Unser Leben mit Obdachlosen (noch unfertig)

© Dietmar Geister

Dietmar Geister
Unser Leben mit Obdachlosen


Inhalt
01. Vorwort 03
02. Der Anfang 06
03. Der Fenstersturz 11
04. Renè 14
05. Des neue Heim 19
06. Die Zirkus-Karriere 24
07. Anitas Waffengang 25
08. Der schwere Weg ins Krankenhaus 28
09. Das Aha-Erlebnis 31
10. Die kurze Drücker-Karriere 33
11. Die Vorweihnachtszeit 35
12. Jahreswechsel 1996/97 40
13. Der Heiratsschwindler 51
14. Alles neu macht der Mai 58
15. 2 Jahre Obdachlosenwohnheim 60
16. Die Karriere des Andy S. 64
17. Traurige Botschaft 71
18. Der nächtliche Überfall 74
19. Vorweihnacht und Jahreswechsel 76
20. Wer den Schaden hat… 83
21. Bankraub im Obdachlosenheim 86
22. Die zerbrochene Freundschaft 88
23. Erlebnis am Geldtag 92
24. Der Kreislauf-Kollaps 94
25. Der Ausbau des Dachbodens 96
26. Die Blumenkästen 98
27. Neuer Skandal im Obdachlosenheim 101
28. Die Jahrtausendwende 110
29. Ein Bomben-Job 120
30. Was lange währt… 120
31. Urlaub mit Hindernissen 123
32. Der Möchtegern-Hausmeister 126
33. Der Kater mit Eigenkapital 128
34. Das Ende 133
35. Nachsatz 138
36. Hausordnung 139















Vorwort
Meine Frau leitete 20 Jahre eine Obdachlosenunterkunft in einer sächsischen mittelgroßen Stadt. Zuerst als bloße Übernachtungsstätte ausgelegt, wurde diese nach den ersten Jahren durch Umzug in ein anderes Objekt zum Wohnheim. Seit diesem Zeitpunkt war ich dort auch angestellt. Diese Zeit war für uns beide sehr prägend.
Durch Aneinanderreihung verschiedener Episoden möchte ich versuchen, unsere Erfahrungen und Erlebnisse auch für andere, nichtinvolvierte Menschen nachvollziehbar zu machen. Der Sprachgebrauch ist teilweise dem der Bewohner angepasst.
z.B.: Stauraum = ein von außerhalb des Hauses zugänglicher Raum mit 4 Betten, Heizung und Toilette, zur Übernachtung von Betrunkenen, die in diesem Zustand das Haus nicht betreten durften. Wurde vorher zur Einlagerung von Möbeln genutzt.
z.B.: Sterbezimmer = ein Mehrbett- und Durchgangszimmer, das dadurch sehr unattraktiv war. Dort wohnten diejenigen, die sich absolut nicht an Ordnung, Hygiene und Einhaltung der Heimordnung halten wollten. Ein Aufstieg in ein gehobeneres Zimmer war durch erkennbare Bemühungen jederzeit möglich und wurde oft auch geschafft. Begriff wurde durch Heimbewohner selbst geprägt.
z.B.: Andacht = eine am Morgen im Büro stattfindende Aussprache zwischen einem Heimbewohner, der vergangene Nacht infolge zu hohem Alkoholanteils im Blut keinen vernünftigen Argumenten mehr zugänglich war und deshalb im „Stauraum“ schlafen musste. Darauf folgte dann eine vollständige Reinigung des Raumes durch diesen.
z.B.: Blechsemmel = eine Bierdose, da das Grundnahrungsmittel (Semmel) von einer Kruste aus Metall umschlossen ist. Alle Begriffe wurden durch Heimbewohner selbst geprägt.

z.B.: Strafbank = eine Bank außerhalb des Hauses, auf der ausgenüchtert wird, um das Haus betreten zu dürfen.
z.B.: Berber = umgangssprachlich ein Obdachloser, der in keiner Gemeinde polizeilich gemeldet ist. Er zieht von einem Ort zum nächsten und bezieht vom jeweiligen Sozialamt täglich seinen Tagessatz als Einkommen.
Wir arbeiteten, lebten und wohnten zusammen in einem Haus über die Jahre mit den verschiedensten Charakteren, vom Frühstück bis zum zu Bett gehen. Die Hierarchie war ähnlich die, einer arabischen Großfamilie. Meine Frau war das Familienoberhaupt und unsere Heimordnung war das Gesetz. Natürlich hatten wir auch freie Tage. In dieser Zeit arbeiteten dann 2 andere Kollegen/Innen. Diese waren dann die Vertretung der Familienoberhäupter. Unser Team fühlte sich, im Gegensatz zu anderen derartigen Einrichtungen die wir damals kennenlernten, für die Hilfe in jeglicher Lebenslage zuständig, sofern diese gewollt war. Das reichte von Vermittlung bei Familienstreitigkeiten, Gang zu den Behörden, Vermittlung von Arztbesuchen, der Arbeitssuche, der Schuldner- und Suchtberatung bis hin zur Ausrichtung gemeinsamer Feierlichkeiten und dem Organisieren von Weihnachtsgeschenken. Einmal waren wir auch als Trauzeugen und bei der Freisprechung zum Erhalt des bestandenen Facharbeiterzeugnisses eingeladen.
Die aufgeführten Episoden haben tatsächlich stattgefunden. Die Namen der Beteiligten sind dagegen frei erfunden oder im Sprachgebrauch des Heimes verwandte Spitznamen.






Der Anfang
Frühsommer 1992. Es ist eine Zeit, in der viele alte Jobs in der Ex-DDR weggebrochen sind. Meine Frau versucht sich beruflich neu zu orientieren. Der neue Job soll den Lebensunterhalt sichern, aber gleichzeitig eine Art Lebensaufgabe sein. Eigentlich ist das etwas illusorisch. Sie geht in das örtliche Arbeitsamt, um sich über vorhandene Job-Angebote zu informieren. Ich gehe meiner Arbeit als LKW-Fahrer nach. Nach Feierabend beeile ich mich, nach Hause zu kommen. Ich bin gespannt, ob meine Frau etwas Passendes gefunden hat. Kaum bin ich angekommen, überfalle ich meine Frau mit Fragen. „Na, hat sich diesmal etwas Interessantes gefunden?“ „Stell dir vor, sie haben mich gefragt ob ich mir vorstellen könnte, in einer Obdachlosen-Übernachtungsstätte zu arbeiten. Ich habe gar keine Vorstellung davon, aber zugesagt habe ich trotzdem. Also soll ich mich bei dem zukünftigen Betreiber bewerben.“
Es war eine Zeit, in der im Beitrittsgebiet die ersten Obdachlosen auftraten. In der DDR kannte man so etwas nicht. Wir hatten davon gehört und auch westliche Filme gesehen, in denen solche Menschen vorkamen. Entsprechend klischeehafte Vorstellungen waren daher in unseren Köpfen vorhanden. Ich frage sie ungläubig: „Willst du das wirklich machen?“ „Natürlich! Es könnte doch vielleicht auch sehr interessant sein und mit Menschen arbeiten, das ist mir doch noch nie schwer gefallen. Außerdem weiß ich ja auch noch nicht, ob ich überhaupt genommen werde.“
Nach ca. 4 Wochen bekommt meine Frau Post von einer Organisation des paritätischen Wohlfahrtsverbandes. Darin ist die Einladung zu einem Vorstellungsgespräch. 3 Mitarbeiter sollen eingestellt werden. Zehnmal so viele Bewerber sind ungefähr gekommen. Anwesend sind der Geschäftsführer des Wohlfahrtsverbandes und mehrere Mitarbeiter der Stadtverwaltung und des Sozialamtes. Wie bereits gesagt, die Problematik ist für alle Anwesenden ganz neu und keiner hat genaue Vorstellungen, welche Kriterien zur Auswahl der Bewerber vorrangig sind. So wird einer nach dem Anderen zur persönlichen Vorstellung ins Zimmer gebeten. Schließlich ist auch meine Frau an der Reihe. Sie antwortet auf alle Fragen frei von der Leber weg, hat keinerlei Unterlagen dabei, wurde aber auch nicht danach gefragt. Keiner von uns weiß zu dieser Zeit, wie ein korrektes Vorstellungsgespräch wirklich zu laufen hat. Als ich dann meine Frau zu Hause frage ob sie genommen wurde, kann sie mir natürlich darauf keine Antwort geben.
2 Wochen später kam wieder Post an. Sie enthielt eine Einladung zur Unterzeichnung eines Arbeitsvertrages. Neben meiner Frau harren noch eine andere Frau und ein Mann der Dinge, die da folgen sollen. Aus der Unterhaltung mit Angestellten entnimmt sie, dass der Mann wahrscheinlich die Leitung der Einrichtung übernehmen soll. Die Bewerber werden einzeln zur Unterzeichnung hereingerufen. Meine Frau erfährt dann vom Geschäftsführer, dass sie als Leiterin der Übernachtungsstätte vorgesehen ist. Ihr bleibt vor Überraschung fast der Mund offenstehen. So etwas hatte sie noch nie gemacht. Da sie aber noch nie unter mangelndem Selbstbewusstsein litt, nimmt sie die neue Aufgabe sofort an.
Ein Termin wird vereinbart, das vorgesehene Objekt zu besichtigen. Es handelt sich um eine leerstehende 4-Zimmer-Wohnung im Erdgeschoss eines unsanierten Mehrfamilienhauses. Das Ganze besteht aus 2 Schlafzimmern mit insgesamt 12 Schlafgelegenheiten in Form von Doppelstockbetten, einem Aufenthaltsraum mit Esstischen, einer Mini-Küche und einem Büro. Dazu kommen noch eine Duschkabine und eine Toilette. Es gibt keinen Internet- und keinen Telefonanschluss. Zur Kommunikation hat der Geschäftsführer ein C-Netz-Telefon mitgebracht. Das Gerät ist groß wie eine Werkzeugtasche, schwer und man kann es sich mittels eines Tragegurtes umhängen. Solch eine moderne Technik kennen wir noch nicht und sind davon begeistert. Das gesamte Mobiliar besteht aus gebrauchten und ausrangierten Möbelstücken. 2 Kachelöfen, die man im Winter täglich mit Briketts heizen muss, sind auch vorhanden.
Am 1. August kommt der erste Obdachlose, der eine Einweisung durch das Sozialamt erhalten hat. Es ist ein Mann mittleren Alters. Das Betreuungsverhältnis ist kurios. Auf je einen angestellten Mitarbeiter fällt ein Drittel eines Obdachlosen. Eine Woche später kommen dann noch 2 obdachlose Männer hinzu. Somit reicht es dann für eine Eins-zu-Eins-Betreuung. Die Übernachtungsstätte öffnet täglich um 18:00 Uhr und schließt am nächsten Morgen 08:00 Uhr. Jeder Mitarbeiter übernimmt im Monat zehn 14-Stunden-Dienste. Da ich tagsüber als Kraftfahrer arbeite, verbringe ich die Nächte, in denen meine Frau Dienst hat bei ihr im Büro. Dort mache ich mich dann daran, ihr bei anfallenden Arbeiten zur Seite zu stehen. Bis zum Beginn meiner Schicht schlafe ich dann dort auf einer Couch.
Es dauert allerdings nicht allzu lange, bis die Schlafplätze nach und nach gefüllt sind. Die Männer kommen ca. 18:00 Uhr an. Im Winter sind wir bereits eine Stunde vorher dort, da wir die Zimmer noch mit althergebrachten Kohleöfen heizen müssen. Danach wird das Abendessen zubereitet. In der Mini-Küche wird für alle Männer gekocht. Gegessen wird dann gemeinsam an einem großen Tisch im Aufenthaltsraum. Das größte Problem ist der Alkohol. Die meisten sind bei ihrer Ankunft schon ziemlich abgefüllt. Öfter findet sich auch jemand, der nach dem Essen den Abwasch per Hand übernimmt. Das Ergebnis davon muss aber immer kontrolliert werden, da auf Grund der erhöhten Promille-Werte die nötige Hygiene dabei auf der Stecke bleibt. Dann noch ein wenig fernsehen und bald schon liegen alle im Bett und schnarchen um die Wette. Wenn man die Schlafzimmer betritt, fällt man fast ins Koma. Bis zu 12 Männer in den verhältnismäßig kleinen Räumen, die Ausdünstungen durch den übermäßigen Alkoholgenuss tagsüber und die warme Luft durch die geheizten Öfen ergeben eine narkotisierende Mischung. Die tagsüber bei schlechtem Wetter völlig durchnässten Schuhe und Socken, vor dem Ofen zum Trocknen aufgehängt und gestellt, fügen dann noch ein ganz spezielles Aroma hinzu. Da hilft auch nicht viel, dass die Männer vor dem Schlafengehen noch geduscht haben, ein Ritual von dem nicht jeder Betroffene restlos überzeugt ist.
Früh ca. 6:00 Uhr ist Wecken angesagt. Einer geht noch zum Bäcker Brötchen holen. Wer möchte, kann am gemeinsamen Frühstück teilnehmen. 8:00 Uhr heißt es dann, die Räume zu verlassen und wieder auf die Straße zu gehen. Das Ganze zieht sich, besonders im Winter wenn es kalt ist, noch bis 9:00 Uhr hin. Dann ist die Schicht für die Angestellten beendet. Meine Frau geht dann noch manchmal mit dem Einen oder Anderen zu Ämtern, zum Arzt oder zu anderen Stellen, da es ihnen meistens am nötigen Selbstbewusstsein dafür mangelt. Ich bin dann aber schon lange mit dem LKW unterwegs.


Der Fenstersturz
Ein Abend im Herbst 1993. Alle Übernachtungsgäste trudeln nacheinander ein. Die tägliche Abendmahlzeit wird vorbereitet. Plötzlich öffnet sich die Tür und Siggi, einer der von Anfang an zu den Stammgästen zählte, kam aufgeregt herein. Er glaubte, sich unentwegt entschuldigen zu müssen. „Es tut mir so leid! Ich konnte ihn nicht mehr halten! Es war doch nicht meine Schuld!“ Jeder fragte sofort nach, aber seine Geschichte war so verworren, dass niemand sich einen Reim darauf machen konnte. So kam man letztendlich zu dem Schluss, dass er wohl auf Grund übermäßigen Alkoholgenusses einer Halluzination unterlag. Am nächsten Morgen ist die Geschichte dann auch schon fast vergessen.
Einige Wochen später. Ein Neuzugang kommt mit einer Zuweisung vom Sozialamt. Er war von seiner bisherigen Lebensgefährtin an die Luft gesetzt worden und brauchte nun eine Schlafstätte für die Nacht. Die anderen kannten ihn alle unter dem Spitznamen „Jacke“. Siggi erblickt ihn und fängt sofort wieder an, sich bei ihm zu entschuldigen. Das Ganze ergibt für uns aber keinen Sinn. Später, beim Aufnahmegespräch, fragt meine Frau ihn nach den Zusammenhängen in dieser Angelegenheit. Jacke schildert uns dieses Erlebnis und seit dieser Zeit gibt er dieses bei jeder sich bietenden Gelegenheit der Allgemeinheit zum Besten.
Er lebte damals noch in der Wohnung seiner Lebensgefährtin, allen in der Szene unter dem Pseudonym „Palmine“ bekannt. Diese hatte die Angewohnheit ab und an Freunde, die der Alkohol ermüdet hatte, tagsüber bei sich schlafen zu lassen. So kam es, dass an diesem Tag Siggi derjenige war, der ein paar Stunden Schlaf benötigte. Palmine hatte aber noch Wege zu erledigen. Da Siggi im Tiefschlaf lag, schloss sie die Wohnung hinter sich ab und machte sich auf die Socken. Wie der Zufall so wollte, stellte sich in dieser Zeit auch bei Jacke die Schlafbedürftigkeit ein. Schon in Vorfreude auf sein Bett, stieg er die steilen Stufen bis zum ersten Stockwerk empor. Die Wohnungstür war aber abgeschlossen. Einen Schlüssel hatte er auch nicht. Also donnerte er an die Tür. Siggi erwachte davon und meldete sich. Jacke: „Siggi, lass mich rein!“ Siggi: „Ich kann nicht. Ich habe keinen Schlüssel!“ Also beratschlagten sie durch die geschlossene Wohnungstür hindurch. Da hatte Siggi eine vermeintlich gute Idee. „Klettere einfach durch das Hausflurfenster hinaus. Ich öffne des Fenster in der Wohnung, reiche dir beide Hände und ziehe dich dort hinein.“ Jacke überlegte kurz und war von dieser Idee angetan. Nur endlich schlafen. Er kletterte aus dem Fenster und fand dort einen Mauervorsprung, auf dem er sich mit einem Fuß abstützen konnte. Dann reichte er Siggi beide Hände, wagte den Absprung und baumelte in der Luft. Siggi bemühte sich nach Kräften ihn in sein Fenster hineinzuziehen, jedoch seine Kräfte ließen immer mehr nach. Tut mir leid, ich kann dich nicht mehr halten“, rief er noch. Dann zog die Schwerkraft Jacke auf die Erdoberfläche. Im Liegen blickte er auf das nun weit entfernte geöffnete Fenster. Da steckte Siggi noch einmal den Kopf heraus und fragte: „Bist du schon unten?“
Er rappelte sich auf, war aber nicht in der Lage zu stehen. Unter Zuhilfenahme seines Hosenbodens schob er sich Stufe für Stufe die steile Treppe bis zu seiner Wohnungstür empor, was man im Nachhinein doch als eine beachtliche Leistung anerkennen muss. Dort blieb er hocken, bis seine Palmine endlich nach Hause kam. Sie wollte einen Arzt rufen, aber Jacke lehnte das kategorisch ab. Er wollte nur noch schlafen. So kam es zu dem fliegenden Wechsel, er ins Bett und Siggi zu uns in die Übernachtungsstätte. Am nächsten Morgen hatte die betäubende Wirkung des Alkohols nachgelassen. Er hatte solche starken Schmerzen, dass nun doch ein Arzt gerufen wurde. Die Diagnose: Beide Beine gebrochen. Also ab mit ihm ins Krankenhaus.



