Ich schlendere über den Markt irgendwo in Italien, ein Ort südlich der Mündung des Po. Es ist so schön, die Mittelmeersonne scheint mir ins Gesicht. Ich ziehe mir die Sonnenbrille aus den Haaren und setze sie auf.
“Oh, schau mal!” Meine Freundin Sanne zieht mich zu einem Stand hinüber, wo lauter alte abgegriffene Bücher liegen. Ihre Augen leuchten und ich nehme das Erstbeste in die Hand.
Wir sind zu fünft unterwegs. Die anderen drei sind wild über den Platz verstreut. In einer halben Stunde treffen wir uns zum Mittagessen in der Pizzeria am Brunnen.
Sanne fällt ziemlich schnell auf, dass die Bücher alle auf italienisch sind - wer hätte es gedacht - und zieht etwas enttäuscht weiter.
Ich gehe an ein paar Sonnenhüten und Caps vorbei und überlege noch, ob ich es mal wieder wagen soll. Vollkommen unbeabsichtigt hat sich dieser Tick eingeschlichen, dass ich aus jedem Urlaub eine Kopfbedeckung mit nach Hause nehme, um sie dann im nächsten Urlaub daheim zu vergessen. Gerade halte ich ein Basecap in pinkem Batic in der Hand. Ein Musterbeispiel schlechten Geschmacks, genau richtig für die Ferien. Unbewusst ziehe ich die Mundwinkel nach oben, als sich ein Schatten vor die Sonne schiebt.
Verwirrt schaue ich nach oben. Doch als ich mir die Hand vor die Augen halten muss, um nicht geblendet zu werden, ist keine einzige Wolke in Sicht. Vielleicht doch lieber keine Mütze.
“Wir sollten unbedingt hier unser Grillzeug mitnehmen. Die Auswahl ist einfach so viel besser als in dem kleinen Supermarkt bei uns.” Chris, der jüngste und kleinste von uns, ist gleichzeitig unser Koch. Sein bester Freund Tony gehört eher zu den großen in unserer Klasse und zusammen sind sie ein absolut hinreißendes Gespann. Sanne grübelt immer noch darüber nach, wie sie zu einer guten Urlaubslektüre kommt und schließlich ist da noch Maya, die anscheinend irgendwo eine dubiose Dose mit selbstgebrannten CDs erstanden hat.
“Hast du überhaupt etwas, um die abzuspielen?” frage ich.
Sie zuckt nur mit den Schultern. “Klar! Unser Auto.”
Ich stöhne und lege den Kopf in den Nacken. “Das klappt bestimmt gut.”
“Und wenn nicht, gibt es auch in dem Haus einen Player, hab ich gesehen.”
“Und du weißt bestimmt auch, was da drauf ist?” Sanne mischt sich in das Gespräch ein.
“Der Verkäufer meinte ‘Only Classics’.” Maya ist immer gut gelaunt und ich lasse mich gerne davon anstecken.
“Hm, dann hören wir wohl auf dem Weg zurück alles von Mozart über Rock’n’Roll bis hin zu 80s. Krasser MIx.”
Maya schmunzelt. “Na und? Ich mag Überraschungen.”
Ein Schatten legt sich plötzlich über den Tisch, den Gehweg, die Gebäude. Automatisch sehe ich wieder zum Himmel. Keine einzige Wolke. Ich ziehe die Augen zusammen.
“Habt ihr das auch gesehen?”
“Was?” fragt Chris.
“Dass es irgendwie dunkel geworden ist? Wie eine Wolke oder so.”
Tony stöhnt auf meine Frage hin. “Sag das nicht! Wir haben nur diese Woche! Wenn es heute regnet, ist morgen das Meer nur halb so schön. Ich wusste, wir hätten erst morgen einen Ausflug machen sollen.”
“Der Himmel ist komplett blau! Wieso sollte es denn regnen?” fragt Sanne.
“Was weiß ich, Edda hat das behauptet!” verteidigt sich Tony.
“Hab ich nicht! Ich wollte nur…” weiter komme ich nicht.
“Edda verschrei’s nicht!” ruft Maya aus.
“Ich hätte nichts gegen einen regnerischen Abend. Da kann man sich mit einem schönen Buch auf die Veranda kuscheln.” Sanne hat noch nicht aufgegeben.
“Dafür bräuchtest du erstmal ein Buch.” kichere ich.
“Es regnet ja auch nicht. Also, kein Problem.” Sie streckt mir die Zunge raus.
Schließlich machen sich Chris und Anton auf, um Sachen fürs Abendessen zu besorgen. Maya und ich begleiten Sanne in die kleine Buchhandlung am Marktplatz, die auch englisch-sprachige Literatur verspricht. Tatsächlich ersteht sie schließlich doch noch zwei Urlaubsromanzen, was mich vermuten lässt, dass wir in den nächsten Tagen alles aus diesen Büchern haarklein erzählt bekommen.
Die anderen treffen wir am Auto wieder, steigen alle ein und fahren schließlich los. Wir haben das Ferienhaus schon ziemlich früh gebucht. Theoretisch wollten wir auch einen Mietwagen haben, aber der Vermieter hat uns direkt angeboten, uns seinen Zweitwagen zu leihen, einen etwas älteren Golf mit einem CD Player, offensichtlich. Es ist wirklich nicht das neueste Fahrzeug, aber es ist irgendwie stilecht und als wir schließlich die Küstenstraße entlang fahren und Maya auf dem Beifahrersitz das Fenster öffnet, ist die Welt vollkommen in Ordnung.
Was da auf der ersten CD ist, klingt eher nach Oldies als nach Klassik und tatsächlich noch nicht mal nach guter Musik. Das meiste ist Teeniepop der 90er und ich muss bei beinahe jedem Lied lachen.
“Hey! Ich wette, zu der Zeit, hatten sich ganz viele dieses Lied als Hochzeitstanz gewünscht!” wirft Maya ein, als der Titelsong von Titanic durch das Auto wabert. Ich schnaube unwillkürlich.
Das kann nur von ihr kommen. Gefühlt hat sie für jedes wichtige zukünftige Ereignis ihres Lebens einen Wunschsong und für jedes vergangene mindestens ein Lied, das ihre Gefühle zu diesem Zeitpunkt wiedergibt. Ich möchte wetten, sie hat einen Soundtrack für ihr gesamtes Leben. Sogar für ihre Beerdigung wünscht sie sich Bittersweet Symphony von The Verve. Nicht, dass das sonderlich originell wäre. Andererseits wäre ich im Moment froh über den Song.
Sanne entscheidet sich in diesem Augenblick, uns an dem Klappentext ihrer frisch erworbenen Romance Bücher teilhaben zu lassen. Ich verstehe nur die Hälfte und sehe im Rückspiegel, dass weder Chris noch Tony auch nur den Anschein erwecken, als würden sie zuhören.
Die Straße schlängelt sich an den Klippen entlang und ich ertappe mich bei dem Gedanken, dass uns bitte kein Laster entgegenkommen möge, weil ich wirklich nicht weiß, wie ich hier ausweichen soll.
Als hätte ich es beschworen, höre ich im nächsten Moment die ersten Töne von Mayas Beerdigungssong. Ich lache auf und sie sieht mich irritiert an.
Die Straße macht eine langgezogene, enge Linkskurve und ich habe Mühe, das Auto in der Spur zu halten. Beherzt trete ich auf die Bremse.
Viel zu spät sehe ich das Fahrzeug vor mir. Die Warnblinker helfen null, wenn die Kurve nicht einsehbar ist. Wie in Zeitlupe versuche ich auszuweichen, unser Fahrzeug dreht sich, rutscht seitlich, schlittert, unsere Spur, die Gegenfahrbahn, wer weiß das schon.
Immer noch läuft Bittersweet Symphony. Vielleicht wird es nicht bei Mayas Beerdigung gespielt, sondern es läuft, während sie stirbt. Instinktiv wende ich ihr meinen Blick zu. Sie sieht mich immer noch an. Niemand schreit, oder ich bekomme keine Geräusche mit. Maya läuft eine stille Träne über die Wange und ich spüre mit erschreckender Präzision, wie sich ein scharfes Metall unter meinen Sitz, durch das Fahrzeug schiebt und es quasi aufspießt.

