Ordnung muss sein

Als Herr Semmelmeier den Fernseher ausmachte, bemerkte er den Fleck zum ersten Mal. Komisch, dass er ihn jetzt erst sah, wo er doch schon einige Zeit lang vor dem Fernseher geses­sen hatte. Genauer gesagt, seit dem Abendessen. Und zwar gleich nach­dem er aus dem Büro kam, schaute er seit­dem unentwegt ins Gerät, obwohl ihn von den gezeigten Sen­dungen kaum eine be­son­ders interes­sierte. Als ob von dieser Kiste die Lösungen der Probleme seines Lebens kämen.

Aber man musste ja mindestens ein wenig vom Tagesgeschehen mitbekommen, um am nächsten Tag im Büro mitre­den zu können. Besonders wenn der Chef ein paar Bemer­kungen fallen ließ, die ohne diesen täglichen TV-Konsum kaum zu verstehen gewesen wären.

Da er allein lebte, seit ihn seine Frau vor ein paar Jahren wegen eines sehr unordentlichen Kollegen ver­las­sen hatte, den sie auf einer Betriebsfeier kennenlernte, musste er auf dem Heimweg im Su­permarkt noch schnell ein paar Lebensmittel besorgen. Nicht, weil er besonderen Appetit auf et­was Be­stimm­tes gehabt hätte oder ihm Einkaufen womöglich Spaß machte. Was machte ihm schon Spaß?

Gott bewahre! NEIN! Sondern haupt­sächlich, um die Lücken in seinem Kühlschrank und im Vorrats­regal der guten Ordnung halber zu füllen. Auch für den Fall, dass ein­mal unerwarteter Besuch zu bewirten war. Was allerdings so gut wie nie vorkam. Aber im Fall der Fälle wollte er doch unbedingt den Eindruck eines Sozialempfängers mit kärglichster Ausstattung an Lebensmitteln vermeiden.

Einkaufen war einfach nicht sein Ding. Nicht nur wegen der Geld­ausgabe. Auch weil sich seine Koch­kunst in sehr engen Grenzen hielt, bestand ein Großteil davon aus Dosen und Eingemachtem. Das ersparte ihm, im Ge­gen­satz zu Frisch­kost in Form von Obst und Gemüse, durch die längere Haltbarkeit allzu häufige Ein­käufe.

Herr Semmelmeier mochte keine Unordnung. Das gehörte zu seinen Lebensprinzipien. Und ein Fleck auf dem Fernseher ist unordentlich. Genauso unordentlich, wie beispielsweise ein kesses Blümchen, das sich jetzt im Frühjahr inmitten einer kurzgeschorenen Rasenfläche in seinem klei­nen Garten vorwitzig zu zei­gen wagte. Dafür hatte er stets eine Schere griffbereit neben der Ein­gangstür liegen, mit der er immer sofort zur Tat schritt, um die Ordnung wieder herzustellen.

Die Schere lag gleich neben der Fliegenklatsche, mit der ebenfalls gegen alles rigoros vorging, was sich ohne seine Zustim­mung innerhalb seines Einflussbereichs regte und bewegte. Und auch gegen den Fleck auf dem Fernseher würde sich in seinem Erst-Hilfe-Ordnungs-Korb, wie er ihn nannte, mit Sicherheit ein geeignetes Mittel finden.

Ein weiteres seiner Prinzipien war, dass alles, was er als falsch, also als unordentlich erkannt hatte, unver­züglich beseitigt werden musste. Davon ließ er sich durch nichts abbringen. Auch wenn es jetzt schon kurz vor Mitternacht war und eigentlich höchste Zeit zum Schlafgehen. Schließlich musste er am nächsten Mor­gen pünktlich in seinem Büro im Gesundheitsamt erscheinen, wo er als Hygiene-Sachbearbeiter dringende Angelegenheiten zu erledigen hatte.

Eifrig suchte er in seinem Erste-Hilfe-Korb nach einem geeigneten Putzmittel, bis er die ihm geei­gnet er­scheinende Spray­dose schließlich gefunden hatte. Aufgrund seiner langsam einsetzen­den Müdigkeit achtete er aber we­der auf den Warnhinweis auf der Dose, dass es sich beim Inhalt um ein leicht entflammbares Mittel han­del­te, noch darauf, dass neben dem Fernseher weiterhin die Kerze vor sich hin flackerte, die er sich manch­mal abends zusätzlich zum Fernsehen als kleines Gute-Nacht-Licht gönnte.

Obwohl jedes für sich genommen zweifellos nützliche Gegenstände waren, ergaben beide zusam­men nur eine kurze Stich­flam­me. Diese verbrannte neben einigen herumliegenden Werbeflyern mit dem Spruch "Sorgenfrei durchs ganze Leben!" durch einen glück­lichen Zufall nur die Hälfte von Herrn Semmelmeiers Schnauz­bart und ließ den Rest von Herrn Semmelmeier äußerlich unbeschä­digt davonkommen. Der sah jetzt aus wie ein Wal­ross, das sich nach erfolgreichem Fischfang eine ge­müt­liche Zigarre gönnen wollte und beim Anzünden den eige­nen Schnauzer mit der Zigarre ver­wechselt hatte.

Herr Semmelmeiers Schnau­zer hing jetzt jedenfalls etwas zerfleddert und ziemlich kläglich einseitig herab, was mit seiner eigenen Ordnungsvorstellung eigentlich kaum vereinbar schien. Aber zu Herrn Semmelmeiers Ent­schuldigung sei gesagt, dass er selbst seinen eigenen Schnurrbart ja nicht zu sehen bekam, sondern erst ein wenig später die Männer der heranrückenden Feuerwehr.