René

Wir schreiben 1994. Es herrscht ein angenehmes Klima, denn wir befinden uns im Frühsommer. Meine Frau arbeitet nun seit 2 Jahren in der Übernachtungsstätte für Obdachlose als Heimleiterin. Da sie, wie der Name schon aussagt, dort stets Nachtdienst hat, ich aber kein Bedürfnis verspüre jeden Abend allein vor dem Fernseher zu sitzen, begleite ich sie abends immer dort hin. Da kann ich mich dann nützlich machen und ehrenamtlich bei der Arbeit behilflich sein. Frühzeitig fahre ich dann von dort aus auf meine Arbeitsstelle.
Die Übernachtungsstätte ist in einem ziemlich heruntergekommenen Wohnhaus im Erdgeschoss untergebracht. In den anderen Etagen wohnen noch Mieter. Gerade will ich mich vor den Computer setzen um noch anstehende Abrechnungen zu erledigen, da hören wir durch das geöffnete Fenster vom Hof her ein Miauen und Fauchen. Draußen erblicken wir dann eine Katzenmutter, die ihre vier Kleinen gerade gegen einen imaginären Feind zu verteidigen scheint. Als wir daraufhin den Hof betreten, verschwinden alle zusammen durch ein Loch in einer alten Schuppentür. Am darauffolgenden Tag befragen wir dann die Bewohner des Hauses, wem diese Katzen wohl gehören. Eine ältere Frau, nennen wir sie Frau Schmidt, sagte uns, dass es ihre Katzen wären. Die Katzenmutter hätte in ihrem Schuppen die Jungen zur Welt gebracht und sie füttere diese dort immer. Für drei hätte sie schon Abnehmer gefunden, aber eines wäre noch zu vergeben. Da unser Haushalt eigentlich schon mit Katzen überversorgt ist überlegen wir, wer wohl für eine solche Adoption in Frage kommen könnte. Da fällt uns Gunter ein.
Kurz nach der Eröffnung der Übernachtungsstätte zog Gunter dort als Dauergast ein. Er kam, so wie die Anderen, jeden Abend zum Duschen, Essen und Schlafen und musste dann früh das Haus wieder verlassen. Er war schwer alkoholkrank. Mitunter sprachen wir, vor allem meine Frau, stundenlang mit ihm über seine Situation. Er war einer der wenigen, der verhältnismäßig schnell zu der Einsicht gelangte, dass es so nicht mehr weitergeht und er dringend etwas unternehmen müsste. Also begab er sich in ärztliche Behandlung die dann zum Schluss in eine mehrmonatige stationäre Therapie führte.
Zu dieser Zeit wurde in dem Haus das wir bewohnten, die Wohnung unter der unseren frei. Wir halfen ihm bei den Behördenanträgen und er zog schließlich dort ein. Obwohl er seit dieser Zeit nie wieder einen Schluck Alkohol getrunken hatte, litt er doch sehr unter den Spätfolgen seiner Suchtkrankheit. Ein paarmal hatte er uns schon zu verstehen gegeben, dass er doch eigentlich keinen Sinn mehr im weiteren Leben sehen könnte, weil er doch für niemanden mehr wichtig wäre.
Da er, seit wir in einem Haus zusammen wohnten, oft auf einen Kaffee und einen Schwatz in unsere Wohnung kam und auch großes Interesse an unseren Katzen zeigte kam uns die Idee, das könnte eine Aufgabe für ihn sein.
Wir sprechen mit Frau Schmidt. Diese ist sofort einverstanden und meint, wir sollen uns einfach eine greifen. Sie hätten sowieso noch keine Namen. Meine Frau geht auf den Hof, wo die Katzen gerade spielen und greift zu. Gleich hat sie auch schon eine auf dem Arm. Es ist ein kleines Katerchen mit rotem Fell. Ab geht es in die Box und wir fahren schnell mit ihm nach Hause.
Gunter, der vor einiger Zeit einen Job bei einer Baufirma bekommen hatte, kommt zum Feierabend nach Hause. Als wir ihn dann auf einen Kaffee zu uns in die Wohnung einladen, präsentieren wir ihm das Katerchen. Er ist gleich von ihm entzückt. Als wir ihm aber eröffnen, dass wir ihn als Adoptiv-Vater vorgesehen haben, überkommen ihm große Zweifel ob er das allein bewerkstelligen kann. Er geht jeden Tag früh auf Arbeit und der Kleine ist dann ganz allein in der Wohnung. Als wir ihm aber daraufhin anbieten, dass er seinen Kater doch früh vor der Arbeit bei uns im Katzen-Kindergarten abgeben kann, sind seine Zweifel schnell verflogen. In Erinnerung an seine verstorbene Lebensgefährtin die Renate hieß, taufte er den Kleinen auf den Namen René. Seit diesem Tag schließen wir nachts unsere Wohnungstür nicht mehr ab. Früh, bevor er seinen Arbeitsweg antritt, öffnet er die Tür einen Spalt und schiebt seinen René hinein. Er verträgt sich auch gut mit den Unseren und spielt, frisst und schläft mit ihnen zusammen. Zum Feierabend holt er ihn dann wieder ab.
Langsam wird es Zeit, dass René seine erste Schutzimpfung bekommt. Meine Frau vereinbart bei unserem Tierarzt einen Termin. Dieser ist am Vormittag. Gunter ist um diese Zeit auf Arbeit, ich ebenfalls. „Das macht nichts“, sagt meine Frau. „Ich schaffe das auch allein.“ Sie nimmt das Katerchen und steckt es in ihre Handtasche. Es ist noch so klein, dass es genügend Platz darin findet. Zu Fuß macht sie sich dann auf den Weg. Durch eine winzige Öffnung des Reißverschlusses beobachtet René gespannt und völlig unaufgeregt, was auf der Straße so alles vor sich geht.
Als Spätfolgen von Gunters Erkrankung stellten sich immer wieder epileptische Anfälle ein. Danach entstanden oft tiefe Depressionen bei ihm. Wenn er dann aber wieder einmal total am Boden ist und keinen Sinn im Leben mehr sieht, erinnern wir ihn an seinen kleinen Kater. „Gunter, denk doch an deinen René! Der ist doch total auf dich angewiesen. Du hast doch Verantwortung für ihn übernommen! Wir können nicht noch eine Katze zusätzlich aufnehmen.“ Auch wenn sonst nichts mehr hilft, darauf angesprochen erwacht sofort wieder ein Gefühl des Gebrauchtwerdens in ihm und er rappelt sich wieder auf. Dadurch hat diese Beziehung beiden, Gunter und den kleinen Kater, sehr viel weiter gebracht.

In unserem Schlafzimmer steht eine alte Standuhr. Vom Bett aus beobachten wir oft, dass René manchmal dahinter verschwindet. Ob er dort vielleicht Mäuse vermutet? Als wir die Uhr dann beim nächsten Hausputz beiseite rücken, sehen wir die Bescherung. Er muss diese dunkle Ecke wohl für ein Toilettenhäuschen gehalten haben. Es bleibt uns nichts weiter übrig, als das ganze Stück Teppichbelag herauszuschneiden und zu entsorgen. Was aber bedeuten schon solche materiellen Nichtigkeiten, wenn man die Freude am Verhältnis zwischen Gunter und seinem kleinen Kater dagegen hält.
Das neue Heim

Wir schreiben den 1. August 1995. Es ist ein besonderer Tag. Heute wurde unser neues Heim auf der Oststrasse eröffnet. Es ist sehr idyllisch gelegen, nicht so, wie man sich ein Wohnheim für Obdachlose im Allgemeinen vorstellt. Nahe am Gipfel eines Berges mit freiem Blick auf die Stadt im Tal, auf der anderen Seite fällt der Blick auf friedlich weidende Rinder auf den grasbewachsenen Hängen und ringsum kleinere Wohnhäuser und Eigenheime. Es ist natürlich klar, dass viele Anwohner von der neuen Nachbarschaft erst einmal nicht gerade begeistert sind. Solch eine Einrichtung ist doch mit vielen Vorurteilen und Klischeevorstellungen behaftet. Das Gebäude ist ein 1850 erbautes Bauernhaus, das damals Teil eines Dreiseitenhofes war. Im Erdgeschoss war der Stall untergebracht, im ersten Stockwerk die Wohnung des Bauern und die Zimmer des Gesindes und darüber ein riesiger Heuboden. Da das Gebäude aber schon viele Jahre unbenutzt dastand, sah es äußerlich schon sehr verfallen aus.

Schon 1993 war vielen Verantwortlichen klar, dass die Kapazität unserer Übernachtungsstätte irgendwann nicht mehr ausreichend ist, zumal auf dieses Haus auch Rückführungsansprüche bestanden. Es begann eine intensive Suche nach einer geeigneten leerstehenden Immobilie. Unter den Objekten, die uns damals angeboten wurden, befand sich auch dieses Bauernhaus. Durch die Aufteilung der Räume stellte es sich als bestens geeignet für dieses Projekt heraus. Nun mussten die Möglichkeiten der Finanzierung besprochen werden. Das war natürlich eine sehr zeitaufwendige Angelegenheit. Heraus kam letztendlich eine Mischfinanzierung durch die Stadt, die Wohnungsgesellschaft, die Eigentümer der Immobilie war und dem Trägerverein des Heimes, dazu noch ein Zuschuss durch den Landkreis. Dennoch reichte das Geld immer noch nicht aus. Durch bauliche Besonderheiten am Gebäude, unter anderem Fenster im Bogenform, Kreuzgewölbe und Sandsteinsäulen im Erdgeschoss, hatte das Denkmalschutzamt auch noch ein gehöriges Wort mitzureden. Also wurden noch Fördergelder beim Freistaat beantragt. Ende 1994 wurden diese bewilligt mit der Auflage, dass das Objekt keine Übernachtungsstätte, sondern ein Wohnheim mit Ganztagsbetreuung wird. Dies kam unseren Vorstellungen natürlich sehr entgegen, da man viele Angelegenheiten mit den Bewohnern durch die Öffnungszeiten der Ämter und Behörden nur tagsüber erledigen kann.
Anfang 1995 konnte die Sanierung dann beginnen. Von der Trockenlegung der Grundmauern über die Anschlussverlegung von Wasser, Abwasser, Strom und Gas, den Einbau von Sanitärbereichen, der Einfügung eines zweiten Stockwerks unter dem Spitzboden und der Sanierung des gesamten Daches gab es jede Menge Arbeit. Letztendlich war das Haus nicht mehr wiederzuerkennen. Mein Glück war, dass durch die Festlegung der Ganztagsbetreuung ein zusätzlicher Mitarbeiter benötigt wurde. Ich bewarb mich beim Betreiberverein, wurde eingestellt und konnte von April an meine ehrenamtliche Tätigkeit in eine Hauptamtliche umwandeln. Auch bekamen meine Frau und ich das Angebot, im Objekt in eine Dienstwohnung einzuziehen. Wir nahmen es dankend an, hatten wir doch so die Möglichkeit immer alles unter Kontrolle zu haben.
Als die Bauarbeiten sich dem Ende zuneigten, waren wir, die Angestellten des Heimes, mit einer Gruppe Freiwilliger aus der Übernachtungsstätte auf der Baustelle, um dort den Keller zu entrümpeln und Grobreinigungen durchzuführen. Das artete richtig in Arbeit aus. Im Keller lagen riesige Gesteinsbrocken, die man manchmal nur zu zweit die steile Kellertreppe hinaufschleppen konnte. Diese haben wir dann später bei der Gestaltung des Außenbereiches zur Einrahmung unserer Grillecke benutzt. Mitte Juli war der Bau abgeschlossen.

In der letzten Juliwoche wurde der Umzug bewerkstelligt und am 1. August kann die feierliche Eröffnung stattfinden. Viele Gäste sind anwesend, darunter der Oberbürgermeister, Stadträte, Mitarbeiter der Stadtverwaltung, Vertreter des Regierungspräsidiums und des Landtages, Mitarbeiter der am Bau beteiligten Baufirmen und der Geschäftsführer des Betreibervereins. Unser neues Heim und die Art es zu führen, was vom Regierungspräsidium als Pilot-Projekt eingestuft worden war, wurde als das „Freitaler Modell“ gefeiert. Ich müsste lügen wenn ich nicht zugeben würde, dass wir darauf mächtig stolz sind. Schließlich ist es gerade einmal 5 Jahre her, dass wir in einer Demokratie leben und uns an deren Gestaltung beteiligen können.
Natürlich sind noch nicht alle Zimmer fertig eingerichtet, hatten wir doch nur das wenige Mobiliar, mit dem schon die Übernachtungsstätte eingerichtet war. Ansonsten waren nur noch einige gebrauchte Doppelstockbetten und Schränke dazugekommen, die uns Privatleute gespendet haben. Da waren schon noch brauchbare Sachen dabei, aber einige haben diese Aktion auch genutzt, ihren eigenen Müll zu entsorgen. Ein Mann brachte uns z.B. einen einzelnen Stuhl mit einem angebrochenen Bein. Er war der Meinung, der ist doch noch besser als gar kein Stuhl. Trotzdem sind wir weiter auf der Suche nach Spendern und Sponsoren, um den Rest des Hauses auch noch einzurichten.

