Neben seine alte schon etwas kaputte Schultasche knallte Robin seine brandneue AirFlex Two Tasche und ließ sich neben ihn auf den Stuhl fallen. “Na alles gut, William?”, fragte er und nahm ihn kurz in den Schwitzkasten und rieb ihm mit der Faust über die Haare. Lachend ließ er ihn wieder los. Robin war breit gebaut und wusste seine Stärke gegen ihm Unterlegene gut einzusetzen. William machte sich frei, atmete kurz aus und schaute geradeaus: “Ja klar.” Für ihn war das Klassenzimmer ein gefährlicher Ort. Seine Mitschüler konnten ihn auf irgendeine Art und Weise zwar gut leiden waren aber oft dazu geneigt ihn als unterlegen anzusehen. Obwohl William gut aussah mit seinen dunklen Haaren und einem schönen Gesicht, war er doch in seiner Statur etwas schmächtiger als viele der Jungs in seiner Klasse. Außerdem herrschte eine gewisse Rangordnung in der Gruppe über die zwar niemand sprach, die aber erheblichen Einfluss auf das tägliche Leben an der Schule bedeutete. Je mehr teure Sachen man hatte, je provokanter man sich es traute gegenüber den Lehrern zu sein und je herabwürdigender man gegenüber den Schwachen war desto höher war man gestellt. Da William nur alte Klamotten trug, nur das Nötigste bei sich hatte und selten den Mund aufmachte wurde er oft als ein Schwächling angesehen. Er war kein Herausforderer für die großen Fische an der Schule wie Robin der mit 16 Jahren schon ein Motocross besaß und es sichtlich genoss sich selbst zur Schau zu stellen. Vor allem liebte er die Aufmerksamkeit der Mädchen, die er durch das Verspotten der anderen ergatterte. Deswegen versuchte William so wenig wie möglich aufzufallen und die Zeit so unbeschadet wie möglich abzusitzen. Einen echten Freund hatte er wohl nicht in der Schule, da er sich nicht traute sich so zu zeigen wie er war.

Es war der erste Schultag im Jahr und es betraten auch ein paar neue Gesichter das Klassenzimmer. Kurz nachdem der Lehrer den Raum betrat stolperte noch ein junger Knabe in den Raum und setzte sich links neben William auf den noch freien Platz. Sie schauten sich kurz an und wurden dann sofort auf die Stimme des Lehrers aufmerksam: “Herzlich Willkommen im neuen Schuljahr...”

Der Name des Neuen war Axel und genau wie William konnte auch er nicht durch teure Dinge und überhebliche Kommentare den Rest der Kämpfer in der Klasse von seiner Überlegenheit überzeugen. Nach einem kurzen Gespräch im Unterricht schätzte William ihn so ein als wollte er das auch nicht. Kaum war der Lehrer zur Pause aus dem Klassenzimmer entschwunden setzte Robin ein Zeichen, stand auf und stülpte Axel die Kapuze seines Hoodies über den Kopf und zog an den Schnüren bis sein komplettes Gesicht verdeckt war und hielt sie fest. “Schaut euch den Kondomkopf an!”, brüllte er lachend während er die Schnüre festhielt und Axel vergeblich versuchte sich zu befreien. “Der muss schleunigst in den Müll!”, scherzte er weiter und beförderte den Neuling durch ein paar grobe Handgriffe zum Restmülleimer und drückte seinen Kopf in die Bananenschalen und leeren Joghurtbecher. Die ganze Klasse grölte, schrie und jubelte vor Begeisterung angesichts der Show die ihnen geboten wurde. “Warte ich hab noch was!”, rief Ferdinand, ein etwas zierlicherer Kerl der immer für die Anerkennung der Großen kreative Einfälle hatte und lief mit seiner Brotzeitbox zum Ort des Geschehens und leerte zwei halb geschmolzene unverpackte Schokoladenriegel über den im Mülleimer befindlichen Kopf des Neulings aus. Eine neue Welle an Gelächter und Begeisterung überkam das Publikum und Ferdinand erntete sein wohlverdientes High-Five von Robin der nun endlich von Axel losließ. Dieser richtete sich auf und schaute mit vor Scham und Wut tränenden Augen in die Klasse und erblickte die herzlich lachenden Gesichter. Nur William schaute mit großen aber ängstlichen Augen zu ihm herüber. Trotzdem nutzte er die Chance und suchte schleunigst das Weite. Er verließ den Raum und man hörte noch seine Tritte und einen Schluchzer im Treppenhaus bevor er komplett verschwunden war. William kannte solche Vorführungen zur Genüge, konnte sich allerdings immer gut genug im Abseits halten um diesen nicht zum Opfer zu fallen.

