Mai, 1990:

Tukkatakkatukkatakka. Meine Augenlider sind schwer. Ich lehne an meiner Oma und drücke meinen kleinen Teddybären fest an meine Brust. Er ist das einzige, das ich mitnehmen durfte. Das einzige, das mich aus unserem alten in das neue Leben begleiten darf.

Wochenlang haben meine Eltern und Großeltern gepackt. Alle möglichen Dinge haben sie in riesige Holzkisten geworfen oder gelegt. Ständig haben sie mir erzählt, wie toll es ist, da, wo wir hingehen. Aber war es das?

Immer noch sind meine Augen auf die Landschaft, die draußen vor dem Fenster vorbeizieht, geheftet. Werden wir langsamer? “Wir sind an der Grenze.” flüstert meine Oma. Als müsste ich wissen, was das bedeutet. Meine Eltern sitzen mir gegenüber und richten sich wie automatisch auf. Ich spüre, wie meine Oma mich fester an sich zieht. Und auch ich halte meinen Teddy etwas fester, als der Zug zum Stillstand kommt.
Er ist hellbraun, hat einen ovalen, weißen Bauch und darauf einen Tennisschläger mit einem Ball aufgenäht. Ich kann mich nicht erinnern, wie lange ich ihn schon habe. Wahrscheinlich seit immer.

Ich höre, wie die Zugtüren aufgehen. Schwere Schritte bewegen sich über den Gang. Es sind viele, sie gehen in unterschiedliche Richtungen. Schließlich wird die Tür zu unserem Abteil aufgemacht.
Herein kommt ein Mann. Er ist nicht besonders groß, oder eindrucksvoll. Er trägt eine grüne Uniform samt Mütze. Dazu diese schweren braunen Stiefel, mit denen er jedes Geräusch zu übertünchen scheint. Nicht, dass jemand von uns einen Ton von sich geben würde.
Allein mit seiner Anwesenheit hat er jede Luft, jedes Licht aus dem Abteil gesaugt. Meine Oma neben mir wird noch etwas kleiner. Meine Eltern haben beide den Kopf gehoben und starren ihn an. Eine Mischung aus Angst, Hoffnung, Verzweiflung und Unglauben in ihren Gesichtern. Als könnte dieser Fremde über unser aller Schicksal entscheiden.

“Papiere,” fordert der Uniformierte in dieser anderen Sprache, die ich im Kindergarten und aus Büchern gelernt habe. Die aber weder meine Freunde, noch meine Familie durchgängig sprachen. Mein Vater reicht ihm ein paar kleine Büchlein mit unseren Fotos darin. Sie sind aus Papier, also werden es schon die Papiere sein, nach denen er gefragt hat, aber was steht drin? Er liest konzentriert.
Einen schrecklichen Moment lang wagt niemand von uns zu atmen. Ein Vakuum in der Zeit.

Schließlich gibt er meinem Vater die Büchlein zurück und tippt sich an die Mütze. “Gute Fahrt.” Als er das Abteil verlässt, entweicht endlich auch von meiner Oma dieser Atemzug, den sie so lange festgehalten hat. Sie hält mich wieder etwas entspannter, meine Mutter lächelt mich aufmunternd an.

“Sind wir jetzt über die Grenze?” frage ich schläfrig. “Wenn der Zug wieder losfährt, dann ja.” Seit Wochen höre ich immer wieder dieses Wort. Da werden Geschichten erzählt von Männern und Frauen, ganzen Familien, die in dunklen Nächten über die Donau geschwommen sind, um über die Grenze zu kommen. Niemand weiß, ob sie wirklich auf der anderen Seite angekommen oder dabei ertrunken sind. Von Menschen, die vor der Securitate über diese Grenze fliehen mussten. Denn dort, auf der anderen Seite, ist wohl das gelobte Land.

Als dann schließlich der alte Mann das letzte Mal im Fernsehen war, wurde immer wieder erzählt, dass die Grenzen offen sind. Was bedeutet das genau? Und wieso waren sie vorher verschlossen? Kann man sie so einfach zu- und aufsperren? Und wer entscheidet das?
Anscheinend hat der alte Mann, der immer über unser Land entschieden hat, etwas damit zu tun.
Denn das letzte Mal, als er im Fernsehen war, stand er mit seiner Frau vor einer weißen Wand. Es traten einige Männer in Uniform, ganz ähnlich der, die der Fremde in unserem Abteil getragen hatte, nur in einer anderen Farbe, vor die Mauer.
Jemand rief etwas, einmal, zweimal, dreimal. Laute Schläge folgten, wie Trommeln. Schließlich sackten der alte Mann und seine Frau vor der weißen Wand zusammen. Wieder und wieder hatten wir alle diese Sequenz im Fernsehen angeschaut. Immer wieder fielen von meiner Oma Sätze wie “Endlich ist er weg!” oder “Wurde Zeit, dass das passiert.” und auch “Jetzt sind wir endlich frei.”

Lange Wochen und Monate habe ich bei meiner Oma verbracht, während meine Eltern sich in der Stadt um diese Papiere kümmerten. Sie haben mir erklärt, dort sei es zu gefährlich für mich.

Der Zug bewegt sich wieder schneller. “Jetzt sind wir wieder in unserer Heimat.” Meine Oma seufzt und ich schlafe endlich selig an sie gekuschelt ein.


© Eveline Martini


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Kommentare zu "Zug fahren"

Re: Zug fahren

Autor: Michael Dierl   Datum: 10.10.2024 19:47 Uhr

Kommentar: Hi, ja es ist schlimm solch eine Zeit mitzumachen wenn Regierungen einen Menschen wegen anderer Gesinnung etc. gängeln und da kann man nur hoffen ein Land zu finden in dem man in Frieden leben kann! Ich kann die Geschichte gut nachfühlen. Meine Eltern mußten ihre Heimat aufgeben, weil sie vertrieben wurden nach dem Krieg wurden die Grenzen neu gezogen und eine Welle von Flüchtlingen kamen aus dem Osten und suchten eine neue Heimat im Westen.

lg Michael

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