Die Zirkus-Karriere
Wir schreiben den September 1995. Jacke wartet mit einer bombastischen Neuigkeit auf. Vorbei ist ab sofort das triste Leben als Wohnungsloser und Almosen-Empfänger. Er beschreibt seine Zukunftsaussichten in den buntesten Farben. Die weite Welt wird er kennenlernen. Bis in die Schweiz wird er reisen. Ab morgen arbeitet er beim Zirkus. Seine Begeisterung kennt keine Grenzen. Ab morgen wird er in der Wertigkeit weit über seinen bisherigen Mitbewohnern stehen. Alle um ihn Herumstehenden sind doch schließlich nur Versager, er aber wird die ganze Welt sehen. Von diesen Vorstellungen selbst ganz verklärt, packte er seine sieben Sachen und zog von dannen.
Von diesem Tage an hörten wir von Jacke nichts mehr. Er wollte uns doch ganz zeitnah zur Zirkus-Vorstellung einladen. Na gut, es geht alles halt nicht so schnell. Nach 10 Tagen war immer noch keine Nachricht von ihm gekommen. Dafür trudelte er selbst plötzlich wieder in einem erbarmenswürdigen Zustand ein. Dreckig sah er aus und ganz schön ausgehungert schien er auch. Ausgezahlt bekam er 5 D-Mark am Tag. Waschen durfte er sich nicht. Das Wasser war nur für die Elefanten da. Schlafen musste er auf der Wiese. Da hatte er genug von der großen, weiten Welt. Eines Abends packte er seine Tasche und kam aus der Schweiz zurück. Mangels Fahrgeldes musste er die ganze Strecke laufen. Zum Glück war es nur die Sächsische Schweiz. Die Versager um ihn herum konnten sich spöttische Bemerkungen nicht verkneifen und frotzelten ihn noch den ganzen Abend.
Anitas Waffengang
07.04.1996. Es ist bereits später Abend. Anita ging bereits 17 Uhr fort, ohne sich abzumelden. Sie hatte nur Bella gebeten uns auszurichten, sie wolle allein sein und ihre Ruhe haben. Jetzt ist es bereits 24 Uhr und immer noch kein Lebenszeichen von ihr. Bei vielen Bewohnern ist das ja Normalität, aber Anita hat starke psychische Probleme und neigt dazu, sich selbst zu gefährden. Meine Frau macht sich große Sorgen. Sie hatte im Laufe des Abends schon mehrere umliegende Krankenhäuser und Polizeireviere angerufen, aber niemand wusste etwas von ihr.
0:30 Uhr, ein Anruf von einem Polizeirevier in der Landeshauptstadt. Sie haben dort wahrscheinlich unsere Vermisste. Sie kann sich aber nicht legitimieren. Ihre Anfrage: „Können Sie zu uns kommen, diese Frau identifizieren und wenn sie die Gesuchte ist, gleich mitnehmen?“ Eigentlich bin ich nun schon rechtschaffen müde, aber was tut man nicht alles für seine „Großfamilie“?
Ich setzte mich ins Auto und mache mich auf den Weg ins Polizeirevier Dresden Mitte. Während der Fahrt denke ich darüber nach was wohl vorgefallen sein könnte, dass Anita auf dem Revier gelandet ist. Mir kommt aber keine schlüssige Idee.
Am Ziel angekommen begebe ich mich erst einmal zur Anmeldung. Ich zeige meinen Personalausweis und verweise auf das erhaltene Telefonat. Der Beamte ruft im Hause an und lässt mich dann ein. „Gehen Sie im 3. Stockwerk ins Zimmer sowieso und melden sich dort. Ich steige die Treppen empor und klopfe an besagtem Zimmer an. Ein Beamter lässt mich ein. Der Raum ist ziemlich groß, mit mehreren Tischen und Stühlen bestückt. Es könnte ein Konferenzraum sein. An einem Tisch vor einer Wandtafel sitzt ein einzelner Beamter vor einem Stapel Papiere. Derjenige, der mich eingelassen hat, wendet sich an mich. „Warten Sie hier! Ich hole die Frau her und Sie können mir sagen, ob das die Gesuchte ist.“ Schon nach kurzer Zeit kommt er mit einer Frau herein. Das ist tatsächlich unsere Anita.
Sie war mit der Straßenbahn unterwegs. Plötzlich eine Fahrschein-Kontrolle. Anita weigerte sich, ihren Fahrtausweis zu zeigen. Sie fühlte sich von den Kontrolleuren bedroht. Es kommt zu einem Handgemenge und die Polizei wird gerufen. Da sie sich nicht ausweisen kann, landet sie auf dem Polizeirevier.
Nachdem die üblichen Formalitäten wie Protokolle, Unterschriften usw. erledigt waren heißt es, sie können jetzt gehen. Anita nimmt ihre Handtasche. Abrupt steht sie auf und geht zu dem Beamten, der vor der Wandtafel sitzt. Vor ihm auf dem Tisch liegt eine Pistole. Ein kurzer Griff und sie hat die Waffe in ihre Handtasche gesteckt. Mir sitzt der Schreck in allen Gliedern. Was wird jetzt passieren? Der Beamte bemerkt das und beruhigt mich: „Das geht schon in Ordnung. Es ist nur eine Schreckschuss-Pistole. Die haben wir ihr bei ihrer Ankunft abgenommen.“ Erleichtert steige ich nun mit Anita an der Hand die vielen Stufen hinunter und wir fahren zurück ins Heim. Sie nimmt das alles sehr gelassen hin, es gehört ja schließlich zu meinen Dienstaufgaben.



Der schwere Weg ins Krankenhaus
Das Pfingstfest 1996 verlief ziemlich ruhig und friedvoll. Wir hatten frei. Heute ist nun Dienstag. Meine Frau und ich haben den Dienst übernommen. So ruhig kann es doch nicht weitergehen, da muss doch etwas faul sein. Gegen Abend hören wir durchs Fenster auf dem Hof laut kreischende Stimmen. Ein Blick nach draußen, es ist Bothi, der da brüllt. Er ist voll, wie 1000 Ritter. Wie konnte das nur möglich sein. Wir hatten seit langem die Anweisung von seinen gerichtlich bestellten Betreuern, er hat gleich zwei an der Zahl, ihm kein Bargeld auszuhändigen. Alles was er braucht, außer Alkohol, besorgen wir für ihm. Jeder Pfennig wird von ihm sofort in Alkohol umgesetzt. Er ist psychisch krank, aber für eine Zwangseinweisung hat es bisher nicht gereicht.
Er wohnt schon längerer Zeit bei uns im Heim. In seinem früheren Leben soll er einmal Kampfschwimmer beim Militär gewesen sein. Im Normalfall trug er immer einen blauen Overall, saß den ganzen Tag am Tisch in der Raucherecke, rauchte selbstgedrehte Zigaretten in Kette und trank schwarzen Tee der so stark war, dass der Löffel in der Tasse stand. Jeden Tag musste er sehr hochdosierte Psychopharmaka einnehmen. Mit keinem der Bewohner sprach er ein Wort, auch nicht mit uns. Ab und zu bekam er aber seine Schübe. Dann lehnte er die Einnahme seiner Medikamente ab, wurde sehr gesprächig und lief unruhig hin und her. Wenn das eintrat wussten wir sofort, dass Gefahr im Verzug war. Dann ging er auf die Suche nach Alkohol und wer sucht, der findet auch. Meistens endete diese Phase mit einer zeitlich begrenzten Einweisung in die Psychiatrie.
So begann es auch diesmal wieder. Letzte Woche hatte er uns berichtet, dass er neue Turnschuhe braucht. Seine alten sind durchgetreten. Also gingen wir Schuhe mit ihm einkaufen. Noch während wir über die Herkunft des Geldes nachdachten, fällt unser Blick auf Bella. Der hat doch die Schuhe von Bothi an. Nach längerem Hin und Her gibt er kleinlaut zu. „Die habe ich Bothi abgekauft. Er hat mir einen günstigen Preis gemacht.“ Dieser ging daraufhin sofort in die Stadt und kam mit einem ganzen Sack voll Wein in Tetra-Packs wieder. Die Wirkung war umwerfend, im wahrsten Sinne des Wortes. So können wir ihn nicht hereinlassen.
Im Stauraum schlafen will er nicht. Er sitzt im Hof in unserer Grillecke und gibt dort Befehle mit einer laut schnarrenden Stimme. Mit einer zweiten, weinerlichen Stimme antwortet er darauf, so als ob dort 2 Personen miteinander diskutierten. Seine Betreuer sind nicht erreichbar. So gegen Mitternacht wird es plötzlich still. Ein Blick nach draußen, er ist weg.
Nach kurzem unruhigem Schlaf wachen wir am Morgen wieder auf. Ein Blick in den Hof: Er ist wieder da, aber nicht ausgenüchtert sondern noch oder schon wieder genauso volltrunken. Sein Aussehen ist erschreckend und er trinkt auch noch weiter. Sein Gesicht gleicht einer blutenden Maske. Dieses Mal erreichen wir seine Betreuer. Ohne die Anwesenheit eines Richters können sie aber nichts unternehmen. Also rufen wir die Polizei. Vor ihrem Eintreffen schluckt er eine ganze Packung Radedorm, weiß der Teufel woher er das Medikament auf einmal hat. Dieses spült er mit Wein hinunter. Das trägt zur Verlangsamung seiner Aktivitäten bei. Den Anruf bei der Polizei hätten wir uns eigentlich sparen können. Sie konnten oder wollten nicht feststellen, dass eine Gefahr von ihm ausgeht und zogen wieder ab, ohne ihn mitzunehmen.
Da hat meine Frau die rettende Idee. Sie ruft Bella zu sich ins Büro. „Sie sind der Auslöser der ganzen Misere. Sie wissen genau, dass dieser Mann kein Bargeld in die Hand bekommen darf. Also bringen sie ihn jetzt auch ins Krankenhaus, egal wie sie das anstellen!“ Bella weiß genau, dass meine Frau da keinen Spaß versteht. Also macht er sich an die Arbeit. Für Bothi ist Bella kein Feindbild. Von ihm hat er ja das Geld bekommen. Er nimmt ihm den Beutel mit den noch übrigen Tetra-Packs ab. Dann bittet er ihn darum, doch mit ihm zu gehen. Aller 20 Schritte lässt er ihn einen Schluck Wein nehmen. So wie eine Katze, der man eine Maus vor die Nase hält, lockt er ihn Schritt für Schritt bis ins Krankenhaus. Nach 2 Stunden ist der Weg geschafft. Bothi kommt in die Notaufnahme. Er lässt sich widerstandslos auf die Trage legen. Den Beutel mit dem Wein hält er aber weiter fest in den Händen.
Am Nachmittag kommt einer seiner Betreuer. Er teilt uns die Diagnose mit: Schädel-Hirn-Trauma, Alkoholvergiftung und Nasenfraktur. Er liegt auf der Intensiv-Station.
Das war Bothis Abschiedsvorstellung bei uns. Wir haben ihn danach nicht wiedergesehen. Nach seiner Genesung kommt er per Gerichtsbeschluss in die Geschlossene.

Das Aha-Erlebnis
Frühjahr 1996. Wir lebten und arbeiteten nun schon fast ein Jahr in unserem neuen Wohnheim. Von Anfang an hatten wir uns vorgenommen, im Haus höfliche Umgangsformen zu wahren, nach dem Motto: Die Umwelt formt den Menschen. Für viele, die bei uns einzogen, waren die Worte „Bitte“ und „Danke“ Fremdwörter. Dass man sich regelmäßig duscht und sein Bett bezieht, sah auch nicht jeder ein. Also versuchten wir es mit der Vorbildwirkung. Palmine, die wir ja bereits aus der Geschichte des Fenstersturzes 1993 mit Jacke kennen, hatte nun auch ihre Wohnung verloren und war vor kurzem bei uns eingezogen. Da Jacke nun schon längere Zeit bei uns wohnte, war das eine makabre Familienzusammenführung. Palmine war an diesem Tag unterwegs und kam am Nachmittag volltrunken nach Hause. Das klingt vielleicht merkwürdig, aber die Mehrheit der Bewohner sieht das Heim als ihr Zuhause an. In diesem Zustand darf, laut Heimordnung niemand das Haus betreten. Eine Heimordnung, die auch jeder Bewohner mit Unterschrift anerkannt hat. Ihr gelang es dennoch, da die diensthabende Mitarbeiterin gerade in der Küche beschäftigt war, ihr Zimmer ungesehen zu erreichen. Blochi hatte sie aber dabei beobachtet. Es herrschte mehrheitlich im Hause die Meinung vor: Was ich nicht darf, dürfen andere auch nicht! Deshalb ging er zu Frau W. und sagte: „Die Palmine ist gerade stinkbesoffen die Treppe hochgewankt und hat sich in ihr Bett gelegt.“ Daraufhin gingen beide zu ihrem Zimmer. Sie munter zu bekommen, war schon allein eine fast übermenschliche Aufgabe.
Eintrag der Mitarbeiterin, Frau W., die erst wenige Monate bei uns angestellt war, im Heim-Tagebuch: Heute hatte ich ein ganz besonderes Erlebnis. Palmine hat sich in stark alkoholisiertem Zustand ins Haus geschlichen und ins Bett gelegt. Als es mir gelungen war sie zu wecken, sprach ich sie an: „Hallo Frau P. Würden Sie bitte so freundlich sein, aufzustehen und das Haus zu verlassen. Sie wissen genau, dass Sie in diesem Zustand das Haus nicht betreten dürfen.“ Keine Reaktion! Auch nach mehrmaligen Wiederholungen schaute sie nur verständnislos drein. Blochi meinte zu mir: „Frau W., eine solche Sprache versteht sie nicht. Sie müssen das anders sagen!“ Darauf flüsterte er mir etwas ins Ohr. Ich beschloss, es mit lauter Stimme zu versuchen. „Palmine! Hebe deinen A… und schere dich sofort aus dem Haus! Du weißt genau, dass du hier so besoffen nicht rein darfst!“ Die Wirkung war verblüffend. Sie rappelte sich umgehend auf und wankte aus dem Haus.
Die kurze Drücker-Karriere
Anfang August 1996. Fiedel fehlt schon über eine Woche. Er hat sich nicht abgemeldet. Keiner hat ihn auch irgendwo gesehen. Da kommt plötzlich ein Anruf. Ronny meldet sich am anderen Ende der Leitung. „Hallo Frau G. Können sie mir helfen? Können sie mich holen? Ich habe keinen Pfennig Geld.“ Meine Frau: „Fiedel, wo bist du?“ Er erzählt, dass er Zeitschriften-Abos und andere Verträge verkaufen sollte. Jetzt haben ihn die Kolonnenführer nördlich von Berlin an einer Autobahnraststätte aus dem Auto geworfen. Dort hat er die Verkäuferin in der Tankstelle gebettelt, doch einmal ohne Bezahlung anrufen zu dürfen. „Okay!“ antwortet meine Frau. „Das kann aber etwas dauern.“
Wir beraten, wie wir den Fiedel zurückholen können. Ich werde wohl in den sauren Apfel beißen müssen. Da klopft es an der Bürotür. Sylvio tritt ein. Er ist gerade aus dem Krankenhaus entlassen worden. Seine Blinddarmentzündung war wohl blinder Alarm. Vielleicht war es auch nur ein vorgeschobener Grund, nicht zu der gerade anstehenden Prüfung erscheinen zu müssen. Unsere Diskussion hat er wohl mitgehört. Er fragte sofort, was mit Fiedel los sei. Als meine Frau ihm die Story erzählt hat meinte er sofort: „Ich kann ihn doch dort holen. Er muss mir nur den Benzin bezahlen.“ Vor einiger Zeit hatte er sich ein altes Auto gekauft und fuhr gern damit durch die Gegend. Nur Treibstoff war immer knapp. Wir sind einverstanden, nur muss er mit dem Benzingeld bis zur nächsten Sozialhilfe von Fiedel warten.
Spät in der Nacht kommen die beiden zurück. Fiedel isst schnell noch etwas. Dann muss er noch unter die Dusche, denn er verbreitet einen sehr strengen Geruch. Nun erst einmal ab ins Bett. Morgen reden wir weiter.
Am nächsten Morgen erzählt uns dann Fiedel seine Erlebnisse. Vor etwa einer Woche traf er bei uns auf dem Marktplatz auf eine Drücker-Kolonne. Er wusste natürlich nicht einmal, was das ist. Sie erzählen ihm von einem Bomben-Job, wieviel Geld er dort verdienen und dabei noch die weite Welt sehen könnte. Er ging zurück ins Heim, packte ein paar Sachen zusammen und stieg bei ihnen in den Transporter ein. Wo sie dann hinfuhren, wusste er nicht mehr, nur dass er einen ganzen Tag lang Redewendungen auswendig lernen sollte, mit denen er Menschen an den Haustüren zum Abschluss von Verträgen überreden sollte. Jeder, der ihn kannte hätte gewusst, dass dies ein Ding der Unmöglichkeit war. Fiedel ist so gestrickt, dass er nicht einmal zwei zusammenhängende Sätze zu formulieren im Stande ist.
Dann fuhren sie mit dem Kleinbus übers Land. Zu essen gab es jeden Tag einen kleinen Verpflegungsbeutel. Sich zu waschen war nicht möglich. Geschlafen wurde auch im Auto. Fiedel klingelte, wie angewiesen, an allen möglichen Wohnungstüren. Seinen gelernten Spruch auswendig aufzusagen war ihm aber nicht möglich. Die Tage vergingen und er hatte nicht einen einzigen Abschluss. Der Kolonnenführer erkannte, dass Fiedel nur ein unnötiger Ballast für ihn war. Er nahm ihm seine persönlichen Sachen weg und setzte ihn nördlich von Berlin an einer Raststätte aus.
Die Vorweihnachtszeit
Nun hat die Adventszeit wieder begonnen. Zusätzlich zum normalen Arbeitsaufwand kommen dann immer die Vorbereitungen auf das Weihnachtsfest und die Silvesterfeier dazu.
Wir hatten es uns von Anfang an zur Gewohnheit gemacht, jedem Bewohner ein kleines, aber individuelles Weihnachtsgeschenk zu machen. Das Geld dafür sammelten wir das ganze Jahr über Spenden, die wir von der Bevölkerung immer wieder erhielten. In der Adventszeit betrieben wir dann auf dem örtlichen Weihnachtsmarkt einen Trödelstand. Die Standmiete dafür wurde uns von der Stadtverwaltung erlassen. Der Teil unserer Belegschaft, der gerade keinen Dienst hatte, besetzte dann zusammen mit einigen Heimbewohnern dieses schön geschmückte Häuschen. Die Einnahmen lagen dann meistens im Bereich zwischen 500 und 1000 DM.