Am nächsten Schultag war Axel pünktlich im Klassenzimmer, sogar noch vor William. Dieser war erstaunt ihn in einer ausgelassenen und fröhlichen Laune aufzufinden. “Magst du einen EightGum?”, fragte er William. “Was ist das?” “Ein Kaugummi, schmeckt nach Guacarama”, meinte er mit einem Lächeln. “Nach was?”, fragte William erstaunt. “Nach Guacarama! Die Frucht!”, sagte er ungeduldig und wartete offenbar darauf, dass William ein Zeichen des Verstehens gab. Aber dieser konnte nur noch verwirrter Schauen. Axel verdrehte die Augen und streckte ihm den Kaugummi entgegen. “Nimm einfach!” William probierte also den Kaugummi, er schmeckte eigenartig doch irgendwie auch vertraut. Robin, rechts neben William sitzend, sah das Ganze und wollte auch einen haben: “Hey gib einen her!”, rief er und streckte die Hand danach aus. Doch bevor er die Möglichkeit hatte den Kaugummi zu packen betrat der Lehrer den Raum und Robin zog brav die Hand zurück. “Guten Morgen allerseits...”, begrüßte der Lehrer die Schüler. Eine langweilige Stunde Mathematik stand ihnen bevor. Wobei Langeweile wohl besser zu ertragen war als die Vergnügungsaktivitäten von Robin und seinem Gefolge. Während Herr Mulchmüller die ersten Parabeln an die Tafel schmierte spürte William beim Kaugummikauen ein seltsames Kribbeln im Mund. Der Geschmack des Kaugummis änderte sich und wurde immer intensiver. Er blickte fragend zu Axel hinüber und deutete auf seinen Mund. Dieser machte einen Gesichtsausdruck der wohl so viel heißen sollte wie “was zur Hölle ist dein Problem?”. Das Prickeln in Williams Mund wurde stärker und eine extreme Süße, als kaute er eine Handvoll reinsten Traubenzucker, machte sich breit. Auch wenn es sich mittlerweile unangenehm anfühlte wollte er den Kaugummi doch nicht ausspucken. “Macht eure Hausaufgaben! Bis morgen!” Damit verkündete der Mathe-Lehrer die Pause.

Als er aus der Tür war dauerte es nicht lange und bevor William Axel über das komische Kribbeln erzählen konnte sah er wie eine Brotzeitbox aus Ferdinands Händen auf Axels Schläfe zuflog. Allerdings in überaus langsamer Geschwindigkeit. Für William schien es so als würde sich die Box in Schritttempo durch die Luft bewegen. Etwas verwirrt pflückte er sie lässig aus der Luft bevor sie Axels Schläfe erreichen konnte. Als sein Blick wieder in Richtung Axels Augen ging war sein Zeitempfinden auch schon wieder normal. “Ich habe ein komisches Kribbeln im Mund.”, kam es ihm gerade über die Lippen als er bemerkte, dass die ganze Klasse auf ihn starrte. Auch sein Gegenüber starrte ihn an, allerdings mit einem etwas anderem Gesichtsausdruck als der Rest der Klasse. Ein bisschen Angst vor der ganzen Aufmerksamkeit und die staunenden Klassenkameraden machten ihn verwirrt. Was war passiert? “Der hat wohl schnelle Reflexe unser William!”, höhnte Ferdinand der die Box geworfen hatte. Doch niemand reagierte richtig darauf und bevor er selbst etwas erwidern konnte überkam ihn plötzlich eine extreme Übelkeit. Der Kaugummi! Ein bitterer Geschmack machte sich breit in seinem Mund und er spürte, dass er sich gleich übergeben musste. Er stand hektisch auf und schaffte es gerade noch zum Mülleimer bevor er auch schon spuckte. Da wurde das Publikum hinter ihm wieder wach und Robin rief: “Na schau mal einer an, einmal den Arm bewegt und schon muss er kotzen, diese Pfeife!”. Dafür erntete er große Zustimmung von den Plätzen hinter den Tischen in Form von Gelächter. “Tauch ihn ein!”, verlangte Ferdinand und sprang dabei aufgeregt auf. Robin reagierte sofort und sprintete vor zu William der gerade noch einmal zu würgen begann. “Lass ihn!” Jetzt wurde auch Axel aktiv und folgte Robin um ihn aufzuhalten. William konnte spüren wie sich Robin näherte und kurz bevor er gepackt wurde hielt er die Luft an und schloss die Augen. Anstatt der erwarteten brutalen Berührung Robins spürte er nichts, sondern hörte ein lautes Krachen und Stöhnen. Er öffnete die Augen und sah den breiten Muskelberg direkt vor ihm liegen, gestolpert über den Mülleimer. Robin war direkt, so schien es, durch ihn hindurchgeflogen! Gleichzeitig spürte er wie er Würgen musste und schaffte es nicht mehr sich schnell genug wegzudrehen ehe er dem Klassenpimp in den Nacken spuckte. “Ah wie eklig!”, schrie Robin. Doch ehe er sich aufrappeln konnte wurde William gepackt und von Axel weggezogen. “Komm mit!”, zeigte er ihm an und die beiden flüchteten aus dem Klassenzimmer und rannten von der Schule davon.


© 2022 Johann A. Baumer, Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung, sowie des öffentlichen Vortrags. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren reproduziert werden.


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