie ein wenig zögerlich, er könnte ihr diesen Traum erfüllen, und als er sie ein wenig belustigt anschaute, sagte sie mit Nachdruck, warum denn nicht, sie sei doch noch ganz ansehnlich. Dann stand sie auf und führte ihm vor, was ihrer Meinung nach ein Modell machen muss. Sie wiegte sich in den Hüften, reckte ihren Busen vor, leckte ihre vollen Lippen und sah ihn aus ihren tiefschwarzen Augen verträumt und verführerisch an. Er musste lachen, als sie so posierte und ihre Vorzüge anpries, doch dann blickte er sie eine ganze Weile aufmerksam und nachdenklich an, erst abwägend, dann abschätzend und schließlich voller Interesse und versicherte schließlich, ebenfalls mit Nachdruck, dass er das sehr gerne machen wolle, sie fotografieren, wenn sie wolle.
Er nickt zerstreut, als sie ihn bittet, ihr die besten Bilder schicken, denn er ist schon dabei, die Posen und die Stellungen zu planen und malt sich so einige Einzelheiten aus und in seinem Kopf beginnt sich etwas ein Gedanke breit zu machen und einzunisten und zu wachsen und immer klarer Gestalt anzunehmen, der Gedanke, wie dieses unerwartete Shooting enden würde. Während er das Stativ aufbaut, die Kamera den Stativkopf schraubt, Blende und Belichtung einstellt, kramt die Frau in ihrer Handtasche, die sie unter der Theke hervorgeholt hat, entnimmt Kamm, Handspiegel und Lippenstift und beginnt sich für die Aufnahmen herzurichten. „Andere Kleider habe ich hier leider nicht“, stellt sie bedauernd fest, „hier arbeite ich nur, meine Wohnung ist ein Stück weit entfernt.“ „Du siehst perfekt aus, genau richtig“, versichert er, während er die ersten Probeaufnahmen macht, die Einstellungen korrigiert und dann doch noch den Blitz heraus kramt, weil es in dem schattigen Raum ziemlich dunkel ist. Er zeigt ihr die Bilder auf dem Monitor der Kamera und sie ist begeistert. Die Bilder sind gut, nicht nur weil die Kamera teuer und das Objektiv von ausgezeichneter Qualität ist, sondern vor allem, weil er sein Handwerk versteht.
Nun sind beide mit den Vorbereitungen fertig und die Frau ist schon ganz hibbelig, aber erst stellt er die Jukebox wieder an, die längere Zeit geschwiegen hat. Musik diene der Entspannung, erklärt er und Entspannung sei ganz wichtig, immer locker, im relaxt, ob sie das verstehe. Sie nickt, er schaut sie amüsiert an und ist sich sicher, dass sie das nicht verstanden hat, aber das macht nicht, die Entspannung wird schon noch kommen. Und wieder singt eine krächzende, aber dennoch einschmeichelnde Stimme von Liebe, Leidenschaft, Verzweiflung und anderen großen Gefühlen und beschwört die ewige Treue. Alma y corazon, romantica amor, lagrimas negras, was denn sonst, in diesem Land. Dann, endlich, kommen sie zur Sache und das Shooting beginnt. Er arbeitet konzentriert und professionell: einige Totalen, mehrere Halbporträts, dann Vollporträts, von vorne, von der Seite, sogar von hinten. Schließlich nimmt er sich die Details vor: das Gesicht, die Lippen, die Augen, die Ohren, auch die Hände, die leider weder schön noch fotogen sind, im Gegensatz zu dem üppigen Busen mit dem sagenhaften Ausschnitt, dann die Taille, den kecken Nabel, den prallen Hintern, nicht zu vergessen den aufregenden Reißverschluss, den aufzuziehen er sich lebhaft vorstellt. Schließlich fährt er mit der Kamera vollends die