Der Wind wehte kühl und ließ ihn erschaudern, obwohl er bereits seinen dicksten Mantel angezogen hatte. Es war ein typischer Herbsttag, ungemütlich und grau. Ein Wetter zum depressiv werden, keine Frage. Sein Blick wanderte zuerst über den Friedhof, ehe er nach Unten blickte. Zu dem kleinen Urnengrab, das vor ihm lag. Es war nicht sonderlich gepflegt, nicht sonderlich hübsch. Blätter lagen auf ihm, die Inschrift auf dem liegenden Stein blätterte bereits ab. Ein zerzauster Teddybär lag neben welken Blumen, der Rest des Grabes war karg und leer. Zehn Jahre genügten, einen Menschen vergessen zu lassen. Und in nochmals zehn Jahren würde das hier verschwinden. Grabfrist abgelaufen, einebnen und den nächsten bestatten. Weil man nicht einmal im Tod Ruhe hatte. Dafür war es trotzdem ziemlich teuer. Umsonst ist der Tod, und der kostet`s Leben, das war nicht ganz richtig. Der Tod kostete noch viel mehr, zumindest für die Hinterbliebenen. Und wofür?
Er atmete tief durch, ehe er den kleinen Strauß Rosen ablegte. Eigentlich ja keine Grabblumen, aber er mochte sie. Sein Herz war schwer, jeder Atemzug schien mühevoll. Als würde sein Hals immer enger werden. Er kannte eigentlich den Anblick. Er war alleine hier, immer. Niemanden bedeutete dieser Mensch hier noch etwas. Nur ihm. Alles.
„Du denkst viel über die Zeit nach?“ flüsterte eine Stimme sanft hinter ihm. Er drehte sich um und erblickte ein vertrautes, lächelndes Gesicht, durch das sein Herz erwärmte.
„Hallo Lucy“ antwortete er traurig lächelnd, ohne ihr zu antworten. Sie sah hübsch aus, so wie er sie zuletzt auch in Erinnerung hatte. Ihre langen, leicht gewellten blonden Haare mit der Schleife und der lange schwarze Mantel. Diese feinen Lackschuhe, die eigentlich viel zu schick für Lucy waren, da sie damit immer durch den Dreck lief. Sie legte ihren Kopf schräg, lächelte erneut und knuffte ihn.
„Wie lange willst du noch daran denken?“ hakte sie weiter nach. Er atmete tief durch.
„Solange ich lebe? Denkt doch sonst niemand mehr daran...“
Lucy warf einen Blick auf das Grab und nickte.
„Rosen...sind meine Lieblingsblumen, wusstest du das?“
Er lachte, was auf einem Friedhof vielleicht unangemessen war.
„Natürlich weiß ich das! Ich weiß doch alles über dich!“
„Niemand weiß alles über eine Person!“ verbesserte Lucy ihr Gegenüber. Er nickte zustimmend.
„Was vermisst du am meisten?“ fragte sie nach längerer Pause leise. Er lächelte, musste sich eine vereinzelte Träne unterdrücken.
„Die gemeinsame Zeit, schätze ich. Die Umarmungen, diese Stimme. Dieses Lächeln. Alles, ich vermisse alles!“
Lucy sah ihn nachdenklich an, warf dann einen Blick in den bewölkten Himmel und anschließend zum Grab.
„Die Zeit heilt alle Wunden, sagt man!“ erwiderte sie, offensichtlich ohne ihre Worte selbst zu glauben.
„Erinnerst du dich an früher?“ sprach er mit einem Lächeln im Gesicht, während er Lucys Aussage ignorierte. Sie nickte.
„Klaro!“
„Du warst damals genauso schön wie du es jetzt bist! Wir konnten stundenlang reden, über alles. Und du warst das größte Glück für mich in einer richtigen Scheißzeit!“
„Aww!“ flüsterte Lucy leise. Sie nahm seine Hand, während ihre Blicke ihn aus dem Augenwinkel fixierten. Der Wind wehte durch ihre Haare und wieder schien alles wie früher. Nur war es das nicht.
„Hier, damit du mich nicht vermisst!“ ergriff Lucy das Wort, nachdem beide eine ganze Weile schweigend vor dem Grab standen. Sie hatte einen kleinen Herzanhänger aus ihrer Tasche gekramt und ihrem Freund in die Hand gedrückt. Er lächelte gerührt. Er fand diesen Anhänger schon immer schön.
„Danke dir! Darf...darf ich dich zum Abschied umarmen?“
Wieder legte Lucy ihren Kopf schräg zur Seite wie ein Wellensittich, ehe sie lachte und ihn fest an sich drückte.
„Dass du da noch fragst! Du kennst mich doch!“
Der Geruch ihres Parfüms stieg ihm in die Nase. Sie trug denselben Duft ihr ganzes Leben lang. Er hatte ihn im Laden gesucht, aber nie gefunden.
„Ich gehe dann wieder!“ sagte Lucy schließlich leicht melancholisch. Er nickte, den Kopf nach Unten gesenkt.
„Denke nicht so viel an Früher, sondern lieber an Heute. Okay? Ich liebe dich!“
Noch ehe er etwas antworten konnte war sie bereits verschwunden. Minutenlang blickte er an die Stelle, an der sie gerade gestanden hatte. Dann zog er ihren kleinen Herzanhänger aus seiner Tasche hervor. Wie albern von ihm, das alles hier. Er hatte diesen Anhänger schon seit Jahren immer dabei. Doch jedes Mal tat er so, als wäre sie hier. Als würde sie ihm den kleinen Glücksbringer erst jetzt geben. Und nicht bereits damals, beim letzten Treffen. Sie liebte es, zu lächeln. Glück zu verbreiten, sich hübsch zu machen. Ehe ihr die Welt zu viel wurde. Damals, beim letzten Treffen. Sie war nicht mehr am lächeln, war nicht mehr glücklich. Eingefallen und kränklich. Aber sie lächelte weiter. Für ihn. Sie versteckte die Narben und das Unglück. Die Krankheit. Damit er es nicht sah. Und glücklich war.
Scheiß Einbildung.

Ja, Rosen waren ihre Lieblingsblumen. Natürlich wusste er das. Er brachte sie ihr ja, jede Woche. Damals. Und noch Heute. Ein letztes Mal warf er einen Blick auf das Grab, ehe er niederkniete und den Grabstein zärtlich berührte, als wäre er ein Teil von ihr.
„Ich liebe dich auch, Lucy!“


© Stewart McCole


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Beschreibung des Autors zu "Lieblingsblume"

Zuerst erschienen 2020 auf Bookrix sowie in meiner Kurzgeschichtensammlung "Nachdenkliche Geschichten" :)

Ps: Wenn jemand von euch weiß, wie man hier seinen angezeigten Usernamen ändern kann, immer gern her damit. Als ich mich 2014 registriert habe besaß ich noch kein Pseudonym, hätte das gerne geändert :)

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