Der Trödel, den wir übers Jahr auf dem Dachboden angesammelt haben, muss herunter geholt, sortiert und gesäubert werden. Holzi und Danilo sind diesmal besonders fleißig. Am Abend liegt alles abholbereit im Transporter unserer Betreiberorganisation.
Es ist Sonnabend-Früh. Da wir beide Dienst haben, übernimmt die andere Hälfte unseres Teams den Stand auf dem Weihnachtsmarkt. Sie fahren schon frühzeitig dorthin, damit zur Eröffnung alles fertig ist. Holzi und Danilo sind wieder mit dabei. Pünktlich 10 Uhr ist alles einsatzbereit. Festpreise haben wir nicht. Jeder Kunde gibt so viel, wie ihm die Sache und der Sinn des Verkaufs wert sind. Wir hatten damit bisher nur gute Erfahrungen. Zum Feierabend werden alle Auslagen eingeräumt und der Stand verschlossen. Am Sonntag noch einmal das gleiche Spiel. Es kommt noch ein Vertreter eines Hotels vorbei und spendet 6 Weihnachtsstollen. Außerdem dürfen wir noch am Abend im Hotel die Reste eines kalten Buffets abräumen. Es sind viele leckere Speisen darunter. Kurzer Kassensturz: Über 400 DM eingenommen. Bis zum nächsten Wochenende wird alles wieder verschlossen.
Am 11.12. eine Hiobs-Botschaft. Michi ist von der Polizei festgenommen. Er hat versucht, in einem örtlichen Warenhaus ein paar CDs kostenlos einzukaufen und wurde prompt an der Kasse vom Detektiv aus der Warteschlange herauszitiert. Als ob das noch nicht genug wäre, bedrohte er diesen mit einer Spielzeug-Pistole und ergriff die Flucht. Am Rande des Parkplatzes befindet sich eine Mauer. Dahinter geht es mehrere Meter in die Tiefe. Ein kurzer Absprung und schon war die Flucht beendet.
An Heiligabend wird Michi zur Geschenk-Übergabe dann diese Zeilen zu hören bekommen:
Einer wollte Räuber spielen, sich so wie im Krimi fühlen, wollte kaufen ohne Kohle, locker zog er die Pistole, setzte dann zum Sprunge an, fühlte sich als Supermann….. Weil Film und Wahrheit sich nicht gleichen, muss er nun auf zwei Krücken schleichen.
Am 12.12. kommen dann Beamte der Polizei und durchsuchen Michis Zimmer nach Diebesgut. Sie können aber nichts finden. Dann wird Michi gebracht. Er läuft an 2 Krücken. Diagnose: Sprunggelenk gebrochen.
Mecker-Mike hat zurzeit gerade wieder einmal Arbeit. Sein Chef hat eine Idee. Am 14.12. lädt er alle Heimbewohner zu einer nachmittäglichen Weihnachtsfeier ein. 14 Personen wollen teilnehmen. Alle sind geschniegelt und gebügelt, keiner sieht wie ein typischer Obdachloser aus. Der Chef kommt selbst mit dem PKW ein paar Leute holen, ich nehme die Restlichen mit dem Kleinbus der Geschäftsstelle mit. Das war eine sehr nette Geste von ihm. Trotzdem waren die meisten enttäuscht. Es gab prima Kaffee und Kuchen, … aber keinen Alkohol.
Palmine wollte ursprünglich auch daran teilnehmen. Am Morgen fällt ihr aber ein, dass sie erst noch Wäsche waschen muss. Das Waschmittel ist aber alle und Geld hat sie auch keines mehr. Also bittet sie uns um 10 DM für selbiges.







Der Spee-Einkauf
Beim Wäschewaschen hat man auch
`nen hohen Waschmittelverbrauch.
Ist es erst alle, muss man laufen
um neues Waschmittel zu kaufen.
Wie man das macht bleibt jedoch offen,
hat man bereits sein Geld versoffen.

Palmine sprach: Lasst euch nicht lumpen,
mir Geld für Waschmittel zu pumpen.
Damit ihr’s glaubt, zeig ich euch auch
das Mittel, das ich hab gekauft.

Gesagt – getan, sie kriegt ihr Geld.
Drauf zog sie in die weite Welt.
Es wurde spät, es lief die Uhr,
von der Palmine keine Spur.

Dann kommt ein Anruf, welche Freude:
Palmine meld‘ sich ab für heute.
Aus ihrer Stimme hört man raus,
das Spee sah bestimmt flüssig aus.

Dann, nach drei Tagen kam sie her,
doch ohne Spee, da gab’s keins mehr.
Sie ist bis nach Genthin gelaufen,
auch da gab’s keines mehr zu kaufen.
Davon war sie so tief betroffen,
drum hat sie dann das Geld versoffen.

Somit hatte sich das für sie erledigt. Zwischendurch kamen noch 2 Anrufe von Privat-Leuten aus unserer Stadt. Ich durfte Spenden bei ihnen abholen, einmal 200 und einmal 500 DM.
Das nächste Wochenende hat begonnen. Diesmal stehen wir auf dem Trödelmarkt und die anderen haben Dienst. Auch wir haben 2 Bewohner mit als Verstärkung. Das Wochenende verläuft sehr zufriedenstellend. Insgesamt haben wir 1035 DM eingenommen. Dazu noch die 700 DM Spenden. Damit ist das Weihnachten und Silvester ausfinanziert. Der Rest wird für das laufende nächste Jahr zurückgelegt. Es sind ja immer wieder Anschaffungen fällig, die nur aus Spendenmitteln getätigt werden können. Letztes Jahr war das zum Beispiel ein neues Fernsehgerät für den Gemeinschaftsraum, da das alte seinen Dienst quittiert hatte.

Jahreswechsel 1996 /97
Wir schreiben heute den 24. Dezember 1996. Die Vorbereitungen für das Weihnachtsfest sind noch immer in vollem Gange. 2 Bewohner haben sich freiwillig gemeldet um den Weihnachtsbaum aufzustellen und zu schmücken. Den Baum hatten wir schon vor Tagen von einer bekannten örtlichen Gärtnerei gesponsert bekommen und hinterm Haus aufbewahrt. Weihnachten ist in unserem Haus immer ein ganz besonderes Fest und wir geben uns viel Mühe, eine anheimelnde Atmosphäre zu schaffen. Während meine Frau in der Küche mit den Vorbereitungen für das Abendessen beschäftigt ist, bemühe ich mich die letzten 12 Gedichte für den Abend fertigzuschreiben. Ich hatte mir vorgenommen, für jeden Heimbewohner einen lustigen Vers auszudenken und diese dann nach der Bescherung vorzulesen. Plötzlich bemerkt meine Frau, dass 2 Geschenke fehlten. Für Barry und Sveni war nichts auffindbar. Schnell muss ich noch einmal in die Stadt fahren, um diese Dinge zu besorgen.
Ingolf, ein junger Mann mit psychischen Problemen und Alkoholiker, macht wieder einmal Stress. Aller 10 Minuten kommt er zu meiner Frau und verlangt nach seinem Bier. Er hatte einen ganzen Beutel Dosenbier ins Haus geschmuggelt und wir haben diese konfisziert. Nach mehreren vergeblichen Bemühungen ging er beleidigt ins Bett. Endlich wieder Ruhe!
Alkohol ist bei uns im Haus verboten. Nur Heiligabend und Silvester gilt eine Ausnahme, aber dann nur auf Zuteilung. Diese geringen Mengen, die wir dann an jeden verteilen der danach verlangt, stammen aus den die Zeit über konfiszierten Beständen.
Der Zeitpunkt des Abendessens rückt immer näher. Plötzlich der nächste Zwischenfall. 2 Leute kommen in die Küche gestürzt. „ Der Bruno ist umgefallen! Kommen sie schnell!“ Dieser liegt im Hausflur, hat Schaum vor dem Mund und bekommt kaum noch Luft. Da hilft nur eines: Die 112 anrufen. Der Notarzt kommt schnell, untersucht ihn und man nimmt ihn mit ins Krankenhaus. Wieder ein Ergebnis des Alkoholmissbrauchs.
Dann ertönt die Glocke. Es ist Zeit für das Abendessen. Alle kommen nach und nach in den Gemeinschaftsraum, außer Blochi. Der schläft fest, hatte wohl doch etwas zu viel auf dem Kessel. Es gibt Kartoffelsalat mit Würstchen, das in Sachsen zum Heiligabend traditionell übliche Gericht. Dazu für jeden eine Dose Bier, die dieses Mal von Ingolf gesponsert wurde und über den Abend verteilt 2 Tassen Glühwein. Vom Kartoffelsalat ist nicht ein Krümelchen übrig geblieben.
Danach beginnt die Bescherung. Wir sind bemüht, den Abend etwas lustig zu gestalten. Wenn es zu feierlich würde, könnten einzelne vielleicht depressiv werden. Sicherlich haben die Meisten noch Erinnerungen an für sie bessere Zeiten. Alle sind ordentlich rasiert und gut angezogen. Sämtliche Geschenke, einzeln verpackt und mit Namen versehen, befinden sich in einem großen Weihnachtsmann-Sack. Jedes Päckchen wird herausgenommen, der Name verlesen und der Genannte kann sein Geschenk in Empfang nehmen. Dazu lese ich dann das von mir verfasste Gedicht über den gerade Beschenkten vor. Das Ganze zieht sich über längere Zeit hin. Wir haben alle sehr viel gelacht und keiner ist ob des über ihn verfassten Gedichtes beleidigt. Im Gegenteil, einige haben mich dann später gebeten, ihnen diese Zeilen als Erinnerung auszudrucken. Besonders diejenigen, die noch nicht so lange unter uns weilten, bedanken sich danach und einige meinten, so ein schönes Weihnachtsfest schon lange nicht mehr erlebt zu haben.

Der Heiligabend ist gelaufen. Nun beginnt eine ruhige Zeit voller Gelassenheit für uns. Für alle, die von Ruhe und Gelassenheit im Obdachlosenheim keine Vorstellung haben, kurze Tagebuchnotizen der nächsten Tage:
25.12.: Die Zubereitung des Mittagessens für 25 Leute war stressig. Das Fleisch war zwar schon vorgebraten, aber 50 Klöße formen und kochen, Soße zubereiten, das Fleisch aufwärmen und das alles mit 4 Herdplatten; das war schon eine Mammut-Aufgabe. Hinterher die vielen Töpfe und Teller per Hand Aufwaschen, der Geschirrspüler war wieder einmal defekt. Einige haben das Essen gelobt, für andere war das alles schon selbstverständlich geworden.
26.12.: Wieder das gleiche Spiel. Man muss schon sehr erfinderisch sein, 2 Töpfe Kartoffeln, 1 Topf Soße, die Pfanne mit den Rouladen und die extra große Pfanne mit Gemüse zur gleichen Zeit fertig zu bekommen. Die Kinder von Palmine, die über die Feiertage bei ihrer Mutter wohnen, sind sehr artig.
27.12.: Früh bekommt Sveni einen epileptischen Anfall. Schnell den Notarzt gerufen. Jemand hat ins Urinal gebrochen. Es ist total verstopft. Ingolf und Porry arbeiten den halben Tag daran und holen alles Mögliche aus dem Abfluss raus. Im Endeffekt ist dieser nicht mehr dicht und kann nicht mehr benutzt werden. 17.00 Uhr erwischen wir Andreas, Scheuerchen und Barry im Lagerraum. Sie haben dort heimlich getrunken. Mecker-Mike kam zu uns, volltrunken. Da laut Hausordnung keiner in diesem Zustand das Haus betreten darf, schicken wir ihn zurück in das Haus Nr. 8. Das ist ein Haus auf unserer Straße, indem durchweg Alkoholiker wohnen, die potenzielle Anwärter für den Einzug in unser Heim sind. Dort hatte er diesen Pegel erreicht. 20.00 Uhr stehen 3 Kinder einer Bewohnerin dieses Hauses weinend vor unserer Tür. Dort gibt es wieder Zoff. Wir informieren die Polizei. 21.00 Uhr klingelt bei uns die Polizei. Sie wollen den betrunkenen Mecker-Mike bei uns abgeben. Wir verweisen sie auf unsere Hausordnung und unser Hausrecht. Da sie aber unendlich weiter diskutieren wollen, macht meine Frau kurzentschlossen das Brett zu. Sie lassen ihn wieder fortschwanken und ziehen ab. 22.30 Uhr wieder Polizei, diesmal gleich in Nr. 8. Sie nehmen Mecker-Mike mit, der gerade mit einem Messer auf die anderen in Nr. 8 losging. Vor dem Schlafengehen noch eine Zimmerkontrolle. Bei Sveni eine halbe Flasche Wermut, bei Barry eine Flasche Wermut und ein Bier, bei Blochi 2 Flachmänner und ansonsten noch eine Flasche Klaren und mehrere Dosen Bier. Keiner weiß, woher das kam und es gehört niemandem. Alles wird entsorgt.
28.12.: Heute früh kam Mecker-Mike an, direkt aus der Ausnüchterungszelle in Pirna. Seine gesamte Kleidung war über und über voll Blut. Er war aber erst einmal wieder nüchtern. Danach kamen 2 Berber bei uns an, ganz durchfroren und ohne eine Mark. Sie waren zuletzt in einem Obdachlosenheim in Schwerin. Als Berber bezeichnen sich Menschen, die in Deutschland von Ort zu Ort ziehen und sich überall einen oder mehrere Tage aufhalten und dort Tagessätze vom Sozialamt beziehen. Angeblich wollen sie am 30.12. weiterziehen. Wir nehmen sie erst einmal per Notaufnahmeschein auf. Ein Pfarrer klingelt. Er bringt uns sehr viel Obst, unter anderem Bananen, Apfelsinen und Äpfel. Das können wir prima gebrauchen. Am Abend kommt noch ein netter Mann aus Dresden auf den Hof gefahren. Er will eine Reise antreten und bringt uns seine von Weihnachten übriggebliebenen Lebensmittel und eine Palette Bier. Das wird gleich sicher eingelagert und Silvester an die noch nüchternen Bewohner verteilt.
29.12.: Heute war großes Revier-Reinigen angesagt. Alle Bäder, einschließlich der Duschvorhänge wurden gründlich gesäubert. Alle Zimmertüren im Haus wurden abgewaschen. Sylvio und Enrico reinigten Küche und Speiseraum, inclusive der gesamten Fliesen und der Möbel. Alle Anwesenden haben sich beteiligt, es war wie in einem Ameisenhaufen, ganz toll. Am Abend brachte uns ein Mädchen aus der Jungen Gemeinde 2 Schüsseln Nudelsalat plus Würstchen. Alle waren sehr erfreut. Die 2 Berber meinten, es gehe hier allen viel zu gut und dabei käme so wenig Dankbarkeit zurück. Unser Heim wäre das Beste, das sie jemals kennengelernt haben, dabei wären sie schon 6 Jahre auf Platte. Sie beschlossen, sich hier am Montag auf dem Sozialamt fest anzumelden. Ingolf dreht wieder am Rad. Er war von verschiedenen Leuten mindestens viermal zur Tankstelle geschickt worden um Bier zu holen und zum Lohn ist auch immer etwas für ihn abgefallen. Bis 22 Uhr hat er dann den Pegel erreicht, der bei ihm zum Totalausfall führt. Er verlangt penetrant nach Fahrgeld, weil er seinen Bruder besuchen wolle. Das will er immer in diesem Zustand. Nach einer Stunde sind wir dann derart genervt, dass wir ihm 20 DM Fahrgeld aushändigen, immer im Bewusstsein, dass er nirgendwohin fahren sondern dieses sofort in Alkohol umsetzen wird. Er zieht ab. Natürlich ist das keine Lösung auf Dauer.
30.12.: Die Nacht verlief ruhig. Ingolf ist schon im Haus, noch oder schon wieder betrunken. Er hat den Max ausgetrickst und das Haus illegal betreten. Ein Bus wäre nicht gefahren, das Geld hätte er verloren. Dann ist er beim Notdienst aufgetaucht, hat dort wirre Geschichten vorgetragen und die haben ihn dann bis zu uns vors Haus gefahren. Da Betrunkene nicht ins Haus dürfen, schicken wir ihn an die frische Luft. Dann ein Anruf von einem Arzt. Ingolf ist dort und er weiß nicht, was er mit ihm anfangen soll. Wir verständigen seine Betreuerin. Dann rufen wir noch bei der Suchtberatung an und schildern die Probleme mit Ingolf. Man will sich wieder bei uns melden. Gegen Mittag kommt er wieder. Sein Alkoholpegel ist etwas gesunken, darum lassen wir ihn erst einmal herein. Sein Körper verlangt aber nach Nachschub, deshalb ist er sehr umtriebig und will neues Geld haben. Wir lassen ihn nicht aus den Augen. Gegen 16 Uhr geht dann alles sehr schnell. Seine Betreuerin kommt mit dem Amtsarzt. Sie führen ein langes Telefonat mit dem Gericht. Ergebnis: Zwangseinweisung in die geschlossene Abteilung erst einmal bis 15.02. Die 2 Berber haben einen Berechtigungsschein für ein halbes Jahr bekommen.
31.12.: Silvester fängt gut an. 05.30 Uhr begehrt eine Frau Einlass. Eigentlich ist unser Haus um diese Zeit noch geschlossen. Da es immer wieder klingelt, gehe ich zur Tür. Die Frau kenne ich doch. Es ist Frau S. Sie war früher Betreuerin im Betreuungsverein. Ich lasse sie erst einmal in den Speiseraum. Später führen wir dann das Aufnahmegespräch. Sie erzählt uns, sie wäre heute früh aus einem Krankenhaus im Ortsteil Dresden- Weißer Hirsch entlassen worden. Ins Tal von Dresden hinunter wäre sie dann mit der Standseilbahn gefahren. Da diese noch geschlossen war, hätte sie die Bahn selbst gesteuert. Sie wäre ja schließlich im Besitz eines Führerscheins für dieses Gefährt. Auf dem Dresdner Hauptbahnhof hätte sie dann die internationalen Transporte koordiniert, da sie für diese verantwortlich sei. Nun wolle sie bei uns einziehen. Sie holte einige Aktenmappen aus ihrer Tasche und bat uns, diese im Panzerschrank einzuschließen. Darin wäre auch ihr „Regelwerk“. Das wäre sehr wichtig und äußerst geheim. Da an so einem Tag keine amtliche Stelle erreichbar ist, nahmen wir sie erst einmal auf. Als dann die Heimbewohner begannen den Speiseraum silvestermäßig zu schmücken, erkannte sie unter ihnen Enrico. Das wäre doch ihr internationales Kind. Schließlich zieht sie zu Palmine ins Zimmer. In der Zwischenzeit versuchen wir über private Kontakte mehr über diese Frau zu erfahren. Wir haben Glück. Von einer ehemaligen Arbeitskollegin von Frau S. erfahren wir, dass sie an Schizophrenie leidet, schon mehrmals in der „Geschlossenen“ war und sehr zu Tobsuchtsanfällen und Versuchen von Brandstiftung neigt. Alles keine beruhigende Aussichten! Palmine kommt und beschwert sich. Frau S. hätte ihr ihre Kosmetikartikel weggenommen und Kerzen im Zimmer angezündet. Wir eilen zu ihrem Zimmer. Sie hat sich eingeschlossen. Erst nach mehrmaligem energischem Klopfen öffnet sie die Tür. Die Kerzen nehmen wir weg und versuchen sie zur Herausgabe von Palmines Eigentum zu bewegen. Obwohl sie keine Einsicht zeigt, gibt sie schließlich nach. Den Zimmerschlüssel ziehen wir auch gleich ein. Gott sei Dank kümmern sich die anderen Bewohner ziemlich selbstständig um die weiteren Vorbereitungen für die Silvesterfeier. Das Abendessen wird gerichtet und nach der Mahlzeit wird die Zeit mit Gesellschaftsspielen, Tanzen und Polonaise durchs ganze Haus herumgebracht. Vor 24:00 Uhr wird noch der Fernseher angeschaltet. Alle waren sehr zufrieden, nur wir hatten keine richtige Ruhe. Immer wieder schlich einer von uns durchs Haus um zu sehen, ob alles noch steht und nichts brennt. Dadurch hatten wir wohl auch nicht bemerkt, dass einige sich wohl auch von den im Hof heimlich gebunkerten Vorräten, Nachschub holten und dann schon über der geforderten Promille-Grenze waren. Max fiel im Zimmer um, Enrico war ganz schön blau und Porri, Andreas und Wolfgang waren auch ganz schön von der Rolle. Die Nacht verlief jedoch sehr ruhig und das Haus stand am Morgen noch.

