Kommissar Jerry Desmond und sein unheimlicher Mordfall

Das weite Land lag wie unter einem riesigen Leichentuch aus Eis und Schnee. Der Winter war diesmal besonders kalt und hatte alles, was sich unter seinem Griff befand, zum Erstarren gebracht. Flüsse, Teiche und Seen waren nur noch eine einzige glatte Eisdecke und in den tiefen Tälern des Hochlandes lag der Nebel wie eine frostige Watte, die auch tagsüber nicht weichen wollte. Die Laub losen Bäume wirkten in der bizarren Schnee- und Eislandschaft wie künstliche Gebilde aus einer fremden Welt.




Viele Menschen litten unter der erbarmungslosen Winterkälte und blieben, wenn sie nicht unbedingt außer Haus mussten um ihre tagtäglichen Besorgungen zu erledigen, lieber gleich in den warmen vier Wänden. Aber es gab auch andere, die von einem schönen Wintermärchen sprachen, besonders dann, wenn es die Sonne als blasse Kugel schaffte, an manchen Stellen, wo die tiefhängende Wolkendecke bisweilen aufriss, ihre schwach wärmenden Strahlen auf die schneebedeckte Welt zu schicken. In solchen Fällen zeigte sich der Winter in der Tat von seiner traumhaft schönen Seite, wobei sich so mancher Zeitgenosse gerade aus diesem Grunde dazu veranlasst sah, als Fotograf mit Kamera und Stativ in der weißen Schneelandschaft herum zu streifen, um sie für die Nachwelt in Form von schönen Bildern festzuhalten.




Doch der Schein trügt nicht selten. Denn auch eine vermeintliche Naturidylle kann sich bei näherem Hinsehen manchmal als der pure Horror entpuppen.



***

Gleich neben dem vereisten Schlafzimmerfenster eines einsam gelegenen Hauses, weit draußen auf dem Land, stand eine alte Trauerbuche, deren Äste mit einer hohen Schneeschicht bedeckt waren und deshalb weit herunterhingen.




Hinter der mit einer glitzernden Schicht aus Eiskristallen überzogenen Fensterscheibe lag auf dem zerwühlten Schlafzimmerbett eine schlimm zugerichtete Leiche.




Vor dem Haus und im Hof parkten überall Einsatzfahrzeuge der Kriminalpolizei. Eine dunkle Limousine der Mordkommission fuhr gerade durch die geöffnete Toreinfahrt.




Einige Männer liefen seit geraumer Zeit in weißen Schutzanzügen herum und waren mit der Spurensicherung beschäftigt. Überall in dem hell ausgeleuchteten Schlafraum waren kleine Schilder mit Zahlen aufgestellt worden und auf dem Boden waren hässlich aussehende Blutspuren zu sehen.




Ein schlanker, hochgewachsener Mann in einem grauen Wintermantel und einem ebenso grauen Hut betrat gerade das Haus. Im Flur begegnete ihm einer der Beamten der zuständigen Mordkommission. Die beiden Männer begrüßten sich wie zwei gute Freunde und kamen dann gleich zur Sache.




„Was ist mit der toten Frau, Fender? Hat der Mörder sie ausgezogen?“




„Nein. Sie trägt komischerweise keine Nachtwäsche, sondern ein beigefarbenes Abendkleid, Herr Kommissar“, gab der angesprochene Kriminalbeamte Rick Fender zur Antwort und deutete mit dem gebogenen Daumen der rechten Hand über seinen Rücken hinweg ans Ende des Flures, wo die Tür des Schlafzimmers weit offen stand.




„Hat der Mörder sie in dem Zimmer umgebracht oder bis dort hin geschleppt“, wollte Kommissar Jerry Desmond wissen.