Beine hinab, zu den Waden, den Fesseln und endet bei den rosa Slippern. Er findet den Staub gut, den Dreck, das ein wenig Heruntergekommene seines Modells. Er haßt Beauty-Fotografie, diese geleckten, künstlichen Typen ohne einen Makel, Langeweile pur. Hier ist eine Frau aus dem prallen Leben, etwas angestaubt in jeder Hinsicht, aber sexy und wild darauf fotografiert zu werden. Sie ist so, wie er es erwartet hat. Sie ist geduldig, willig, bereit, jede Pose einzunehmen, wartet bewegungslos, wenn er ein paar Einstellungen wiederholt. Sie will nur immer wieder sehen, was er gerade aufgenommen hat und dann freut sie sich ganz offensichtlich. Freut sich, dass er sie so intensiv, so detailliert abfotografiert, dass sie es ist, ihr Körper, ihr Busen, ihr Hintern, ihr Mund, ihre Augen, die sie auf dem Monitor sieht. Irgendwann will sie wissen, ob sie ihm denn gefalle. Er bejaht, sein Herz klopft dabei etwas stärker, wenn du wüßtest, denkt er. Sein Mund wird bei ihren Worten wieder trocken, aber nicht weil es an Bier gemangelt hätte, die Frau hatte den Humpen nachgefüllt, sonder weil er so langsam zum Schluß und damit zum Höhepunkt kommen will. Aber als er das Bier fast auf einen Zug ausgetrunken hat, nimmt sie das Heft in die Hand und beginnt so zu posieren, wie sie will. Will in den Stellungen aufgenommen werden, die ihr vorschweben. Sie besitzt fraglos ein natürliches Talent und hat gute Ideen, muss er neidlos anerkenne. Sie hat sich solch eine Situation sicher schon öfters vorgestellt, denkt er weiter. Sie hat sich bestimmt schon öfters ausgemalt, was sie in solch einer Situation machen würde, falls es jemals dazu käme, dass ein richtiger Fotograf sie ablichtet und so läßt er sie gewähren und ist zunehmend fasziniert. Sie lehnt sich als erstes tief über eine Sessellehne, sodass die hängenden Halbkugeln ihrer Brüste fast aus den hellblauen Körbchen des BHs rutschen und er zwischen ihnen sogar den fürwitzigen Bauchnabel fokussieren kann. Dann stellt sie sich aufrecht hin, reckt den Oberkörper vor, umfasst ihre Brüste mit den breiten, so gar nicht erotischen Händen, drückt sie nach oben, presst sie zusammen, dann wieder auseinander und leckt mit ihrer rosa Zunge, dieser biegsamen Schlange, über das Dekolleté, streicht über die sanften Hügel und fährt tief hinein in das Tal. Als Nächstes setzt sie sich auf einen Barhocker und spreizt die Beine so weit und so aufreizend, wie eine steinerne Hindugöttin in einem Liebestempel. Eine Hand steckt sie von vorne in die engen Jeans, die andere liegt auf ihrem Hintern. Sie gleitet von dem Hocker, stellt sich neben die Jukebox, legt eine Hand auf das Gerät, spitzt den Mund, leckt die Lippen, singt ganz laut, reißt dabei den Mund weit auf, verdreht schmachtend die Augen. Kaum dass er die Pose festgehalten hat, legt sie sich auf den Fußboden und räkelt sich, verführerisch wie die Schlange im Paradies, während das Muster der Jalousie, das die Sonne abbildet, auf ihrem Leib tanzt. Ihr Gesichtsausdruck, vor allem ihr Blick, ist höchst wandlungsfähig: einmal selbstbewusst und stahlhart, ganz Domina, im nächsten Moment jungmädchenhaft, romantisch und verlegen, dann wieder lasziv und sinnlich. Die sich heftig windende Zungenschlange verschmiert das Rot des Lippenstifts um ihren Mund herum. Die dunklen Augen werden