Die Chance

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Die Chance
Ein lauer Wind bewegte die leichten Vorhänge. Er wandte den Blick nach draußen. Gestern, so dachte der Alte, hingen goldene Blätter an deinen Zweigen, heute sitzen krächzend wilde Vögel darauf. Das Gold umkränzt nun deinen Stamm.
Der Geruch von feuchtem Laub zog durch die offene Terrassentür. Müde sank sein Kopf auf die Kissen. Ihm gegenüber saß der Fremde, er erinnerte sich nicht, wann der gekommen war, es interessierte ihn auch nicht. Warum auch? Der Fremde trug einen weißen Anzug, seine dunklen Schuhe waren blank geputzt. Er schien alt zu sein, obgleich sein Gesicht kaum Falten zeigte. Einzig sein Haar war schlohweiß, selbst sein Dreitagebart. Genüsslich zog der an seiner Pfeife. Er hatte nicht gefragt ob es gestattet sei. Trotz des lauen Hauchs stiegen die Qualm Wolken gerade nach oben. Hätte es ihn wundern müssen? Ihn wunderte nichts mehr. Vielleicht fehlte ihm auch die Kraft.
Langsam ließ der Fremde den Rauch aus seinem Mund gleiten, die Pfeife hielt er nun in der Hand. „Nun? Was meinst Du?“
„Wie was meinst Du? Was soll ich meinen?“ Schwerfällig drehte er ihm den Kopf zu.
„Es gibt noch eine andere Möglichkeit.“ Wieder zog er an der Pfeife. Der Rauch waberte zur Decke. Fast meinte der Alte, dass sich der Qualm dort abstößt um dann gemächlich zu ihm nach unten zu gleiten. “Welche Möglichkeit?!“, fast spuckte er es aus, „vorbei ist vorbei! Irgendwann muss es ein Ende haben!“
Der Fremde sah nach draußen in den Garten. Ein Vogel stocherte im Laubhaufen, der am Baumstamm lag. „Ja natürlich muss es irgendwann vorbei sein. Nur es kann auch anders kommen.“ Von irgendwoher drangen Klaviertöne durch die Luft, mehr eine Fingerübung als ein Spiel. Einige Blätter schwebten sanft zur Erde, Ahornsamen kreiselten hinab.
„Aha, was heißt das?“
„Fang noch mal von vorne an.“ Wieder zog er an der Pfeife, genüsslich blies er den Rauch zur Decke, er ballte seine linke Hand und betrachtete seine Findernägel, als wäre das wichtig, sodann strich er über seinen knappen Bart.
„Von vorne?“ Auf seiner Stirn bildeten sich tiefe Falten, als wären in seinem Gesicht nicht schon genug davon.
Jetzt legte der Fremde seine Beine übereinander, die rechte Fußspitze zeigte zur Decke, die Pfeife in der Rechten. „Ja, ganz von vorn. Sauber, clean. Als wäre nie etwas gewesen. Es liegt bei Dir, wie Du willst.“
„Mit meinem Wissen? Mit meinen Erfahrungen?“ Er griff sich an die Brust.
Der Fremde sah ihn lächelnd an.
„Ah, ich schätze die Frage ist nicht neu. Welchen Nutzen hat es dann? Alles neu. Alle Ängste neu, Hoffnungen, Enttäuschungen, Schmerzen.“
„Oh, so negativ? Was ist mit den schönen Dingen? Die Liebe!“, er beschrieb einen großen Kreis mit seinen Armen in der Luft, „die Musik, Erfolge, Vorfreuden, ich könnte endlos weiter aufzählen.“ Er legte die Pfeife auf den Teller der Teetasse ab, die auf dem kleinen Tisch neben dem Sessel stand. Ein Sonnenstrahl schien sich durch die offene Glastür zu verirren, ein goldener Streifen zog sich durch den Raum.