„Unsere Männer haben keine Spuren eines Einbruches entdecken können. Es sieht eigentlich vielmehr so aus, als hätte die Ermordete direkt an der Schlafzimmertür gestanden, als sie niedergeschlagen wurde, denn auch am Türrahmen fanden wir eine sehr große Menge Blutspritzer, nur im Flur nicht. Der Mörder muss sie also bewusstlos zum Bett geschleppt und erst dort die Kehle durchgeschnitten haben. Doch der Schnitt wurde ziemlich stümperhaft ausgeführt, der auch nicht gleich tödlich war. Der anschließende Todeskampf muss nach Meinung des Arztes mehrere Minuten gedauert haben. So wie es aussieht, hat der Mörder nach der Tat den Raum anscheinend fluchtartig verlassen und seine Fußspuren dabei mit irgendeinem weichen Gegenstand verwischt. Wir konnten deshalb auch nirgendwo im Haus relevante Abdrücke von irgendwelchen Schuhsohlen sicherstellen. – Leider, wie ich dazu feststellen muss.“




Kommissar Desmond nickte bedächtig mit dem Kopf. Dann forderte er seinen Kollegen Fender dazu auf ihm zu folgen. Wenig später passierten die beiden den Durchgang zum Schlafzimmer. Die grässlich aussehende Spur des roten Lebenssaftes führte direkt von der Tür bis zum Bett. Die beiden Männer starrten die blutverschmierte Tote an, als sie langsam darauf zugingen. Rick Fender bekam bei ihrem Anblick weiche Knie, drehte sich würgend herum und blieb hinter dem Kommissar zurück, der jetzt näher an das Bett herantrat.




Jerry Desmond schaute sich die Frauenleiche von oben bis unten genau an. Sein Blick blieb schließlich am völlig entstellten Gesicht der Toten hängen. Man hatte Ruth Bentheim, so hieß die Ermordete, außerdem die Kehle durchgeschnitten, denn vorne am Hals befand sich eine klaffende Schnittwunde. Das meiste Blut war in das weiße Laken und in die Matratze eingesickert, und der Mörder hatte, obwohl in hektischer Eile, anscheinend direkt nach seiner grausigen Tat trotzdem noch eine ziemliche Menge Wasser über die Tote gekippt, da die gesamte Bettwäsche so nass war, als hätte man sie gerade ungeschleudert aus der Waschtrommel geholt.




Kommissar Desmond dachte über diesen seltsamen Umstand angestrengt nach, wusste aber im Moment keine Antwort darauf, warum der Täter sein Opfer mit Wasser übergossen hatte. Er schüttelte deshalb mehrmals hintereinander verständnislos den Kopf. Was für eine grausame Tat, dachte er für sich. Einfach so die Kehle durchgeschnitten. Doch was geschah danach? Ruth Bentheim muss wohl noch einmal kurz das Bewusstsein wieder erlangt und sich dann mit letzter Kraft zu einer wahnsinnigen Leistung aufgerafft haben, auch wenn man diese Art von Leistung mehr als makaber bezeichnen muss.




Sein Kollege Rick Fender hielt sich noch immer im Hintergrund auf, als der Kommissar den Blick über die Leiche hinweg hob und eine Zeit lang auf die weiße Wand am Kopfende des Bettes schaute. Die roten Buchstaben, die er dort sah, waren in einer krakeligen Schrift mit Blut geschrieben worden.




Jerry Desmond legte den Kopf etwas zur Seite. Er sah die blutigen Schriftzeichen, aber er war noch zu dumpf im Schädel, um zu begreifen, was die Aneinanderreihung der undeutlich hingeschmierten Buchstaben in ihrer Gesamtheit ausdrücken sollten. Immer wieder betrachtete er jedes einzelne Schriftzeichen aufs Neue und versuchte daraus ein sinnvolles Wort zusammen zu setzen. Endlich schien es ihm nach einer Weile gelungen zu sein.