vollends nachtdunkel, der Blick verschleiert sich und der Ausdruck, mit dem sie den Fotografen anschaut, lässt dessen Kehle erneut austrocknen. Erst jetzt merkt er, dass diese konzentrierte Arbeit, an der er wie in Trance teilgenommen hat, nicht nur sehr durstig gemacht hat, sondern ihn auch sehr erregt hat, jetzt ist er so richtig heiß und geil. Er geht selbst zum Kühlschrank, holt eine weitere Dose und gießt sie in das Glas. Dabei kommt zur Abwechslung ihm selbst wieder eine Idee. Er klettert auf die Theke, stellt sich hin, um ein paar Bilder senkrecht von oben auf die handballgroßen, hochgeschnallten Hügel im Push-up-BH zu schießen. Das wiederum veranlasst die Frau, die auch sehr erregt zu sein scheint und der dicke Schweißtropfen auf der hohen Stirn stehen, sich auf die Theke zu legen, umgeben von Flaschen, Gläsern und dem noch nicht abgeräumten Teller des Mittagessens. Sie streckt die Hand aus, nimmt den Humpen und gießt sich das restliche Bier auf das T-Shirt. Sie lacht schallend, als der Fremde ihre Kurven anvisiert, die sich nun noch deutlicher, noch plastischer hervor heben und die sie höchst willig, höchst verführerisch dem Objektiv entgegen streckt.
Nachdem beide wieder von der Theke heruntergeklettert sind und die wichtigste Arbeit nun erledigt ist, geht die Frau zur Jukebox. Sie sehr vergnügt und höchst zufrieden, so entspannt, wie er es sich vorgestellt hat. Sie wählt das Lied von den „dos gardenias para ti“, singt inbrünstig mit und tanzt im Raum umher. Auch der Fotograf ist mit dem bisherigen Verlauf des Shootings sehr zufrieden. Bei dem fotografischen Teil ist mehr herausgekommen, als er zu hoffen gewagt hatte, vor allem durch das aufreizende und dennoch selbstverständliche Gebaren seines Modells. Er macht noch ein paar Bilder von der Tänzerin, aber die Lust auf Bilder ist befriedigt. Zudem ist die Speicherkarte fast voll. Jetzt wird es Zeit, sich auf das zu konzentrieren, was er auch noch will, was zu seinem vollkommenen Glück noch fehlt. Mit jeder Pose, die diese verrückte Frau eingenommen hatte, mit jeder erotischen Variante, die sie vor ihm ausprobiert hatte, war seine Begierde gewachsen, hatte seine Erregung zugenommen. Nun will er keine weiteren Bilder mehr haben, nun will er sie haben, will diesen stämmigen, sinnlichen Körper besitzen, hier und jetzt. Er will nicht mehr knipsen, nur noch ficken. Er fordert sie mit heiserer Stimme auf, das T-Shirt ausziehen und auch die Jeans. Doch auf einmal will sie nicht mehr, auf einmal ist sie nicht mehr willig und fügsam. Nein, das will sie nicht, sie will sich nicht ausziehen, sagt sie sehr deutlich. Aber der aufgegeilte Fotograf besteht darauf. Sie zögert, er drängt weiter, sie sieht ihn missmutig an. Schließlich streift sie widerwillig, zögernd das knappe Stück Stoff über den Kopf, das sich T-Shirt nennt, öffnet dann die Gürtelschlange, danach den breiten Aluminiumreißverschluss und zerrt die Jeans mit einiger Mühe Stück für Stück über die Hüften und die Oberschenkel, hinab zu den Füßen. Als die Kleidungsstücke auf dem Boden liegen, kickt sie diese wütend in Richtung Theke. Ihre Stimmung hat sich plötzlich gewandelt. Sie ist nicht mehr das nette, geduldige Modell mit der Bereitwilligkeit alle Posen einzunehmen und eigenen Ideen umzusetzen. Sie ist plötzlich