Wir stehen neben dem Fahrzeug, neben uns ein Polizist in einer Warnweste. Wir alle haben diese mittlerweile angezogen. Er zeigt in eine Richtung auf der anderen Straßenseite und bedeutet uns, ihm zu folgen. Um uns herum scheint so viel Lärm zu sein, ächzen von Metall, so viele Geräusche, Wasser, mit dem kleinere Brandherde gelöscht werden, Helfer, die sich gegenseitig Dinge zurufen. Wir folgen dem Beamten im Gänsemarsch und ein zweiter Polizist reiht sich hinter uns ein.
Auf der Seite der Straße, die den Felsen zugewandt ist, führt eine Treppe nach oben auf eine Aussichtsplattform. Hier haben sich noch mehr Menschen versammelt. Nachdem alle Warnwesten tragen, vermute ich, dass sie alle in diesen Massenunfall verwickelt sind.
“Wie wahrscheinlich ist es, dass wir schnell zurückkommen?” fragt Sanne und ich zucke mit den Schultern. Ich sehe mich nach jemandem um, den wir fragen können. Die Beamten haben uns leider nur den Weg gewiesen und sind direkt wieder abgebogen.
“Kommt, wir schauen uns das mal genauer an.” schlägt Tony vor und macht sich auf den Weg zum Rand der Aussichtsplattform. Die Leute hier unterhalten sich kaum und wenn, dann nur geflüstert. Alle stehen vermutlich etwas neben sich.
Ich selbst weiß überhaupt nicht, wie ich mich fühlen soll. Mir tut nichts weh. Ich wurde untersucht, wir alle. Zumindest glaube ich das. Erinnern kann ich mich nicht daran. Das schiebe ich dem Schock zu, den ich mit Sicherheit erlitten habe. Ich sollte dankbar sein, dass wir alle mehr oder weniger unverletzt davon gekommen sind. Meine Freunde und ich werden in ein paar Stunden wieder in unserem Ferienhaus sein und unserem Host erklären müssen, was mit seinem Auto passiert ist.
Tausend Fragen gehen mir durch den Kopf. Wie ist das in Italien mit Versicherungen? Muss ich irgendeine Aussage machen? Wo erfahre ich das Aktenzeichen, das ich unserem Vermieter geben kann. Aber immer wieder kehren meine Gedanken zu der einen Tatsache zurück: Zum Glück sind wir alle unverletzt.
Eine Frau, etwas älter als ich, steht ein paar Schritte entfernt. In der Brise löst sich ihr Schal. Doch bevor er weggeweht werden kann, mache ich zwei Schritte und fange ihn. Als ich ihn ihr zurück gebe, bedankt sie sich auf Deutsch. Sofort nutze ich die Gelegenheit, um ihr Fragen zu stellen. “Wissen Sie, was passiert ist?”
Sie schüttelt nur den Kopf. “Nein, aber es werden immer mehr Autos hier hinein verwickelt. Die Straße ist sehr kurvenreich und irgendeinen Idioten gibt es immer, der zu schnell fährt und das nicht einschätzen kann. Sie schaffen es ja noch nicht mal, die Warndreiecke weit genug versetzt aufzustellen.” Stimmt! Jetzt, wo sie es sagt, ich habe keins gesehen. Vielleicht bin ich unaufmerksam gewesen, aber womöglich war gar keins da. Oder eben nicht so, als dass es etwas gebracht hätte.
“Das heißt dann wohl, wir sind hier noch länger?” Nun wendet sich die Frau wieder dem Unfall und dem Meer zu.
“Vielleicht. Kommt darauf an, wie wir hier abgeholt werden und von wem und ob überhaupt.” Sie gluckst. Galgenhumor scheint mir durchaus angebracht. Auch meine Mundwinkel heben sich. Aber als ich auf den Horizont hinausblicke, erscheint er mir verdächtig blass, beinahe unscharf. Ich verenge die Augen, kann ihn aber dennoch nicht fokussieren.
Hab ich mir doch irgendwo den Kopf gestoßen? Ich sollte mir wahrscheinlich noch einmal einen Sanitäter suchen. Aber eine Frage muss ich noch loswerden, solange ich noch halbwegs denken kann.
“Wie lange warten Sie denn schon hier?” Ich behalte die Frau im Blick, solange ich kann, aber ihr Profil wird immer milchiger, verschwimmt mit der Umgebung, bis ich kaum noch etwas erkennen kann und ich bezweifle, dass ich ihre Antwort noch hören werde, da ich nicht mal mehr sagen kann, ob ich noch aufrecht stehe. Aber dann erklingt sie doch erstaunlich klar aus dem nichts, das mich inzwischen umgibt.
“Seit ich tot bin.”