„Verflucht noch mal“, flüsterte er auf einmal. „Das...das ergibt doch einfach keinen Sinn.“




Rick Fender riss sich zusammen und bekam seine Würgereflexe bald wieder unter Kontrolle. Jetzt stand er plötzlich neben dem Kommissar, den er trotz seiner anhaltenden Übelkeit eine Weile aufmerksam beobachtet hatte. Wie sein Chef war er damit beschäftigt gewesen, die einzelnen Buchstabenfragmente und deren Zusammenhang zu deuten. Dann fing er bedächtig an zu reden.




„Ja, sagte er, „die Buchstaben ergeben das Wort ‚Schneemann’. Ich habe sie aus der Entfernung schneller entziffern können. Aber was könnte die Ermordete damit gemeint haben? Den Namen des Mörders? Wer heißt denn schon Schneemann? Ich habe bereits über Funk in der Zentrale mal nachfragen lassen, ob es hier in der Gegend Personen mit diesem seltsamen Familiennamen gibt. Bisher blieben alle Nachforschungen leider ohne Erfolg. Das hat mich nicht weiter überrascht. Genauso gut könnte jemand ‚Weihnachtsmann’ heißen“, gab der Ermittlungsbeamte von sich und legte seine Stirn in Falten.




„Nun“, antwortete Kommissar Desmond seinem Kollegen. „Mag sein, dass niemand so heißt. Sie tat es aber offensichtlich deshalb, damit wir den Mörder finden. Es gibt keinen anderen Grund dafür. Eine Sterbende schreibt mit letzter Kraft den Namen ihres Peinigers an die Wand. Einfach unglaublich. Und das mit ihrem eigenen Blut. Aber so muss es gewesen sein, weil ich keine andere Erklärung dafür habe, die mir logisch erscheint.“




Rick Fender nickte mit dem Kopf. Dann drehte er sich um, als ein weiterer Beamte der Mordkommission mit der gebotenen Zurückhaltung an die offene Schlafzimmertür klopfte und ihm ein beschriebenes Stück Papier überreichte. Er überflog es kurz, dann gab er es an den Kommissar weiter.




„Wir wissen jetzt, wann es die Frau erwischt hat. Es war in der vergangenen Nacht. Die bisherigen Ermittlungen haben ergeben, dass sie nach ihrer Rückkehr von einer „spiritistischen Sitzung“ irgendeines magischen Zirkels in der Stadt, nur den Pelzmantel ausgezogen und ihn weg gehängt hat. Kurz danach muss der Killer gekommen sein. Das ist alles, was unsere Leute bisher herausgefunden haben. Viel ist es ja nicht, aber immerhin etwas. Konkrete Hinweise auf den Mörder gibt es auch noch nicht. Ich denke aber, dass die Bentheim Besuch von jemanden bekommen hat, den sie mehr oder weniger gut gekannt haben muss. Außerdem wurde nichts gestohlen. Wir können daher einen Raubmord ausschließen.“




„Davon müssen wir erst einmal ausgehen, Fender“, bestätigte der Kommissar. Er atmete laut aus und drehte sich von der grässlich verstümmelten Leiche weg. Als er an dem großen Kleiderschrankspiegel vorbei kam, erblickte er darin plötzlich das gegenüberliegende Schlafzimmerfenster. Der Frost auf den Scheiben war mittlerweile bis zu den Rändern aufgetaut, weil es im Haus wegen der eingeschalteten Scheinwerfer wärmer geworden war. Der Kommissar blieb für einen Augenblick verdutzt stehen, als er durch das gespiegelte Fenster mitten im verschneiten Garten einen ziemlich großen Schneemann entdeckte, dem man offenbar einen alten Holzknüppel in den rechten Arm gesteckt hatte. Die Augen der wuchtigen Schneefigur waren anscheinend aus schwarzen Kohlestückchen und schienen ihn irgendwie böse anzustarren. Der Kommissar zuckte innerlich zusammen. Er hatte da so einen seltsam komischen Verdacht, dem er unbedingt nachgehen wollte.