sauer, unwillig, zornig. Er merkt die Veränderung, aber seine Geilheit wird dadurch in keiner Weise verringert. Vielleicht schämt sie sich, denkt er, denn nun steht sie in ihrer Unterwäsche vor ihm, in dem hellblauen Büstenhalter mit einem geflickten Träger und Löchern in den Körbchen. Statt des vermuteten raffinierten Tangas hat sie eine ausladende, verwaschene Unterhose an, einen echten, hausbackenen Liebestöter. Sie weiß, dass sie in diesem Zustand längst nicht mehr so attraktiv aussieht wie in ihren knappen Klamotten und fürchtet, dass sich der Eindruck von Banalität, Normalität und Beliebigkeit noch verstärkt, wenn sie ganz nackt vor diesem dämlichen Fotografen steht, der sicher genau das von ihr auch noch fordern wird. Aber das will sie schon gar nicht, so etwas mag sie überhaupt nicht, nicht nackt. Die Zeiten, als sie sich selbst noch schön fand, wenn sie nackt war, sind vorbei, nun ist sie zu fett, zu wenig elegant, einfach nicht mehr sexy genug, um sich nackt zu präsentieren. Aber zugleich treibt sie die Angst um, dass der Fotograf, der einen so tollen Job gemacht hat, sich dann ärgert, dass der schöne Tag so in reiner Scheiße enden wird und, noch viel schlimmer, dass er ihr die Abzüge, die er ihr versprochen hat, nicht schicken wird und dass ihr Traum letztlich auch dieses Mal unerfüllt bleiben wird, schöne Bilder zu haben, von sich selbst. Diese Scheißmänner, denkt sie, als sie wieder anfängt sich hinzustellen, ein Bein vorgestreckt, eine Hand auf den Busen, die andere in die Haare, das Gesicht zu einem Grinsen verzerrt, die wollen immer alle dasselbe. Ihre Euphorie ist verflogen, ihre Freude am kreativen Gestalten dahin. Die Posen, die sie gerade noch perfekt beherrschte, wollen nicht mehr gelingen und neue Ideen, die gerade noch sprudelten, kommen nicht mehr. Sie ist nur noch verlegen und unbeholfen, steht steif und ungelenk herum. Mit der einsetzenden Ernüchterung merkt sie erst so langsam, dass der Typ sie gar nicht mehr fotografiert, dass er gar nicht mehr in den Sucher der Kamera schaut, die er wieder auf das Stativ geschraubt hat, nur noch sie anstarrt, wie ein hungriger Hund. So ein Arschloch, denkt sie, erst fotogeil und jetzt nur noch geil, ein Mann wie alle Männer, einer der nimmt, aber nicht geben will.
Und schon ist der Punkt erreicht, denn er die ganze Zeit angestrebt hat und den sie zu vermeiden suchte, der Zeitpunkt, da er sie will, aber sie ihn nicht. Dabei hat er ihr anfangs durchaus gefallen und wie er sie fotografiert hat, das hat ihr sehr gut gefallen, aber das was er jetzt will, nein, das kriegt er nicht. Das hätte sie ihm vielleicht gegeben, als Belohnung. Aber nicht so, nicht mit Gewalt. Und die setzt nun ein, als er sie auffordert, ja geradezu anschreit, „mach den BH auf, zieh diese verdammte Unterhose aus“, schreit sie zurück „no, basta, no soy una puta. Schluss jetzt, ich bin doch keine Hure, was glaubst du eigentlich, du Arschloch. Terminado fotografiar, largate. Hör sofort auf mit dem Geknipse und hau ab.