Wie lange sitze ich hier? Wie lange beobachte ich dich schon? Wie lange höre ich dich? Wie lange leide ich mit dir? Wie lange quäle ich mich? Wann hat das eine Ende?

Mein Leben ist vorbei. Ich bin nicht mehr, doch trotzdem sehe ich dir zu. Mein Körper liegt schon lange unter der Erde. Von Maden zerfressen und von Würmern besetzt. Meine Existenz ist verschwunden, meine Augen für immer geschlossen. Nun bin ich nur noch eine verschwommene Erinnerung an mein eigenes Leben. Eigentlich müsste ich weitergehen, doch ich kann nicht, ich will nicht. Nicht solange dein Herz noch schlägt. Auch wenn du nicht mehr an mich denkst, so denke ich doch immer an dich. Jeden Tag und jede Nacht sehe ich dir zu.

Ich sehe wie dein Leben ohne mich verläuft. Ich sehe deine glücklichen Momente und deine traurigen. Ich sehe dir zu, wenn du heimlich weinst, ich sehe dir zu, wie du dir beim Autofahren einen Baum aussuchst, um dein Leben zu beenden. Doch immer wieder schüttelst du den Kopf und fährst einfach weiter. Ich sehe die Zweifel in dir, die Traurigkeit, die Einsamkeit. Auch wenn du mich nicht siehst, ich bin hier und verlasse dich nicht.

Du bist nicht allein, denn ich bin hier. Immer wieder stehst du an meinem Grab und sprichst mit mir. Ich schreie dich an, doch du hörst mich nicht. Wieso muss ich dich sehen? Ich kann es nicht ertragen. Ich bin verzweifelt, wieso kann ich dir nicht helfen? Wieso kann ich dir nur zusehen?

Du liegst in der heißen Wanne, mit einem Messer in der Hand. Ich sehe dich an, du weinst. Mit einem Lächeln auf den Lippen setzt du es an. Ich schreie dich an, ich flehe dich an, tu es nicht. Ich versuche das Messer zu ergreifen, doch ich besitze keine Hände, schließlich bin ich nur noch eine Erinnerung, Aber bevor die Klinge deine weiche Haut berührt, hältst du inne. Ich sehe die Zweifel in deinen Augen, die Wut, die Verachtung, die Hoffnungslosigkeit. Du lässt es fallen und schimpfst dich einen Feigling.

Viele Tage, viele Nächte, immer wieder sehe ich dir zu. Ich kann dich hören, ich rede mit dir, doch du verstehst mich nicht. Dann sehe ich es, dieses grelle Licht. Oh bitte nicht, noch nicht, ich will nicht, ich kann nicht. Schließlich bist du noch hier, ich darf nicht gehen. Das Licht wird heller, es saugt mich ein. Es ist warm, viel wärmer als ich dachte. Ich schließe meine Augen und spüre das Licht, wie es mich durchfährt. Wie es mich zerstört, wie es mich von dir wegzieht. Ich weine, kann eine Erinnerung weinen? Ich spüre die Tränen in meinem Gesicht, fasse danach. Ich spüre eine Hand, meine Hand. Dann öffne ich die Augen und sehe den blauen Himmel über mir. Ich spüre das Gras unter mir, was ist passiert? Ich kann mich spüren, meine Arme, meine Beine, wie ist das möglich? Langsam stehe ich auf, bin etwas wacklig auf den den Beinen. Mir ist schlecht, mein Magen verkrampft sich, dreht sich um. Ich atme die kühle Luft ein, ich lebe. Ich lebe, nun kann ich zu dir. Ich kann dir zusehen, ich kann mit dir reden. Ich kann bei dir sein, du bist nicht alleine.

Endlich stehe ich vor deiner Tür, sie ist offen. Ich zerreiße das Band vor mir, renne in deine Wohnung. Stimmen rufen nach mir, schreien mich an, doch ich höre sie nicht. Ich höre nur meinen eigenen Herzschlag, meine Angst. Nun kann ich dich sehen, endlich stehe ich vor dir. Doch du wirst von einem weißen Tuch verdeckt. Es ist zu spät, du bist nicht mehr da. Hände greifen nach mir, reißen mich vor dir weg. Doch ich stehe da, sehe dich an, wie du unter diesem weißen Tuch liegst. Doch das bist nicht länger du, denn du bist fort. Zurückgeblieben ist nur eine leere Hülle, ohne Schmerz, ohne Reue. Am Ende warst du doch alleine, ich konnte nicht bei dir sein. Wieso habe ich dich verpasst?

Nun stehe ich hier, allein, einsam, siehst du mir zu? Kannst du mich hören? Schreist du mich auch an? Ich höre nichts, ich sehe nichts, bist du hier? Wartest du auf mich, oder gehst du weiter?

Ich stehe hier, sehe keine Zukunft ohne dich. Wann hat das ein Ende, wann hört es auf? Wie lange muss ich mich noch quälen, um endlich wieder mit dir vereint zu sein?

Ende


© Lysann Blackmoon


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Kommentare zu "Trauer"

Re: Trauer

Autor: CrazyHälp   Datum: 06.06.2022 16:38 Uhr

Kommentar: Wie immer spricht mich dein Text an...Immer wenn ich von dir lese kommt viel in mir hoch. Beschreibst so manche bekannte Angst von mir auf deine Weise. Musste an meinen verstorbenen Opa denken von dem ich sicher bin das er zusieht. Nicht weil ich daran glaube sondern weil er für mich da war als es mir nicht so prickelnd ging.
Gruß...Crazy Hälp

Re: Trauer

Autor: Lysann Blackmoon   Datum: 06.06.2022 19:49 Uhr

Kommentar: Danke für deinen Kommentar. Es freut mich zu lesen, dass dich meine Texte berühren. Ich versuche immer viel Gefühl reinzustecken

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