„Fender, kommen Sie mal mit!“ befahl er seinem träge herumstehenden Ermittlungsbeamten. „Und knöpfen Sie sich den Mantel zu! Sie können sich erkälten, wenn Sie so offen rausgehen.“




Zusammen mit seinem Kollegen ging Kommissar Desmond nach draußen in den weitläufigen Garten des Hauses. Wenige Minuten später standen die beiden Männer vor dem etwa zwei Meter hohen Schneemann, der einsam und verlassen im tiefen Schnee stand. Eine breite Schleifspur führte von ihm weg, direkt bis zur Terrassentür, die nur leicht angelehnt war.




Rick Fender schaute plötzlich seinen Chef an und machte mit beiden Händen eine hilflos wirkende Geste. Er ahnte, was in dem Kopf seines langjährigen Kollegen und Freundes Jerry Desmond vor sich ging. Trotzdem blieb er förmlich.




„Aber Herr Kommissar. Sie glauben doch etwa nicht, dass...“




„Sagte ich irgendwas, Fender?“ fragte dieser bissig zurück und schaute seinen Kollegen mit vorwurfsvollem Blick an. Dann atmete Kommissar Desmond tief durch, was übrigens eine alte Gewohnheit von ihm war, schritt auf den Schneemann zu und betrachtete ihn von allen Seiten. Ein unheimliches Gefühl beschlich ihn dabei.




„Sieh mal einer an. Im rechten Arm steckt ein mit Blut besudelter Holzknüppel. Das könnte die Tatwaffe sein. Der Mörder hat sie anscheinend auf seiner Flucht durch den Garten hier hineingesteckt. Sehr raffiniert ausgedacht. Lassen Sie die mögliche Tatwaffe von unseren Jungs umgehend sicherstellen und auf Fingerabdrücke untersuchen, Fender.“




Der Kriminalbeamte rief ohne lange zu zögern lautstark zwei uniformierte Männer herbei, die sich sofort um die Sache kümmerten.




Dann wandte er sich ebenfalls dem Schneemann zu. Plötzlich sah Fender etwas metallisches mit einem schwarzen Griff zu seinen Füßen im Schnee liegen.




„Hier, sehen Sie mal, was da auf dem Boden liegt, Herr Kommissar! Der Form nach muss es ein Brotmesser sein. Die Klinge ist mit getrocknetem Blut überzogen. Außerdem ist die gesamte Vorderseite des Schneemannes mit Blut getränkt. Äußerst eigenartig. Der Mörder von Ruth Bentheim muss sich einen üblen Scherz mit der Ermordeten erlaubt haben. Der Kerl ist obendrein noch ein perverser Spaßvogel, der ganz bewusst seine grausame Tat auf einen harmlosen Schneemann schieben möchte. Da hat er sich aber falsch gewickelt. Wir werden ihm trotzdem auf die Schliche kommen und erwischen.“




„Mit dem Spaßvogel könnten Sie Recht haben, Fender. Dann hat er auch noch eine tiefe Spur im Schnee von der Terrassentür bis zum Schneemann gezogen, was an sich schon makaber genug ist. Ob wir ihm auf die Schliche kommen, wird sich zeigen. Aus meiner Sicht der Dinge haben wir es hier mit einem Psychopathen zu tun. Diese Typen sind intelligent und deshalb äußerst gefährlich.“




Nachdenklich schaute der Kommissar vor sich hin und bewegte sich schließlich mit kleinen Schritten neben der Schleifspur auf den Bereich der verschneiten Terrasse zu. Der Ermittlungsbeamte blieb neben dem Schneemann stehen und schaute dem Tun seines Chefs interessiert zu.

Der Kommissar ging Schritt für Schritt langsam weiter, ohne die gefrorene Schleifspur aus den Augen zu lassen. Schließlich stand er unmittelbar vor der angelehnten Terrassentür.