“ Er will aber nicht wahrhaben, dass diese Schlampe sich ihm verweigert, dass sie kneift, kurz bevor er am Ziel ist. Er packt sie am Arm, zerrte an ihrem BH, bis der geflickte Träger reißt und eine Brust aus ihrer erhöhten Position dramatisch absackt. Doch selbst diese Ernüchterung kann ihn nicht bremsen. Das Stativ mit der teuren Kamera steht verlassen im Raum. Er braucht sie nicht mehr. Fotografieren ist jetzt vorbei, jetzt geht er zum direkten Angriff über. Er packt die Frau an der Schulter, versucht sie an sich zu pressen, versucht sie zu küssen oder an ihr zu lecken, irgendein Stück Haut abzulecken. Sie entwindet sich seinem Griff, schreit ihn an. Er ist verunsichert, versucht nicht weiter, sie zu umarmen, greift aber nach ihrer freien Brust, begrapscht sie, tastet sie ab, wie ein Pfund Fleisch auf dem Markt. Sie haut ihm auf die Hand, drückt sie weg und steht nun, keuchend und schwitzend, vor dem erhitzten, erregten Mann, der sie anblafft: „Du wolltest doch nicht nur die Bilder, du wolltest doch gefickt werden. Wozu die ganzen geilen Posen, wenn du nicht was anderes willst. Stell dich also jetzt nicht so prüde an, komm schon her, sonst gibt es eine Tracht Prügel.“ Er keucht und lässt keinen Zweifel, was er will und dass er das jetzt sofort will und dass er sich das auch mit Gewalt nimmt, wenn diese Hure nicht will. Er fängt an, den Gürtel seiner Hose zu lösen, zieht ihn aus den Schlaufen, wirbelt ihn mit der einen Hand wie eine Peitsche, während die andere Hand beginnt, den Hosenstall aufzuknöpfen. Die Frau starrt ihn an, sie ist hell empört, eine Furie, die vor Zorn bebt und sie tut instinktiv das einzig Richtige, um diesen tollen Fotografen an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen und ihn aus seiner blinden Auerhahnbrunst herauszuholen. Sie packt den schweren Bierkrug, der immer noch auf der Theke steht, macht einen Schritt auf das Stativ zu und schmettert den Krug mit großer Wucht auf die Kamera. Ein klirrendes, splitterndes Geräusch, dann fallen beide, Stativ und Kamera, mit lautem Krachen auf die Fliesen. Der Fotograf erstarrt, die Frau rafft ihre paar Kleidungsstücke zusammen und läuft, laut schimpfend, in die Küche, knallt die Tür hinter sich zu und verriegelt sie.
Die Attacke auf seinen wertvollsten Besitz hat den Wüstling in der Tat augenblicklich auf den Boden der Wirklichkeit zurück gebracht. Ernüchtert, fassungslos, den Tränen nahe, starrt er auf sein demoliertes Arbeitsgerät, hebt es schließlich auf, steckt es in die leere Tasche, nimmt auch das Stativ, ohne es zusammen zu schieben und schleicht sich, ein begossener, nein, ein bepisster Hund, auf die Straße, zu seinem Auto und fährt davon. Der Urlaub ist versaut, von den Kosten für eine neue Kamera ganz zu schweigen. Fast noch schlimmer ist, was er dann zu Hause feststellen wird: von den vielen Bildern, die er in der Bar gemacht hat, ist kein einziges zu retten, die Speicherkarte ist durch den heftigen Schlag und den Aufprall irreparabel zerstört worden. Und als ob ihn die Rache der Frau noch nachträglich treffen sollte, wird er feststellen müssen, dass auch ein großer Teil der Bilder von den Pflanzen und Tieren, der eigentliche Grund seiner Reise, ebenfalls verloren ist. Was bleiben wird, sind Trauer und Wut, vielleicht auch etwas Scham, dann noch das Bild dieser rasenden, rasanten Furie in seinem Kopf und vor allem die Erinnerung an die krächzenden, jaulenden, einschmeichelnden Songs aus der Jukebox, deren entspannende Wirkung das Drama leider nicht hatte verhindern können.


© yupag chinasky


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