Aber soweit sind wir noch nicht. Zunächst jedenfalls hatte Herr Semmelmeier wirklich außeror­dent­liches Glück im Unglück gehabt und konnte die wenigen, noch glimmenden Reste von Papier, die herumge­le­gen und Feuer gefangen hatten, schnell entsorgen.

Nach dieser kurzen, jedenfalls nach Herrn Semmelmeiers Einschätzung, erfolgreich beendeten Epi­sode legte sich Herr Semmelmeier beruhigt ins Bett. Denn schlussendlich hatte er ja trotz aller wi­dri­gen Umstän­de den Fleck auf dem Fernseher erfolgreich beseitigt und die Ordnung in seinem Einflussbereich damit wie­der her­ge­stellt.

Als er gerade vom Halbschlaf in den Vollschlaf mit beginnender Traumphase überwechseln wollte, hörte er draußen auf der Straße und danach sogar im Treppenhaus aufgeregte Stimmen. Unbe­wusst nahm er das als Teil seines beginnenden Traumes auf. Sozusagen als eine Art begeisterter Zustimmung der Volksmassen auf der Straße zu seiner kurz zuvor vollzogenen Ordnungshandlung in seinem Herrschafts-Bereich in der Badstr. 17, 2. Obergeschoss, rechts. Vielleicht käme es sogar endlich zu seiner erfolgreichen Wahl in den Stadtrat, die er schon lange anstrebte.

Als das Gepolter aber immer lauter wurde und schließlich auch noch an seiner Wohnungstür ener­gisch geklopft wurde mit dem Ruf "Aufmachen! Feuerwehr!" schreckte er hoch und realisier­te, dass es sich nicht um sei­nen privaten Traum, sondern um einen öffentlichen Aufruhr handelte. Des­sen Ursache kam, wie sich bald herausstellte, in dicken Rauchschwaden aus seinem Neben­zimmer, dessen Tür er verschlossen hatte, um den Geruch des verwendeten Reinigungsmittels nicht durch die ganze Wohnung ziehen zu lassen.

Wie sich nach Untersuchungen der Feuerwehr später herausstellte, lag die Brandursache in einer unsach­ge­mäßen Beseitigung des mit dem Reinigungsmittel versehenen Putzlappens und der Reste glimmenden Papiers. Zwar vorschriftsmäßig in getrennten Eimern, aber im Eimer mit den noch glimmenden Papier­resten befand sich ein schon vor einigen Wochen entsorgtes, älteres Hinweis­schild. Das hatte sich zusätzlich entzündet und das Feuer auf den Eimer mit dem Putzmittel-Lappen über­ge­griffen.

Das Hinweisschild hatte Herr Semmelmeier seinem unordentlichen Nachbarn damals an die Wohnungstür geklebt, weil der es mal wieder mit seiner Putzwoche nicht so genau nahm. Herrn Semmelmeiers, in or­dent­licher Handschrift geschriebenen Hinweis"Ordnung muss sein!" konnte man gerade noch mit viel Mühe auf den von der Feuerwehr sicher­gestellten Papierresten lesen.

Herr Semmelmeier selbst sitzt jetzt nach Beendigung der Löscharbeiten und dem Abzug der Feuer­wehr im einzigen, infolge von dessen feuerresistenten Wandfliesen fast unbeschädigten Raum seiner Wohnung, dem Badezimmer, auf der Klo-Brille. Zu den kläglichen Resten seines Schnauzers kamen jetzt also auch noch die kläglichen Reste seiner gesamten Wohnung hinzu, darunter auch der Fern­seher.

Den ursprünglichen Fleck auf dem Fernseher scheint es jetzt nicht mehr zu geben. Er wäre aller­dings im Vergleich zu den neu hinzugekommenen Flecken durch den Brand auch kaum noch zu er­kennen und daher nur von unwesent­licher Be­deutung.

Es wäre also übertrieben, zu behaup­ten, die Ordnung in Herrn Semmelmeiers Leben hätte durch die Entfernung des Flecks auf dem Fern­seher insgesamt einen Fortschritt gemacht.


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© Chris Krönig


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Kommentare zu "Ordnung muss sein"

Re: Ordnung muss sein

Autor: Hansi   Datum: 11.08.2022 12:45 Uhr

Kommentar: Danke anschi für Deinen Premieren-Kommentar. Schön, dass der gleich so positiv ausfällt. Das ermutigt zu mehr.

Nein, bitte sag nicht "leider". Man darf die Hoffnung nicht aufgeben! Auch bei Beamten nicht! Aus eigener Erfahrung weiß ich, dass man auf der Klobrille manchmal die besten Einfälle bekommt.

Also hoffen wir beide für Herrn Semmelmeier, dass er sich und seine kläglichen Reste von der Klobrille aus mit neuen Augen sieht.

Dein Nachsatz war zunächst wie Chinesisch für mich bis ich ihn in Google eingegeben habe und dabei der weise Satz rauskam "jedes Unglück hat auch sein Gutes", was Du ja schon als Übersetzung beigefügt hattest. Wieder was dazu gelernt.

Bist Du Griechin oder liest Du meine Geschichte von Deinem Urlaubsort auf einer griechischen Insel aus?

Dann noch gute Erholung und immer genügend Wasser um Dich herum!

Schönen Gruß, Hansi

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