„Ich sag Dir was, wir sind alle nur kleine Rädchen in einem riesigen Getriebe. Das Getriebe ist so groß, dass es nicht einmal merkt, wenn ein Rädchen ausfällt. Wir sind nichts! Ameisen! Wir laufen hin und her. Ist Eine plötzlich weg ist schon eine Andere da. Merkst Du nicht wie sinnlos das Ganze ist?“
Der Fremde wippte kurz mit dem Fuß, dann stellte er die Füße wieder neben einander. Er legte die Fingerspitzen aneinander und sah ihn an. „Ich merke du hast das große Ganze noch nicht verstanden. Du hast die Chance alles zu verändern. Alles kann vollkommen anders kommen. Du könntest den Zyklus unterbrechen. Alles neu ordnen. Wir wissen es halt noch nicht.“
„Eben wir wissen es nicht. Was ich habe weiß ich und meine Uhr läuft.“ Das Klavierspiel verstummte. Kurz faltete der Fremde seine Hände, dann legte er sie auf die Sessellehnen ab und lehnte sich an.
„Nun ja, Dein Wissen wird nicht ganz verloren sein. Du kannst nur nicht darauf zugreifen. Das geht allen so. Du hast sicher schon einmal den Begriff Déjà-vu gehört. Genau das ist es. Es wird Dinge geben oder Situationen die Dir bekannt vorkommen. Es liegt an Dir etwas daraus zu machen.“
Er richtete sich auf. Jetzt wo sein Kopf nicht mehr auf dem bunten Kissen lag, sah man wie gelb sein Gesicht war. Die Wangen eingefallen die Haut hing schlaff herab. Auch seine Nase stach scharf hervor. „Es gibt noch andere?“ Er strich sich über das lichte Haar.
„Oh ja! Jeder hat die Chance. Die Einen ergreifen sie, die Anderen nicht. Manche mehrfach.“, meinte der Fremde während er mit der Rechten hin und her wedelte.
Er hustete. „Darf man was aussuchen? Dick, dünn, arm, reich?“
„Das ist schwierig. Es kommt immer darauf an was gerade frei wird.“ Er griff in sein Jackett und zog ein Notizbuch hervor. „Es kommt auch darauf an wie lange Du pausieren willst.“ Er blätterte in dem Buch. Der Sonnenstrahl hatte sich aufgelöst in eine warme Abendröte.
„Pausieren? Wie Urlaub?“ Er lachte spitz.
„Sehen wir mal“, der Fremde blätterte weiter, „so ich hätte hier was am 20. September. Das ist“, er hielt die Finger einzeln nacheinander in die Luft, „in ungefähr sechs Monaten. Es sieht recht aussichtsreich aus. Das tut es im Moment, kann Morgen ganz anders sein. Aber wenn Du möchtest, trage ich Dich dort ein.“
„Naja, ich könnte es probieren. Vielleicht ist es spannend, eine Herausforderung.“ Wieder hustete er.
„Also soll ich Dich eintragen?“ Der Fremde zog einen Stift aus dem Buch und sah den Alten an.
„Ja, mach mal. Ich lass mich überraschen.“ Sein Kopf fiel wieder schwerfällig auf die Kissen zurück.
„Gut, dann notiere ich 20. September, Hans Magnus 753976403...“ „Stopp, was ist das für eine Nummer?“, unterbrach der Alte und hustete nochmals.
„Das ist nur Dein korrekter Name. Also, 20. September, Hans Magnus 753976403 Wiedergeburt. Okay?“
Ein Röcheln, ein lautloses Nicken, Schweigen.
Ein Vogel erhob sich von dem Ast und flog mit einem letzten lauten krächzen davon.


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Beschreibung des Autors zu "Die Chance"

Der Geruch von feuchtem Laub zog durch die offene Terrassentür. Müde sank sein Kopf auf die Kissen. Ihm gegenüber saß der Fremde, er erinnerte sich nicht, wann der gekommen war, es interessierte ihn auch nicht. Warum auch?

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