Etwas stimmte hier plötzlich nicht.




Als Jerry Desmond die leicht angelehnte Glastür mit dem stabilen Holzrahmen öffnete und in das angrenzende Wohnzimmer schritt, befand er sich zwar darin und tat dies auch wiederum nicht. Er spürte plötzlich eine seltsame Zeitverschiebung. Es schien, als wäre er nicht im Hier und Jetzt.




Oder genauer gesagt: Im ‚HIER’ befand er sich schon, aber nicht im ‚JETZT’, denn was er jetzt erlebte, fand offenbar zu einer ganz anderen Zeit statt.




Der Kommissar sah plötzlich mit großem Entsetzten, wie der Schneemann auf einmal seinen angestammten Platz verließ und langsam auf die Terrassentür quasi „zu rutschte“, wobei er eine nasse breite Schleifspur aus gefrorenem Matsch und Schnee hinter sich herzog. Dann glitt er wie ein weißes Gespenst an ihm vorbei durchs Wohnzimmer, flutschte in den angrenzenden Flur hinüber bis zum Schlafzimmer, wo die Tür allerdings noch geschlossen war. Schließlich klopfte er mit dem Knüppel dagegen. Die Tür wurde geöffnet und Ruth Bentheim erschien in ihrem beigefarbenen Kostüm.




Sie schaute den Schneemann ungläubig und erschrocken mit weit aufgerissenen Augen an, der ihr jetzt mit dem schweren Knüppel in schneller Folge mehrmals hart und erbarmungslos auf den Kopf schlug.




Die vor Schreck erstarrte Frau wollte noch schreien und öffnete den Mund, aber der Schneemann war schneller. Er schlug noch einmal zu und fing den fallenden Körper ab, trat die Tür hinter sich zu und schleppte die Bewusstlose zum Bett und legte sie dort nieder. Dann zog er von irgendwo her ein Messer aus seiner Eis klumpigen Hand und schnitt der wehrlosen Frau damit die Kehle durch. Sein Schneekörper fing bereits an zu tauen, da das Haus gut beheizt war. Deshalb beeilte er sich, das Schlafzimmer nach seiner grausigen Tat so schnell er konnte wieder zu verlassen, matschte auf seinem eigenen Tauwasser, das bereits mit dem tiefroten Blut seines Opfers vermischt worden war, hinaus in den angrenzenden Flur und verließ das Haus auf gleichem Wege, wie er gekommen war. Dann nahm er seinen angestammten Platz im Garten wieder ein, als ob nichts geschehen wäre.




Kommissar Jerry Desmond schreckte urplötzlich hoch. Er stieß dabei einen leisen Schrei aus. Im ersten Moment fand er sich in der Wirklichkeit nicht zurecht und fühlte sich, als wäre er aus einer irrealen Vision erwacht. Ein Traum, der ihn schwer belastete und ihm den puren Angstschweiß auf die Stirn getrieben hatte.




Aber der Kommissar wusste nur zu genau, dass es kein Traum oder irgendeine böse Halluzination gewesen war. Er war auf irgendeinem seltsamen Wege Zeuge eines entsetzlichen Mordes geworden, und zwar auf eine Art und Weise, die ihm mehr als mysteriös erschien. Wie es dazu gekommen war, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Doch diesmal war es keine Hellseherei oder ähnliches gewesen. Es war auch kein Blick in die Zukunft oder auf ein Geschehen, das sich zur gleichen Zeit an einem anderen Ort abspielte. Er hatte etwas gesehen, das sich erst vor kurzem in der Vergangenheit hier in diesem einsam gelegenen Haus weit draußen auf dem Lande zugetragen hatte. Dessen war er sich hundertprozentig sicher. Nachdem, was er gesehen hatte, wusste er auch, wer als Mörder von Ruth Bentheim in Frage kam, obwohl es verrückt klang:

Es muss der Schneemann im Garten gewesen sein. Daran bestand jetzt kein Zweifel mehr für Kommissar Desmond.