01.01.: Der Tag verlief sehr ruhig aber in angespannter Atmosphäre. Irgendjemand hatte immer ein Auge auf Frau S. Behörden waren an diesem Tag sowieso nicht erreichbar. Der Tag verging mit Revierreinigen, Essenzubereitung und Mahlzeiten einnehmen wie jeder andere Feiertag auch.
02.01.: Heute können wir endlich Nägel mit Köpfen machen. Wir informieren alle in Frage kommenden Behörden. Frau S. verließ mittags das Haus. Ich laufe immer, mit entsprechendem Abstand, hinter ihr her. Sie besucht die Sparkasse um Geld abzuheben, was aber wahrscheinlich mangels Kontodeckung nicht möglich war. So vergingen mehrere Stunden mit Versuchen ohne Geld einzukaufen, mit dem Studieren von Fahrplänen auf dem Bahnhof und anderen Tätigkeiten, deren Sinn ich nicht erkennen konnte. Gegen Abend kamen wir wieder im Heim an. Scheinbar hat sie mich die ganze Zeit nicht einmal entdeckt, obwohl ich mich bei der Verfolgung bestimmt unprofessionell angestellt habe. Meine Frau verständigt, wie ausgemacht, sofort die Polizei. Diese saß derweil schon in den Startlöchern. Kurze Zeit später waren alle bei uns im Hof. Ein Streifenwagen der Polizei, ein Wagen der Rettungssanitäter, ein Richter und ein Neurologe. Das Prozedere dauerte noch eine halbe Ewigkeit. Dann nahmen sie Frau S. mit in die Psychiatrie. Diese nutzte schnell noch die Gelegenheit, einige persönliche Gegenstände von Palmine mitgehen zu lassen. Wir glauben, dass die Behörden Frau S. schon länger wegen anderer Begebenheiten suchten, sonst hätten sie sicher nicht so prompt reagiert.


Der Heiratsschwindler
Wieder einmal ein Neuzugang. Er macht beim Aufnahmegespräch einen durchweg positiven Eindruck. Äußerlich gut und sauber gekleidet, keine Anzeichen von Suchtproblemen und sprachlich gutsituierte Ausdrucksweise, das passte so gar nicht in die Schablone unserer sonstigen Neuzugänge. Sein Name lautet Eintänzer. War das vielleicht ein Wink mit dem Zaunpfahl, den wir nur noch nicht verstanden? Nach eigenen Angaben hatte er ein Studium abgeschlossen und beabsichtigte eine Arbeit bei uns in der Stadt aufzunehmen. Er bekommt ein Bett in einem Zwei-Bett-Zimmer zugewiesen und schafft sein Gepäck auf dieses. Am nächsten Tag geht er zum Sozialamt und bekommt eine Berechtigung für erst einmal einen Monat.
Darauf folgte das Oster-Wochenende. Unter den Damen, die zu dieser Zeit bei uns im Heim wohnten, ist er gleich sehr beliebt. Fast jede versucht seine Aufmerksamkeit zu erreichen. Ihre Bemühungen sind aber nicht von Erfolg gekrönt. Sie entsprechen allesamt nicht seinem Beute-Schema. Er zeigt keinerlei Auffälligkeiten. Am darauffolgenden Dienstag verlässt er vormittags das Haus und gibt an, gegen 22 Uhr wieder zurück zu sein. Er erscheint aber nicht. Das wird dann zur Regel. Er ruft jedes Mal an um uns Bescheid zu geben, dass er auswärts schlafe und sich wieder melde. Dafür kommen immer öfter Pakete für ihn an, die wir dann für ihn entgegen nehmen. Ab und zu zeigt er sich, nimmt seine Pakete in Empfang und verschwindet wieder. Dafür kommen in seiner Abwesenheit immer öfter Telefonanrufe bei uns an, die nach Herrn Eintänzer fragen. Es handelt sich dabei immer um weibliche Anrufer und sie zeigen sich sehr verwundert, dass wir uns mit „Obdachlosenheim“ melden.
Er taucht immer seltener bei uns auf. Derweil stapeln sich die an ihn adressierten Pakete. Solche, die per Nachnahme bezahlt werden müssen, lassen wir sofort zurückgehen und verweigern die Annahme. Dann kommen Mahnungen und Inkasso-Schreiben dazu. Ein Anruf von einem ortsansässigen Autohaus. Meine Frau geht ans Telefon. „Obdachlosenheim, was kann ich für sie tun?“ Der Anrufer fällt aus allen Wolken. „Wieso Obdachlosenheim? Wohnt bei ihnen ein Herr Eintänzer? Er hat bei uns eine ausgesprochene Nobel-Karosse bestellt. Sogar mit dem Sonderwunsch: Sitze aus rotem Leder! Das Auto ist abholbereit. Was soll ich nun damit machen?“ Leider konnte meine Frau dem verzweifelten Autoverkäufer da auch keinen Rat geben.
Da er sich überhaupt nicht mehr zeigt, nehmen wir die gesammelten an ihn adressierten Pakete in Augenschein. Sie enthalten unter anderem fast ausschließlich teure Parfüms, noble Kleidungsstücke und Schuhe. Alles wieder verpackt, senden wir diese mit der nötigen Erklärung zurück.
Einige Tage später klingelt es an der Haustür. Eine ältere Frau steht draußen. Sie stellt sich mit Namen vor und bittet meine Frau um eine Unterredung. Dann nimmt sie in unserem Büro Platz. Was wir von ihr erfahren, wundert uns nun schon nicht mehr. Sie hat eine alleinstehende Tochter mit 2 Kindern. Diese hat über eine Zeitungsannonce in der örtlichen Tageszeitung einen Herrn kennengelernt. Sein Name: Herr Eintänzer. Sie haben sich dann mehrmals getroffen und die Tochter hat sich unsterblich in diesen Herrn verliebt. Daraufhin schmiedeten sie Pläne von einer gemeinsamen Zukunft. Er hätte ein im Bau befindliches Haus in den alten Bundesländern, das kurz vor der Fertigstellung steht. Wenn es dann einzugsbereit ist, könnten sie gemeinsam dort wohnen. Die Frau war, ob der Erzählungen ihrer Tochter etwas skeptisch. Sie bat darum, dieses Haus doch einmal sehen zu dürfen. Er war sofort einverstanden. Die Sache hätte nur einen Haken. Sein Auto wäre gerade in der Werkstatt und er müsse einen Mietwagen nehmen. Da er im Moment nicht an sein Kapital heran käme, müssten sie ihm das Geld erst einmal auslegen. Gesagt, getan, sie fuhren alle gemeinsam in eine Stadt im östlichen Bayern. Dort lenkte er das Auto durch einen noblen Vorort, fuhr dann im Schritt-Tempo an einer im Bau befindlichen Villa vorbei und bezeichnete diese als sein Haus. Einlassen könne er sie aber nicht, da am Wochenende dort niemand arbeite und er keine Schlüssel dabei hätte. Also fuhren sie ohne Anzuhalten sofort wieder zurück.
Die Frau hatte schlimme Vorahnungen, aber ihre Tochter, schwer verliebt, ließ keine Zweifel gelten. Sie kündigte ihre Arbeitsstelle und den Mietvertrag für ihre Wohnung. Seitdem wartet sie auf den bevorstehenden Umzug. Meine Frau klärt die Besucherin über die Verhältnisse des Herrn Eintänzer auf und diese fällt, trotz ihrer Vorahnungen aus allen Wolken. Ob der Familie noch weiterer finanzieller Schaden entstanden ist, ist uns nicht bekannt.
Herr Eintänzer taucht nach Wochen noch einmal bei uns auf, um seine verbliebenen Sachen abzuholen. Er regt sich wortgewaltig über meine Frau auf. Sie wäre überhaupt nicht berechtigt gewesen, dieser Dame über ihn Auskunft zu geben. Er würde sie dafür verklagen. Dann verlässt er das Haus mit 2 gepackten Koffern. Später, als wir dann sein Zimmer entmüllen, um für einen neuen Bewohner Platz zu schaffen, finden wir noch eine große Hinterlassenschaft. Neben teuren Kosmetik-Artikeln, einen ganzen Karton voll geöffneter Briefe mit unbezahlten Rechnungen, darunter auch die Rechnung für die alles auslösende Annonce in der Tageszeitung und einer riesigen Auswahl an Liebesbriefen von diversen Frauen, die sich schon auf ihre bevorstehende Hochzeit freuten. Meine Frau macht sich die Arbeit, die Absender aller unbezahlten Rechnungen von ihrem Fiasko zu unterrichten. Danach ruft sie alle Frauen, in deren Briefen Telefonnummern vermerkt waren an und klärt sie über die wahren Hintergründe ihres vermeintlichen Liebhabers auf. Die Meisten zeigen sich sehr dankbar, zumal einige kurz davor standen, diesem Ehrenmann beträchtliche Geldsummen zur Überbrückung kurzfristiger Zahlungsschwierigkeiten zu Verfügung zu stellen. 2 Frauen kamen sogar noch zu uns, um ihre Briefe samt der mitgeschickten Fotos abzuholen. Den Rest haben wir dann vernichtet.
Eigentlich haben wir die Vorstellung, der Tanz des Eintänzers wäre an diesem Punkt beendet. 5 Jahre später, im Frühjahr 2002 bekommen wir einen Anruf aus dem Sozialamt der Stadt. Ein neuer Bewohner wird uns angekündigt. Nach seinen Angaben wäre er noch nie bei uns gewesen und kennt uns auch nicht. Er hat sich eine genaue Wegbeschreibung geben lassen, damit er unser Heim auch problemlos findet. Er hat den nicht so oft vorkommenden Namen „Eintänzer“. Es läuft wieder so weiter, als wäre er nie fort gewesen. Briefe kommen massenhaft an und der Paketbote scheint ausschließlich für ihn unterwegs zu sein. Kommt er aus der Stadt, ist er immer vollbepackt mit den verschiedensten Konsum-Artikeln, z.B. mit einem Kaffeautomaten und einem großen neuen Fernsehapparat. Ende März eröffnet er uns, dass er 3 bis 6 Wochen zu einer Reha in eine Klinik in Bad Schandau müsse. 04.04.2002: Plötzlich steht er unangekündigt im Büro. Er hätte jetzt eine Mitfahrgelegenheit gefunden und müsse sofort ins Krankenhaus. Er reicht meiner Frau seinen Zimmerschlüssel und schließt die Bürotür hinter sich. Verwundert schauen wir aus dem Fenster. So können wir ihn gerade noch, vollbepackt mit einem großen Rollkoffer und mehreren Reisetaschen, das Grundstück verlassen sehen.
Brita, eine Heimbewohnerin, kommt später ganz stolz zu uns ins Büro. „Können Sie sich vorstellen, Herr Eintänzer hat so großes Vertrauen zu mir. Er hat mir eine Vollmacht ausgestellt. Damit soll ich für ihn bei der Agentur für Arbeit einen Verrechnungsscheck abholen. Er bekommt mehrere Tausend Euro als Nachzahlung.“ Eine Nachfrage bei der Agentur ergibt, dass Eintänzer schon seit 1997 keine Leistungen mehr erhält. Alles Fake, aber Brita hat etwas, um sich wichtig zu fühlen.
Natürlich bekommen wir auch Besuch vom Gerichtsvollzieher. Als wir noch nicht in dieser Branche arbeiteten hätten wir uns nie vorstellen können, mit einem solchen Beamten schon fast „per Du“ zu sein. Jetzt aber wirkte er, wie ein guter Bekannter. Leider können wir ihm bei diesem Klienten nicht viel weiterhelfen. Der hatte aus gutem Grund keinen Nachsendeauftrag bei der Post gestellt und niemand konnte zu seinem derzeitigen Aufenthalt eine Auskunft geben.
Ein paar Wochen später ein Besuch der Kriminalpolizei. Sie zieht Erkundigungen über einen mutmaßlichen Betrüger ein. Kurz darauf klingelt das Telefon. Eine Frau aus Bautzen meldet sich. Sie wollte nur einmal nachfragen, ob diese Telefonnummer tatsächlich zu einem Obdachlosenheim gehört und bat darum uns doch einmal zwecks Erfahrungsaustausch besuchen zu dürfen. Ein Termin ist schnell gefunden und sie kommt, in Begleitung ihrer kleinen Tochter zu uns. Sie hatte Herrn Eintänzer kennengelernt und dieser hatte nach dem angeblichen Klinikaufenthalt kurze Zeit bei ihr gewohnt. Seine Meldeadresse hatte sie aus seinem Personalausweis abgeschrieben. Dieser übertrieb aber bei den Schilderungen seines vermeintlichen Wohlstandes so übermäßig, dass er bei ihr jede Glaubhaftigkeit verlor. Sie erzählte, er ging mit ihr ins Autohaus, um für sie und für sich ein neues Auto zu bestellen. Er wäre Privatunternehmer und hätte ein Einkommen von ca. 16.000 DM netto im Monat. Etwas weniger wäre in diesem Fall sicher mehr gewesen. Da sie es nicht verbissen sah, haben wir während ihrer Schilderungen mehrmals herzlich gemeinsam gelacht. Schließlich setzte sie ihn vor die Tür.
Zirka ein Jahr später kommt es dann tatsächlich zu einer Klage, wie er meiner Frau schon 1997 angedroht hatte. Nur mit dem Unterschied, dass er selbst der Angeklagte ist Wir erfahren es nur so nebenbei. Sozialbetrug, Leistungserschleichung und Urkundenfälschung in unzähligen Fällen, quer durch ganz Deutschland von Nordwest bis Südost und das alles im Wiederholungsfall. Urteil: 6 Jahre ohne Bewährung.
Alles neu macht der Mai
Es wird Zeit, die Außenanlage wieder auf Vordermann zu bringen. Ein großer Teil der Bewohner macht auch mit. Wir haben etliche Säcke Blumenerde eingekauft. 30 Blumenkästen müssen neu bepflanzt und auf die Fensterbänke verteilt werden. Dafür haben wir 250 Geranien gekauft, die waren vom Stückpreis 2,99 DM auf 0,50 DM gesenkt worden. Lothar kümmert sich um das Blumenbeet im Hof. Bis zum Nachmittag sieht wieder alles schön ordentlich aus. Da kommt dann noch unser Geschäftsführer vorbei und ist auch erfreut über die positive optische Außenwirkung des Hauses.