© Eveline Martini


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Kommentare zu "Urlaub am Meer"

Re: Urlaub am Meer

Autor: Michael Dierl   Datum: 31.10.2024 8:29 Uhr

Kommentar: Hi, eine sehr ähnliche Geschichte erzählte mir mal ein guter Freund der mit einem Motorrad verunglückt ist. War viel kaputt bei ihm aber zum Glück war der Rettungswagen den er überholt hat gleich bei ihm. Sie Sanitäter und ein Arzt waren an Board und der Arzt meine Exitus der macht es nicht mehr lange. Doch sie gaben nicht auf. Er spürte keine Schmerzen und konnte alles aus etwa 100 Meter über der Unfallstelle hören was gesagt wurde. Zum Glück war dann das Krankenhaus auch nicht weit weg sonst hätte ich die Geschichte nie erfahren. Zum Glück auch war er gut durchtrainier als Karatelehrer und konnte so einiges wegstecken. Der Helm rettet im das Leben. Trotzdem hatte er Rippenbrüche und vieles andere auch. 2 Jahre später fing er wieder ganz leicht mit dem Training an. Es dauerte eine Zeit aber heute weiß er dass das Leben weiter geht. Diese Erfahrung war Gold wert meinte er auf einem Besuch bei mir.

lg Michael

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