Im gleichen Augenblick dachte er daran, dass ihm natürlich keiner seiner Kolleginnen und Kollegen von der Mordkommission dieses ungewöhnliche Ermittlungsergebnis abnehmen würde – höchstens als Scherz, wie ihm dazu einfiel. Wenn er einen Schneemann ernsthaft des Mordes bezichtigen würde, wäre er wohl nicht mehr lange im Dienst, falls er auf dieses verrückte Ermittlungsergebnis beharrte.




Plötzlich hörte er wie ein fernes Echo die Stimme Rick Fenders in seinen Ohren, die jedoch schnell deutlicher wurde.




„Geht es Ihnen nicht gut, Herr Kommissar? Sie sind ja auf einmal total blass ihm Gesicht geworden. Kann ich Ihnen irgendwie helfen?“




Jerry Desmond drehte verwirrt den Kopf. Rick Fender stand direkt vor ihm und hielt ihn am rechten Ärmel seines Mantels fest. Er musste wohl schon seit einer Weile bei ihm stehen, nur hatte er es nicht bemerkt.




„Ach, du bist es, Rick“, sagte der Kommissar mit müder Stimme und ließ die Förmlichkeiten beiseite. Fender tat es ihm nach.

„Wer sonst? Und ich stehe nicht erst seit einer Sekunde hier. Ich habe dich beobachtet, mein Freund. Du schienst geistig völlig abwesend zu sein. Deine Augen machten auf mich den Eindruck, als hättest du ein Gespenst oder den leibhaftigen Tod gesehen. Ich glaube, du solltest dich mal ein paar Tage ausruhen. Du arbeitest einfach zu viel, Jerry“, sagte Rick Fender mit nachdenklicher Miene.




Kommissar Desmond winkte mit einer matten Geste ab und ging nach draußen in den verschneiten Garten zurück, wo der Schneemann stand.




Schweigend betrachtete er das weiße Gebilde aus Eis und Schnee, das ihn stumm und regungslos anstarrte. Jerry Desmond konnte sich des seltsamen Eindruckes nicht erwehren, dass ihn der Schneemann auf irgendeine unheimlich wirkende Art und Weise böse und verächtlich angrinste. Wie in Trance hörte er eine dunkel grollende Stimme: „Geben Sie sich keine Mühe, Herr Kommissar! Sie werden mich nie kriegen. Niemand wird Ihnen glauben, dass ich der Mörder von Ruth Bentheim bin. Man wird Sie höchstens ins Irrenhaus stecken, wenn Sie das behaupten. Sie können es ja mal versuchen, mein Guter.“




„Er war es tatsächlich. Der Schneemann ist der Mörder von Ruth Bentheim“, flüsterte der Kommissar halblaut vor sich hin, weil er befürchtete, sein Kollege könnte alles mitbekommen. Man würde ihn für geisteskrank erklären, gäbe er genau das zu Protokoll. Schließlich riss er sich zusammen und rief nach seinem Kollegen Fender, der auf der vereisten Terrasse stehen geblieben war und von dort das ungewöhnliche Verhalten seines Chefs nachdenklich mitverfolgt hatte. Der Beamte stand wenige Sekunden später vor seinem Chef.




„Lassen Sie den Schneemann abtransportieren und in einen Kühlraum verfrachten, Fender. Wenn alle Spuren an ihm sichergestellt und dokumentiert sind, will ich, dass er aufgetaut wird. Ich werde die Aktion persönlich überwachen. Wenn es soweit ist, möchte ich gerne Bescheid bekommen.“




Der Kriminalbeamte nickte nur wortlos mit dem Kopf und machte sich sogleich auf den Weg. Kommissar Desmond folgte ihm bis zu seinem Wagen und ließ sich von einem Bereitschaftspolizisten ins Kriminalkommissariat zurückfahren.