Am Abend sind meine Frau und ich zu einem Vortrag im Gemeindesaal der kath. Kirche eingeladen. Leider sind nur 12 Zuhörer gekommen, diese waren aber an dem Thema „Obdachlosigkeit“ sehr interessiert. Es ist einfach so, ohne Außenwirkung zu zeigen wird man auch keine Spendenbereitschaft in der Bevölkerung wecken können. Deshalb nehmen wir auch öfters Einladungen von Schulen und anderen Institutionen an, um über dieses Thema zu berichten. Die Zuhörer haben versprochen dafür zu beten, dass wir zu einem neuen Wäschetrockner kommen. Manche Außenstehende halten ein solches Gerät in einem Heim für Obdachlose für überflüssig. Da aber viele obdachlose Berber keine Kleidung zum Wechseln besitzen, diese aber auch ab und zu waschen müssen, ist das für uns unentbehrlich.
Bis zum Wochenende ist dann die Außenanlage komplett. Der Abhang hinterm Haus ist frisch aufgeschüttet und Rasen ausgesät. Für alle, die mit gearbeitet haben, richten wir eine Grillfete aus. Wer zu faul war, darf nur zuschauen. Es gibt Bratwürste und Schaschliks. Diese wurden selbst zubereitet, weil das billiger ist als fertige Schaschliks zu kaufen. Auch für solche Aktionen brauch man Spendengelder und die Einnahmen vom Trödelmarkt.









2 Jahre Obdachlosenwohnheim
Wir schreiben Mitte Juli 1997. Auf Grund des zweijährigen Bestehens unseres Heimes planen wir, gemeinsam mit den Bewohnern eine Grillfete im Hof zu veranstalten. Bedingung dafür ist, dass alle sich auch an den Vorbereitungen dafür beteiligen und bis zum Beginn einigermaßen nüchtern sind.
Um die Handlungen verständlicher zu machen, versuche ich die Hauptakteure etwas näher zu beschreiben. Enrico: Ein Jugendlicher mit erheblicher Drogenkarriere, der aber für Geselligkeiten stets zu haben ist und dafür auch einmal etwas tut. Barry: Ein Mann im Vorrentenalter mit einer jahrzehntelangen Trinkerkarriere die zu erheblichen Sprachschwierigkeiten geführt hatte. Einzelne Worte von ihm kann man nur verstehen, wenn er fast völlig nüchtern ist. Das kommt aber selten vor. Er wohnt schon seit der Übernachtungsstätte bei uns. Dagi: Eine Frau mittleren Alters, die seit Kurzem bei uns wohnt und auf Grund psychischer Probleme sehr auf Männer abfährt, allerdings nur theoretisch. Mecker-Mike: Ein junger Mann, der auch schon Jahre bei uns wohnt, mit Ausnahme von Zeiten, in denen er einsitzt. Hat er getrunken, kann er sehr witzig und lustig sein. Ab einem gewissen Pegel setzen aber Aggressionen ein. Scheuerchen: Ihm ist das Kapitel „Die Karriere des Andy S.“ gewidmet. Blochi, Waldi, Schöni und Brettl: 4 Alkoholiker, die sich nur ganz selten an irgendwelchen gemeinsamen Aktivitäten beteiligen. Jacke: Schon bekannt vom „Fenstersturz“ und der „Zirkuskarriere“.
Barry hat sich in Dagi verliebt. Um ihr zu imponieren hält er sich zurzeit beim Konsum von Alkohol stark zurück. Deshalb kann man ihn auch einigermaßen verstehen. Er sucht verzweifelt nach seinem Gebiss. Früher, in der Übernachtungsstätte, hatte er das immer in der Feuerholzkiste deponiert. Nun ist es weg. Wie soll er bei Dagi nur ankommen, so ganz ohne Zähne. Meine Frau geht mit ihm aufs Zimmer und hilft beim Suchen. Plötzlich findet sie es. Das Gebiss steckt in seinen alten Winterschuhen. Er ist überglücklich. Für Dagi hat er eine Flasche Wein gekauft und sie bei uns im Büro eingelagert. Jetzt aber schnell rein mit den Zähnen.
Dazu meine Eintragungen im Heimtagebuch:
Heute, am Samstag, waren die Feierlichkeiten zum 2-jährigen Bestehen der Nobel-Pension „Oststrasse 13“ geplant. Enrico war am Vormittag mit mir Erdbeeren pflücken. Die Variante, die Enrico sich ausgedacht hatte, funktionierte nicht. Am Ausgang stand ein Kassierer.
Noch am Nachmittag hatten wir eine Vereinsgründung. „Club der Totalverweigerer fester Nahrungsmittel e.V.“ Der Vorsitzende war Blochi, Mitglieder waren Schöni und Waldi. Ihre erste Vereinstätigkeit war ein Hungerstreik, den sie erfolgreich durchsetzten.
Zugleich liefen die Vorbereitungen fürs Grillen auf Hochtouren. Nur das für Steaks geplante Fleisch fiel nach ein paar Hammerschlägen zu Goulasch auseinander. Daraufhin wurde eine Umnutzung als Suppenfleisch beschlossen. Während des Kaffeetrinkens kam Brettl aus dem Krankenhaus, in dem er wegen eines Getränke-Unfalls war. Er war erbost, nicht eingeladen worden zu sein und schloss sich in seinem gerechten Zorn den Hungerstreikenden an. Diese hielten für den Rest des Tages die Strafbank besetzt. Da aber seine Aufnahme im Verein mehrheitlich keine Zustimmung fand, distanzierte er sich und ging ins Bett.
18:00 war Beginn der Feierlichkeiten. Diese fanden in der Grillecke im Hof statt. Während des Essens kamen 2 Berber an. Diese wurden zwischendurch noch abgefertigt.

Nach dem Grillen gab es Erdbeerbowle. Jacke und Mecker-Mike waren wieder mal in Höchstform. Nur Barry muss einen gesundheitlichen Schaden erlitten haben. Er hat noch bis spät in die Nacht hinein leidlich deutsch gesprochen. Wenn das öfter vorkommt, müsste er vielleicht mal zum Arzt gehen. Zu später Stunde wurde auch reichlich getanzt. Sogar Scheuerchen legte eine kesse Sohle aufs Parkett. Trotz Stärke 5 auf der Richter-Skala (er wiegt ca. 150 kg) traten aber keine sichtbaren Schäden auf. Dagi nahm den Wein von Barry dankbar an, getanzt hat sie aber nur mit den anderen.
Gegen 22:00 Uhr: Verdacht gegen Waldi, hinters Haus gepinkelt zu haben. Ich habe das kontrolliert. Verdacht unbegründet, er hatte nur „gekotzt“. Von da an musste die Haustür geschlossen gehalten werden, da die Vereinsmitglieder stark im Saft waren.
Nach 24:00 Uhr war die Bowle alle. Mecker-Mike hat das so unendlich bedauert dass wir ihm versprochen haben, bei seiner nächsten Haftentlassung wieder so Eine zu machen.
Nach den Aufräumungsarbeiten, Begutachtung der Strafbank-Besetzer. Zwei fielen mit Mühe und Not noch unter die Amnestie zu Ehren der Jubiläumsfeierlichkeiten. Blochi wurde zum Außenschläfer ernannt. Er hatte noch ein kleinwenig Blut im Alkohol. Berry war frustriert. Außer Spesen, nichts gewesen.



Die Karriere des Andy S.
Wir schreiben das Jahr 1997. Es ist September. Das Telefon klingelt. Meine Frau nimmt das Gespräch entgegen. Nachdem das Telefonat beendet ist lächelt sie und eröffnet mir die eben erhaltene Neuigkeit: „Unser Scheuerchen kommt zurück. Er hat aber ausrichten lassen, keiner solle bei seiner Ankunft lachen.“
Andy Scheuer wohnte seit Oktober 1995 in unserem Heim. Jugendliche hatten ihn auf der Straße aufgelesen da er hungrig war, für ihn gesammelt und ihn dann ins Wohnheim begleitet. Seine Hosentaschen waren voller Kleingeld. Er hatte keinerlei Bezüge, war nirgendwo angemeldet und hatte an Bekleidung nur das, was er auf dem Leib trug. Trotzdem war er stets guter Dinge und immer zu einem Scherz aufgelegt. Zuallererst versuchten wir ihn neu einzukleiden. Für solche Fälle hatten wir uns einen Fundus zugelegt. Da er aber fast 3 Zentner wog und einen Bauchumfang von 1,35 m hatte, war das kein einfaches Unterfangen. Schließlich bekamen wir es aber doch einigermaßen hin. Er erzählte uns, dass er nach der Wende seinen Arbeitsplatz verloren hätte und daraufhin beschloss, in den „goldenen Westen“ zu reisen. Er hatte dort noch eine Tante und die würde sich sicher freuen, ihn einmal wiederzusehen. Die Freude der Tante über den sich durchschnorrenden Neffen hielt sich aber sehr in Grenzen und so verbrachte er die meiste Zeit in verschiedenen Obdachlosenunterkünften. Nachdem ein paar Jahre vergangen waren, überkam ihn aber die Sehnsucht nach der alten Heimat. Dort hatten ihn dann die Jugendlichen aufgelesen und zu uns gebracht. Wir beantragten gemeinsam mit ihm Sozialhilfe und er zog bei uns ein.
Immer, wenn das Frühjahr anbrach, überkam ihn ein seltsames Fernweh. Es war wie bei einem Zugvogel. Er begann mit den Flügeln zu schlagen, ging immer öfter aus dem Haus und verschwand dann von einem Tag auf dem Anderen ganz. So auch im Januar 1996. Wir bekamen eine Meldung aus Saarbrücken, wo er sich in einer Obdachlosenunterkunft aufhielt. Ende März kam eine Nachricht aus Würzburg, dann kam er Höchstselbst zurück, jedes Mal mit Schulden bei der deutschen Bahn.
Er war also wieder da, aber er hatte keine Hose mehr, die ihm gepasst hätte. Sein Bauch war wieder gewachsen. Eine Mitarbeiterin unseres Hauses, Frau H., nahm sich seiner an und begleitete ihn in ein Spezialgeschäft für Übergewichtige, dessen Besitzer sie kannte. Dort gelang es ihr mit viel Überredungskunst den Besitzer dazu zu bewegen eine riesige Hose, die unheimlich teuer war dem Obdachlosenheim gegen eine Spendenquittung zu überlassen. Herr S. hatte wieder eine Hose. Da das aber seine Einzige war und er diese jeden Tag trug, war der Stoff zwischen den Beinen durch seine Korpulenz nach einem halben Jahr völlig durchgescheuert. Unsere andere Kollegin, Frau W., war von Beruf Schneiderin. Er fragte sie, ob es ihr nicht möglich sei dort Stoff-Flicken einzusetzen. Sie sah sich die Bescherung an und meinte: „Ich kann es versuchen. Sie müssen aber erst einmal die Hose waschen. Bitte bei 30 Grad!“ Er war im Erledigen von Aufgaben nicht gerade der Schnellste. Sie musste ihm das Ganze erst dreimal sagen. Danach war die Hose plötzlich verschwunden. Herr S. war sich sicher, jemand hätte ihm die Hose gestohlen. Das Ganze war auf Grund der Hosengröße recht unwahrscheinlich, deshalb gingen wir im Haus auf Suche. Endlich fanden wir eine Hose hinter einer Waschmaschine. Leider war sie zu Kindergröße geschrumpft. Andy bewies sich wieder als Frohnatur. Er nahm das Ganze nicht so tragisch und ging mit einer langen Unterhose bekleidet zur Spar-Filiale sein Bier trinken. Darauf angesprochen meinte er, ich habe doch eine Palucca-Hose an. Dass diese mit einem Eingriff versehen war fand er eher nebensächlich.
Schlechte Stimmung im Haus. Diebstahl ! Es ist nicht zu fassen.
Scheuers Hose ist weg. Wem mag diese wohl passen? Eigentlich niemandem, die war viel zu groß. Also muss sie noch da sein.
Die Suche geht los.
Endlich findet man eine, die könnte es sein.
Der einzige Haken, die ist viel zu klein.
Anhand von Indizien kommt man zu dem Schluss,
dass sie bis vor kurzem größer gewesen sein muss.
Die sollte gewaschen werden, bei dreißig Grad.
Man sagte ihm das, worauf er dieses auch tat.
Leider hat man ihm diese Anweisung dreimal gegeben
und Herr Scheuer war stets ein guter Rechner im Leben.
Dreimal dreißig macht neunzig, hat er sich gedacht
und somit die Hose auf Kindergröße gebracht.
Was soll's, in Unterhosen kommt bei Spar man auch dran
und die andern Leute denken, er hat Palucca-Hosen an.