Als er im Fond der schweren Limousine Platz genommen hatte, dachte er daran, dass die Akte Ruth Bentheim über kurz oder lang als nicht abgeschlossener Mordfall irgendwann im tiefen Keller des zuständigen Polizeipräsidiums landen würde, weil der Mörder nicht ermittelt werden konnte.




Kommissar Jerry Desmond wusste es aber besser. Trotzdem schwieg er eisern und behielt das unheimliche Geheimnis für sich. Auf gar keinen Fall wollte er sich der Lächerlichkeit aussetzen.




Außerdem rückte seine Pension immer näher. Nach reiflicher Überlegung kam er zu dem Entschluss, sich von dem Mordfall Ruth Bentheim entbinden zu lassen. Er wollte damit einfach nichts mehr zu tun haben. Ein jüngerer Kollege würde sich bestimmt dieses mysteriösen Mordfalles mit Freuden annehmen. Manche warteten wie hungrige Wölfe nur auf eine solche günstige Gelegenheit.




Und so kam es dann auch.




Der alte Kommissar Desmond ging, ein neuer Kollege trat an seine Stelle.




***




Wer war Ruth Bentheim?




Ruth Bentheim war eine alte, alleinstehende Dame gewesen. Ihr Mann war schon kurz nach der Hochzeit an einer geheimnisvollen Krankheit gestorben. Angehörige hatte sie auch keine mehr. Deshalb überschrieb sie ihr gesamtes Vermögen schon zu Lebzeiten einer parapsychologischen Gesellschaft, der sie viele Jahre vor ihrem gewaltsamen Tod beigetreten war. Sie war von Jugend an davon überzeugt, dass es „übernatürliche Kräfte“ gab und pflegte darüber hinaus regelmäßig an spiritistischen Sitzungen teilzunehmen. Mit wachsendem Alter lebte sie in einer Welt der Illusion, der Magie und der Geisterbeschwörungen.



Wurde ihr das möglicherweise zum Verhängnis?




Rief sie Geister herbei, die sie nicht mehr los werden konnte? Der einzige, der darauf eine geheimnisvolle Antwort erhielt, war Kommissar Jerry Desmond, der sich in seiner Freizeit ebenfalls mit außersinnlichen Wahrnehmungen beschäftigte und auf dem Gebiet der Parapsychologie sehr bewandert war. Noch lange hatte ihn deshalb der Mordfall Bentheim auch privat beschäftigt.




***




Das abgelegene Haus der ermordeten Ruth Bentheim blieb mehr als zwei Jahre lang ungenutzt stehen, bis eines Tages ein alter Schriftsteller dort einzog, der die Ruhe und die Abgeschiedenheit des einsamen Anwesens auf Anhieb liebte. Von dem mysteriösen Mord erzählte man ihm nichts, weil die Hausverwaltung befürchtete, ihn als solventen Mieter zu verlieren.




Als im darauf folgenden Jahr der erste Schnee fiel und die weite Landschaft mit einer dicken weißen Schneedecke überzog, stand plötzlich wieder ein zweit Meter hoher Schneemann im großen Garten des Hauses. Der alte Schriftsteller wunderte sich zwar darüber als er ihn sah, war jedoch der naiven Meinung, junge Leute aus der unmittelbaren Umgebung hätten ihm damit einen Streich spielen wollen.




Er gab sich mit dieser eigenen Erklärung zufrieden und beließ es dabei.




Der Schneemann im Garten stand da wie immer, schaute mit bösen Augen von seinem verschneiten Standort hinüber ins Wohnzimmer, wo der alte Schriftsteller gerade dabei war, ein Glas Wein zu trinken.




Langsam, fast unmerklich, rutschte die weiße Gestalt aus Eis und Schnee über den Garten auf die leicht angelehnte Terrassentür zu...







ENDE





© Heiwahoe


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