Während ich diese Geschichten vor meinem inneren Auge passieren lasse rückt der Zeitpunkt näher, an dem Scheuerchen wieder im Heim anzukommen gedenkt. Wir haben allen anderen eingeschärft bloß nicht zu lachen, wenn er durch die Tür kommt. Alle sitzen gerade beim Abendessen. Die Tür geht auf und das Gelächter ist nur mit größter Mühe zu unterdrücken. Er marschiert, frohgemut wie immer, in gestreifter Schlafanzughose in den Speiseraum.
Er erzählt uns seine Erlebnisse. Diesmal hatte es ihn nach Aschaffenburg in die dortige Obdachlosenunterkunft verschlagen. Er saß dort so am Straßenrand und trank ein erbetteltes Bier, da sprach ein fremder Mann ihn an. „Ich habe einen guten Job für dich. Wenn du willst, kannst du gleich mitkommen.“ Scheuerchen zeigte sich interessiert und ging sofort mit ihm in ein Büro. „Hier musst du den ganzen Tag sitzen und ich bringe dir immer etwas zum Essen und zum Trinken vorbei. Weiter brauchst du nichts zu tun. Du musst mir nur deinen Personalausweis geben.“ Das war ein Job, so ganz nach seinem Geschmack. Nach und nach erfuhr er, dass er nun Geschäftsführer dieser Firma, deren Namen er nicht einmal kannte, war. Darauf war er sehr stolz und er ließ es sich lange Zeit gutgehen. Dann wurde ihm eröffnet, er solle im Namen der Firma nach Thailand fliegen und dort irgendetwas, ihm Unverständliches, erledigen. Da bekam er es mit der Angst zu tun und nahm, ohne seinen Ausweis je wiedererhalten zu haben, Reißaus.
Herr Scheuer kommt wieder, wer hätte das gedacht.
Er hat in der Fremde Karriere gemacht.
Vom Sozi zum Geschäftsführer ist er gestiegen.
Im Namen der Firma sollt' nach Thailand er fliegen.
Weil Fliegen nicht seine Welt ist, er steht mehr auf die Bahn,
nahm Scheuer Reißaus und kam wieder hier an.


Es dauerte nicht lange, da kamen die ersten Rechnungen für Einkäufe, die er angeblich als Geschäftsführer dort getätigt hätte, bei uns im Heim an. Die Summen wurden immer höher. Wir müssen mit ihm zur Polizei gehen, um dort eine Anzeige gegen Unbekannt aufzugeben.
Das geht doch aber schlecht in einer Schlafanzughose. Wir klappern alle Märkte ab, aber unter 129 DM ist in seiner Größe nichts zu finden. Da müssen wir wohl einen Antrag beim Sozialamt stellen. Seine persönliche Bearbeiterin im Sozialamt kennen wir sehr gut. Sie ist auch gut auf Herrn S. zu sprechen, da er immer sehr höflich, niemals fordernd und immer witzig auftritt. Wir wissen auch, dass sie Sinn für Humor hat und stellen deshalb, in seinem Namen und von ihm unterschrieben, folgenden Antrag:


Sehr geehrte Frau M.
Hiermit möchte ich einen Mehrbedarf zur Hilfe in besonderen Lebenslagen beantragen. Die besondere Lebenslage besteht darin, dass ich durch Verkettung unglücklicher Umstände nur noch in Besitz einer Schlafanzugshose bin. Da es meiner Stellung als Geschäftsführer einer GmbH abträglich ist, wenn ich in derartiger Bekleidung im Finanzamt vorstellig werde, benötige ich dringend eine Hose als Oberbekleidung. Auf Grund meiner etwas fülligen Erscheinung sind Beinkleider, in der von mir benötigten Größe, nur in Spezialgeschäften erhältlich. Ich habe mir auf dieser Strecke etliche Angebote eingeholt, aber für weniger als 129,00 DM war leider nichts zu bekommen. Da meine Geschäfte zurzeit schlecht laufen, kann ich diese Summe jedoch nicht aufbringen. Deshalb beantrage ich einen Zuschuss von 100,00 DM, um in Zukunft wieder meiner Menschenwürde entsprechend in der Öffentlichkeit auftreten zu können.
Hochachtungsvoll
Andy S.

Die Summe wurde bewilligt. Meine Frau geht mit Scheuerchen eine neue Hose kaufen. Der Einkauf ist zermürbend. Sie begehen ein Geschäft nach dem anderen. Jedes Mal kommt Herr S. niedergeschlagen und immer schweißgebadeter aus der Umkleidekabine. „Passt nicht! Zu klein.“ Endlich sieht meine Frau über dem Eingang eines Fachgeschäftes eine Jeans zu Werbezwecken angebracht. Von der Größe her könnte die einem Elefanten passen. „Ist diese Hose verkäuflich?“ „Ja“ antwortet der Geschäftsinhaber. Er steigt auf eine Leiter und nimmt die Hose ab. Scheuerchen nimmt sie mit in die Umkleide. Nach bangem Warten kommt er strahlend heraus. „Passt!“ Danach begeben wir uns unverzüglich zur Polizei und setzen eine Anzeige gegen Unbekannt auf.

Es ist nicht das letzte Mal, dass es ihn in die Ferne zieht. Im Januar 2000 zieht er ins 2. Obergeschoss ins „Betreute Wohnen“. Verfressen, wie er nun einmal ist (er hat schon immer nachts seinen Mitbewohnern die im Kühlschrank hinterlegten Arbeitsschnitten weggefressen) aß er nachts heimlich seinem Zimmergenossen den Hackepeter weg. Dieser war als sehr aggressiv bekannt. Aus Angst vor den Folgen verschwindet er noch in derselben Nacht und ward nie wieder gesehen.

Traurige Botschaft
Es ist der 14. November 1997. Wir sind schon mit den Vorbereitungen fürs diesjährige Weihnachtsfest beschäftigt. Da bekommen wir einen Anruf vom Polizeirevier. Die Meldung schlägt ein wie eine Bombe. Herr L. hat sich in seinem Garten erhängt. Neben ihm lag eine leere Flasche Cognac. Wir sind aufs Äußerste schockiert. Es ist das erste Mal, dass wir mit dem Suizid eines unserer Heimbewohner konfrontiert sind.
Er zog am 06.10. bei uns ein. Sein Fall war sehr speziell, anders als bei den meisten seiner Mitbewohner. Er war gelernter Maler. Nach der Wende hatte er, wie so viele andere, seinen Job verloren. Es war die Zeit der hohen Arbeitslosigkeit hier bei uns im Osten Deutschlands. Also entschloss er sich, den Schritt in die Selbstständigkeit zu wagen. Das Ganze ging ein paar Jahre gut, denn an Aufträgen mangelte es nicht. Für die nötigen Rücklagen langte es leider aber nicht. Im letzten Jahr begannen die Schwierigkeiten. Einige Auftraggeber hatten ihre Rechnungen nicht bezahlt. Alle Bemühungen waren leider vergebens. Er konnte seine Verbindlichkeiten nicht mehr bedienen und musste letztendlich Insolvenz beantragen. Daraufhin nahm er einen Job als Taxifahrer an. Leider hielt das auch nicht lange. In Zeiten wirtschaftlicher Schwierigkeiten wird derjenige, der als letzter eingestellt wurde, als erster wieder entlassen. Diese Situation machte ihm schwer zu schaffen. Dazu kam die private Misere. Seine Frau reichte die Scheidung ein. Daraufhin packte er ein paar Sachen und zog in seinen Garten. Dort lebte er schlecht und recht bis der Herbst zu Ende ging.
Anfang Oktober bekam er die Nachricht vom Kleingartenverein, dass sein weiteres Wohnen dort nicht mehr geduldet wird, da nun auch das Wasser über den Winter abgestellt ist. So zog er dann tief niedergeschlagen und deprimiert bei uns ein. Sozialhilfe war erst einmal beantragt. Seine Verbindlichkeiten unserem Heim gegenüber hat er aber sofort im Voraus bezahlt, eine Geste die bei uns Seltenheitswert hat. So verbrachte er die nächsten 4 Wochen bei uns im Heim. Man konnte sich sehr gut mit ihm unterhalten, aber mit dem sozialen Umfeld kam er nur schwer zurecht. Schließlich hatte er bisher ein völlig anderes Leben geführt. Am liebsten würde er wieder ausziehen, aber wo soll er hin?
Mittlerweile hatten wir Anfang November. Herr L. hatte Sozialhilfe auf sein Konto bei der Sparkasse überwiesen bekommen. Da er dort im Negativ-Saldo stand, haben sie gleich die Hälfte davon eingezogen. Laut SGB ist das bei Sozialleistungen ungesetzlich. Deshalb fuhr ich mit ihm gleich zur Sparkasse. Es ist tatsächlich so, aber man kann das nur innerhalb von 7 Tagen zurückfordern. Die waren aber bereits verstrichen. Das wusste ich bis dahin auch nicht. Das restliche Geld hinterlegte er bei uns im Panzerschrank, damit es nicht auch noch weg ist.
Am 11.11. hatte Herr L. seinen Scheidungstermin. Ich fuhr mit ihm zum Kreisgericht. Als wir das Gebäude wieder verließen, war er zutiefst niedergeschlagen. Bis dahin hatte er noch Hoffnung, dass sich alles, zumindest im Privaten, wieder zum Guten wendet. Diese Hoffnung war nun auch dahin. Wieder im Heim angekommen, lies er sich das bei uns hinterlegte Restgeld geben und ging aus dem Haus. Das war das letzte Mal, dass wir ihn zu Gesicht bekamen. Wegen seiner wenigen Hinterlassenschaften bei uns im Heim benachrichtigen wir seine Ex-Frau. Sie hat kein Interesse. Wir sollen alles entsorgen.
Der nächtliche Überfall
Der erste Tag des Dezembers ist gerade einmal dreieinhalb Stunden alt, da werden wir abrupt aus unserem Schlaf gerissen. An unserer Wohnungstür klingelt es Sturm. Ist vielleicht ein Feuer ausgebrochen, oder liegt einer der Bewohner im Sterben? Ich springe blitzartig in meinen Bademantel und eile zur Tür. Beim Öffnen werde ich von einer Taschenlampe geblendet. Schnell schalte ich die Treppenhausbeleuchtung ein. Was ich erblicke sind keine Gangster, sondern 3 uniformierte Polizisten. Ich muss wohl etwas verdutzt dreingeblickt haben, da herrscht mich der Wortführer der Drei an, sie hätten einen hilflosen Bürger auf der Straße aufgelesen und wir sollten ihn jetzt aufnehmen. Inzwischen kam auch meine Frau dazu. Wir lassen uns auf eine längere Diskussion mit den Beamten ein und verweisen auf unsere Heimordnung. Unsere Öffnungszeiten sind 08:00 bis 22:00 Uhr. Jetzt haben wir es 03:30 Uhr. Betreten darf das Haus nur, wer sich nicht in volltrunkenem Zustand befindet. Der Herr N., der früher zeitweilig Bewohner unseres Heimes war, konnte nicht einmal mehr selbstständig laufen. Er war, wie wir später erfuhren, aus der Klinik ausgerissen und hatte sich, nur mit einem Schlafanzug bekleidet, mit Alkohol zu gedröhnt. Da die Fähigkeit zur Einsicht bei den Beamten scheinbar nicht vorhanden war, verweisen wir sie, unter Hinweis auf unser Hausrecht, aus dem Heim. Mürrisch zogen sie wieder ab und mussten nun den hilflosen Bürger zur Ausnüchterung aufs Revier transportieren. Dieser Weg war wesentlich länger, als der Weg zu unserem Heim.
Danilo erzählt uns nun, wie der Überfall vonstattenging. Plötzlich entstand Lärm vor der Haustür. Die Klingel zum Heim läutete unentwegt. Jemand trommelte mit der Faust an die Tür. Ein Bewohner, der noch im Hausflur unterwegs war, öffnete daraufhin. Die Polizisten stürmten ins Haus und verlangten, einen Verantwortlichen zu sprechen. Danilo, der vom Lärm geweckt worden war meinte daraufhin, dass dies keine gute Idee wäre. Er bekam sofort Sprechverbot mit der Androhung mitgenommen zu werden, wenn er noch einmal frech würde.
Am nächsten Morgen ruft meine Frau auf dem Polizeirevier an und schildert den Vorfall. Die besagten Kollegen haben gerade frei. Man versprach, mit ihnen darüber zu sprechen. Eine Woche später erscheint tatsächlich der damals verantwortliche Beamte für die nächtlichen Polizeistreifen bei uns im Heim, um sich zu entschuldigen. Er sitzt in unserem Büro, dreht verlegen seine Polizeimütze zwischen den Händen hin und her und macht einen sehr zerknirschten Eindruck.




Vorweihnacht und Jahreswechsel
Laut Kalender befinden wir uns schon in der Mitte des Dezember 1997. Gerade war eine Familie bei uns, die mit einer bemerkenswerten Regelmäßigkeit schon seit 1992 zu jedem Weihnachtsfest eine Spende vorbeibringen. Diesmal ist es Kaffee, Tee, Südfrüchte und einige Christstollen. Dazu noch 100 DM in bar. Im Briefkasten steckte noch eine anonyme Spende von 50 DM. Vor 2 Tagen war der Geschäftsführer des ortsansässigen ALLKAUF-Marktes bei uns. Neben einem riesigen Präsentkorb hatte er eine ganze Ladung Haushaltsgegenstände, wie Töpfe, Pfannen, Geschirr und Elektrogeräte mitgebracht. Auch solche Sachen können wir als täglichen Bedarf sehr gut gebrauchen. Das Highlight war ein elektrischer Wäschetrockner. Diesen haben wir im Heizraum aufgestellt, damit er nur unter Aufsicht benutzt werden kann. Ein solches Gerät hatten wir uns schon immer gewünscht. Viele Berber, die bei uns übernachteten, besaßen nur das, was sie am Leibe trugen. So konnten sie innerhalb kürzester Zeit ihre Sachen waschen und trocknen.

Für den diesjährigen Jahreswechsel sind Spenden gerade besonders wichtig. Bisher hatten wir den nötigen finanziellen Rückhalt für Weihnachts- und Silvesterfeier plus Geschenke unter anderem durch einen Trödelstand auf dem Weihnachtsmarkt erwirtschaftet. Dieses Jahr musste das leider ausfallen. Unser Stand war aus Altersgründen in sich zusammen gefallen. Diese Misere hatte sich aber herumgesprochen und von einer solchen Unterstützung durch die Bevölkerung hätten wir nicht zu träumen gewagt. Schon Anfang Dezember besuchte uns ein älteres Ehepaar und brachte etliche Lebensmittel mit. Als sie nach einer längeren Unterhaltung das Haus wieder verließen, entdeckte meine Frau noch einen Umschlag dazwischen. Sie öffnete ihn. Es steckten 500 DM darin.

Der 24. Dezember liegt schon in greifbarer Nähe. Plötzlich eine Hiobsbotschaft: Der Weihnachtsmann ist krank geworden. Nun ist guter Rat teuer. Meine Frau und ich haben dieses Weihnachten frei und wir fahren zu unseren Kindern nach Baden-Württemberg. Die andere Hälfte unseres Teams, Frau W., Frau H. und der Zivi sind nun an der Reihe. Sie teilen die 24 Stunden des Tages unter sich auf und haben das Fest zum Erfolg werden lassen. Hier die Eintragung im Heimtagebuch von Frau W. zum Abendverlauf:

„Nun ist der Heiligabend vorbei. Es war ein wunderschöner Abend. Alle hatten sich chic angezogen, nur ausgerechnet der Barry ist mir durch die Lappen gegangen. Erst als ich ihm sein Geschenk überreicht habe sah ich, dass er wieder seinen geliebten ausgewaschenen grünen Pullover anhatte. Dank dem tollen Gedicht „Jahresrückblick 1997“ von Mohrlie (das bin ich) kam richtig gute Stimmung auf.
Hier kurzer Ausschnitt davon, fast jeder Bewohner kam darin vor:

Der Frühling treibt draußen Knospen im Garten.
Die Frühlingsgefühle lassen nicht auf sich warten.
Amor verschießt Pfeile, er war wohl besoffen
und hat ausgerechnet den Barry getroffen.
Der hat sich sofort in die Daggy verknallt
und beschenkt sie mit Wein, den er selbst hat bezahlt.
Er durchsucht seine Sachen, um seine Zähne zu finden
um mit ihnen im Mund, ihr seine Liebe zu verkünden.
Endlich hat er sie als Füllung in seinen Schuhen gefunden,
da ist seine Daggy mit dem Schöni verschwunden.
Darauf denkt er sich, von der Nachricht betroffen:
Hätt' ich den Wein, ohne Zähne, lieber selber gesoffen!

Wir haben viel darüber lachen müssen. Brettl hat das Amt des Weihnachtsmanns übernommen. Er sah wirklich gut aus. Bis auf Danilo haben alle ihr Geschenk gern und dankend angenommen. Erst als jeder ein Geschenk hatte, wurde ausgepackt und alle waren zufrieden. Sveni hat sich über die Weste gefreut, das war richtig schön anzusehen. Frau L. genauso wie eben alle anderen auch. Nur Mecker-Mike hat leider gar keinen CD-Player um die erhaltene CD anzuspielen. Vielleicht ist es ja eine Anregung, sich mal einen anzuschaffen. Bis auf Danilo und Andreas waren alle gut bzw. sehr gut drauf. Danilo wollte mehrfach gebettelt werden, an der Bescherung teilzunehmen. Schließlich ist er dann doch gegen 18 Uhr in seinem Bett verschwunden. Da kann man nichts machen und vielleicht war es ja auch gut so.
Andreas kam zum Glück erst 20:30 Uhr. Er war angetrunken und wollte wie immer seine dummen Sprüche ablassen. Das habe ich aber nicht mitgemacht und ihm deutlich gezeigt, dass wir nicht bereit sind uns diesen Schwachsinn zum Weihnachtsabend anzuhören.
Das Weihnachtessen war hervorragend vorbereitet und hat sehr gut geschmeckt. Brita hat echt viel in der Küche geholfen. Sie hatte ja seit ihrer letzten Eskapade einiges gutzumachen. Als ich dann 20:45 Uhr nach Hause fuhr war ich froh, dass alles so gut gelaufen ist. Die Kollegin Frau H. war so lieb und ist extra zur Bescherung mit ihrer Tochter gekommen. Der Zivi war auch schon 19 Uhr da. Alle Mitarbeiter haben sich große Mühe gegeben – nur so war es möglich eine solch tolle Weihnachtsfeier im Heim zu veranstalten.“

Nun beginnt unser Dienst wieder. Bis jetzt sieht es so aus, als wenn wir Silvester allein feiern werden. Es haben sich bisher auf der Teilnehmerliste 2 Mann eingetragen. Das war allerdings fast jedes Jahr so. Viele hatten bis zum Schluss die Hoffnung von irgendjemand eingeladen zu werden, bei dem sie sich tüchtig einen hinter die Binde kippen können. Am 31.12. früh standen plötzlich 14 Leute auf der Liste. Bei den meisten hatte sich diese Hoffnung wieder nicht erfüllt. Unser Zivi schmückt mit Brettl gemeinsam den Speiseraum. Girlanden und Luftschlangen sind noch von letztem Silvester auf dem Boden eingelagert. Danilo hat seine Depri-Phase nun auch überwunden und stellt seine Musikanlage auf. Meine Frau bereitet das Abendessen vor. Es gibt Nudelsalat mit Würstchen. Für die Silvesterfeier ist eine Pfirsichbowle angesetzt. Brita hilft in der Küche.

Alle haben gegessen. Nun kann die Feier beginnen. Ich habe mir ein Kreuzworträtsel ausgedacht, in dem die Lösungsworte aus von den Heimbewohnern verwandten Kraftausdrücken bestehen. Z.B.: 31 waagerecht – Dauerbackware mit unverdaulicher Rinde = Blechsemmel. Jeder bekommt einen Ausdruck des Rätsels und bemüht sich, dieses auszufüllen. Für die 5 besten dieses Wettbewerbs liegen kleine Preise bereit. Damit, und mit der anschließenden Preisverteilung sind wir der magischen Stunde des Jahreswechsels schon wieder etwas näher gekommen.

Danilo dreht seine Musik lauter. Er fordert meine Frau zum Tanz auf. Nach und nach beginnen auch andere zu tanzen. Das ist bei dem im Heim vorhandenen Männerüberschuss keine leichte Aufgabe. Zur Not tanzen eben auch einmal 2 Männer miteinander. Zwischendurch hören wir uns Sketsche vom Band an. Brettl ist in Hochform, was bisher selten vorkam. Er erzählte selbst Witze am laufenden Band. Alle waren am Morgen ernsthaft ermahnt worden, dass nur an der Feier teilnehmen darf, der nicht betrunken ist. Das hatte scheinbar gefruchtet. 23:45 Uhr wurde der Fernseher angeschaltet, um den Punkt des Anstoßens nicht zu verpassen.

01:30 Uhr lassen wir die Party dann ausklingen. Schnell noch das Gröbste aufräumen. Gegen 03:00 Uhr sind wir gerade bereit ins Bett zu sinken, da klingelt das Telefon. Ich hebe den Hörer ab. Am anderen Ende meldet sich der Betreiber eines Gasthofes in unserer Nähe. Er hat so viel vom kalten Buffet übrig und will uns einige Platten vorbeibringen. Natürlich sagt man dann nicht nein. Ich schlüpfe schnell wieder in meine Sachen, da kommt er auch schon auf den Hof gefahren. Nachdem ich alles im Keller verstaut habe, begebe ich mich wieder in unsere Wohnung. Da klingelt Enrico an der Tür. „Auf dem Hof stehen Leute, die verschiedene Salate bei uns abgeben wollen.“ Ich schließe die Küche auf. Enrico und Erik, die noch im Speiseraum sitzen, verstauen alles im Kühlschrank. 04:15 falle ich endlich in mein Bett.

Auf diese Art und Weise füllten sich unsere Lebensmittelvorräte wieder auf, alle Bewohner konnten essen bis der Bauch fast platzte und brauchten nichts dafür bezahlen. Am 03.01. kam dann noch der Hammer. Wir bekamen einen Anruf von einem Luxusdampfer aus Dresden auf dem die Veranstaltung „Riverboat“ immer stattfand. Die Saison ist beendet und sie müssen alle Kühlzellen abstellen. Wir könnten alle Lebensmittel kostenlos bekommen, nur müssten wir sie selbst abholen. Das lässt man sich doch nicht zweimal sagen. Ich fahre sofort mit meinem Privat-PKW dorthin und kann meinen Augen kaum trauen. Torten und Kuchen, exotisches Gemüse und Obst, zirka 50 Steaks, gefüllte Hühnerbrüstchen, verschiedene Pasteten, dann noch diverse Fleisch- und Wurstwaren und ein Sack Erdnüsse. Das alles vom Allerfeinsten. Ich belade mein Auto, angefangen vom Kofferraum, über die Rückbank bis hin zum Beifahrersitz. Das Auto sieht danach aus, als wäre es tiefergelegt. Wir haben im Keller 3 große Kühltruhen, jede 1,55 m lang. Trotzdem reicht der Platz nicht aus. Alles, was nicht eingefrostet ist, verteilen wir auf die Kühlschränke. Das wird dann auch zuerst zubereitet. Die Frostware, welche nicht mehr in die Truhen passt, fahre ich in die Catering-Küche unserer Betreiberfirma. Dort wird es erst einmal in der Kühlzelle für uns eingelagert, bis wir es verbrauchen können. Heute zur Vesper gibt es gleich Vanille-Sahne-Torte und zum Abendessen Steak mit Champignons und grünem Salat. Die Ware hat einen Gesamtwert von ca. 1.000 DM.



Wer den Schaden hat …
Heut ist der 02.07.1998. Ein Neuer mit Namen Lutz ist bei uns eingezogen. Nachdem er im Büro alle Formalitäten erledigt und sein Bett im Zimmer bezogen hat, geht er wieder hinaus auf den Hof in unsere Grillecke. Drei Mann sitzen dort schon. Er begrüßt sie und holt einen Beutel voller Bierdosen hervor. Das ist der Anfang von einer Kette von Ereignissen, die sich hier immer wieder abspielen. Dazu meine Eintragung ins Diensttagebuch:
Der Neue, der heute gekommen ist, hat in der Grillecke seinen Einstand gegeben. Zum Stammtisch gehörten Jacke, Freddy und Uwe. 21:30 Uhr habe ich zum Zapfenstreich geblasen. Jacke und Freddy waren noch einigermaßen fit. Der Neue war schlecht einzuschätzen. Er konnte noch sprechen und freihändig laufen, jedoch man hatte den Eindruck, dass er jeden Moment seine Hose verliert. In welchem Zimmer er wohnt, hatte er auch vergessen. Den Vogel hatte aber Uwe abgeschossen. Nachdem er in die Hose uriniert hat, haben seine Zech-Kumpane ihm ein Außenschläfer-Lager bereitet. Ca. 22:15 Uhr schlafwandelte er von der Grillecke in Richtung Haus. Da die Stufe von der Grillecke ihm etwas hoch erschien und er sich am Rande eines Schwimmbeckens glaubte beschloss er, es mit einem Kopfsprung zu versuchen. Er landete mit dem Gesicht im Splitt. Marco und Hotti, die das Ganze vom Fenster aus beobachtet hatten, eilten schnell zu ihm hin. Sie schleppten den auf dem Felde der Unehre Gefallenen dann bis zur nächsten Bank. Er sah aus, als käme er aus dem Kosovo vom Kriegsschauplatz. Ich habe sofort nach der Schnellen Medizinischen Hilfe gerufen. Diese haben das Getränkeunfall-Opfer nach einiger Überzeugungsarbeit dann mitgenommen.
Etwas später: Gerade kam ein Anruf aus dem Krankenhaus. Es besteht keine Veranlassung, Uwe dortzubehalten. Sie machten das Angebot für ihn ein Taxi zu bestellen, mit dem er zu uns ins Heim fahren kann. Ich lehnte dankend ab. Da dieser Weg sowieso umsonst wäre, er in diesem Zustand nicht ins Heim dürfte, muss er nicht noch das teure Taxi bezahlen. Es wäre doch schade um das viele Bier, das er davon noch kaufen könnte.

Am nächsten Tag hing dann folgender „Spruch der Woche“ an der Wandzeitung:
Der Badeunfall
Im Schwimmbad macht es sich ganz schön,
am Beckenrand herumzusteh'n.
Manch einer ist in kühnem Bogen
schon in das Wasser 'reingeflogen.
Der ganze Spaß wird jedoch Mist,
wenn Wasser nicht im Becken ist.

Der Uwe Schmidt ließ sich begeistern
von Büchsenbier und Jägermeistern.
Auf einmal fing er an zu lauschen,
denn plötzlich hört er Wasser rauschen.

Dabei hat er wohl nicht vernommen,
wo das Wasser hergekommen.
Das kam, und das passiert bei'm Saufen,
aus seiner Hose 'rausgelaufen.

Im Tran dacht' er, das passt mir gut,
da stürz ich mich gleich in die Flut.
Gesagt - getan, in hohem Bogen
kam schon der Uwe angeflogen.

Dabei bekam er nicht mal mit,
dass anstatt Wasser dort lag Splitt.
Da lag er nun, scheintot, im Staub,
sah aus, wie auf dem Fronturlaub.

Die Sanitäter sind gekommen
und ha'm den Uwe mitgenommen.
Und die Moral von der Geschicht':
Besaufe dich so sinnlos nicht!

Bankraub im Obdachlosenheim
Ende Juli 1998. Wir haben noch frei. Morgen fängt für uns eine Woche Dienst an. Unsere Kollegin hat gerade von einem Bewohner 370.- DM Schulden abkassiert. Sie ist noch dabei nachzuzählen, da kommt Herr H., ein ehemaliger Bewohner ins Büro. Freddy hatte bei ihm noch Schulden. Dieser stand auch dazu und unterschrieb einen Beleg, dass wir ihm die geschuldeten 19.- DM auszahlen können. Herr H. hat seinen Bruder als Verstärkung mitgebracht. Der fragt, ob er einmal die Toilette benutzen dürfe und lässt sich den Schlüssel geben. Plötzlich ertönt ein ohrenbetäubender Knall. Die Kollegin fährt zusammen. Im Nebenzimmer wohnt ein älterer Mann, der an 2 Krücken geht. Ist der vielleicht gestürzt? Ohne lange zu überlegen verlässt sie das Büro um nachzuschauen. Im Nebenzimmer ist aber alles ruhig. Da kommt der Bruder aus der Toilette und entschuldigt sich. Ihm sei aus Versehen der Toilettendeckel herunter gefallen und in 2 Teile zerbrochen. Er würde einen Neuen vorbeibringen. Beide Brüder verlassen daraufhin blitzartig das Haus. Die diensthabende Kollegin betritt wieder das Büro und traut ihren Augen nicht. Dort, wo die 370.- DM lagen, herrscht jetzt gähnende Leere.

Der Toilettendeckel weist einen deutlichen Schuhabdruck auf. Trotz unserer geringen kriminalistischen Grundkenntnisse können wir uns einen Reim darauf machen. Sie macht eine Anzeige bei der Polizei. Das bringt aber nichts. Schuld ist sie selbst, weil sie das Geld nicht unbeobachtet hätte liegenlassen dürfen. Wir vier Kollegen beschließen daraufhin, die Summe gemeinsam zu ersetzen. So wird es für jeden nicht ganz so teuer.

Zirka einen Monat später bekommen wir einen Anruf vom Arbeitsamt. Her H. bekommt eine Nachzahlung. Da er die Kontoänderung zu spät angegeben hat, geht das Geld noch auf unser Treuhandkonto. Sie schicken ihn zu uns, um das Geld hier gegen Quittung in Empfang zu nehmen. Es handelt sich um 370.- DM. War das ein Wink mit dem Zaunpfahl?

Wir beschließen, alle vier bei der Auszahlung anwesend zu sein. Der Beleg ist schon geschrieben, es fehlt nur noch seine Unterschrift. Die Tür des Panzerschrankes ist geöffnet. Herr H. tritt ein und trägt sein Verlangen vor. Ich lasse ihn den Auszahlungsbeleg unterschreiben. Dann geht alles sehr schnell. Der Beleg fliegt in hohem Bogen in den Geldschrank und dieser wird verriegelt. Im ersten Moment ist er sprachlos. Dann fragt er: „Wo bleibt mein Geld?“ „Das hast du dir vor einem Monat bereits abgeholt. Du hattest nur vergessen zu unterschreiben.“ Laut schimpfend verließ er unser Büro und ist nie wieder bei uns aufgetaucht.



Die zerbrochene Freundschaft

Einer, der des Öfteren schon bei uns war,
der Theo, der zog bei uns ein.
Er zog einen ganzen Rattenschwanz hinterher,
denn diesmal war er nicht allein.
Er hatte vom Eggi die Freundin gebumst,
ohne ihn vorher zu fragen.
Nun waren sie vor ihm auf der Flucht,
weil den Theo er wollte erschlagen.

Der Eggi jedoch sollte einfahr'n im Knast.
Er stand dort schon unter Vertrag.
Da gab's vorher noch 'nen Versöhnungstermin,
weil dem Theo so viel daran lag.
"Oh Eggi, oh Eggi, verzeih mir doch bloß.
Du warst doch mein bester Kumpel.
Wir gingen zusammen durch dick und durch dünn.
Vergiss doch das blöde Gerumpel.
Wenn du willst, gebe ich dir die Antje zurück.
Das wäre doch gar nicht so schlecht.
Außerdem habe ich nach deutschem Gesetz,
ja doch ein Rückgaberecht."

Der Eggi saß ganz zerknirscht im Büro,
riss einzeln sich aus die Haare.
Und es durchzuckte sein Gesicht,
die Erinnerung an alte Jahre.
Er sprach: "Oh Theo, die Freundschaft ist aus. Zwischen uns ist nichts mehr beim Alten.
Du bist in Zukunft mein Kumpel nicht mehr
und die Antje, die kannst du behalten."
In jedem Kaufhaus steht geschrieben:
Rückgaberecht gibt's überall,
wenn die Ware in der Verpackung geblieben
und das war hier weiß Gott nicht der Fall.

Mitte August 1998. Das Telefon läutet. Am anderen Ende der Leitung meldet sich Eggi. Wir kennen ihn noch nicht persönlich, aber im einschlägigen Milieu unserer Stadt ist er eine bekannte Größe. Er bittet darum, im Beisein von uns noch einmal eine Aussprache mit seinem Ex-Freund Theo zu führen, bevor er in den Strafvollzug einfährt. Wir vereinbaren einen Termin, müssen diesen nur noch mit Theo absprechen.

Theo kennen wir schon lange. Er war im Laufe der Jahre schon öfter im Heim eingezogen. Der Arbeit war er nicht sehr zugetan, dafür umso mehr dem Alkohol und der holden Weiblichkeit. Er hatte uns Anfang des Monats mitgeteilt, dass er wieder eine Unterkunft benötigt, dieses Mal zusammen mit einer Frau und 2 Kindern. Nun mussten wir ein freies Zimmer schaffen. Durch einige Umbelegungen bekamen wir das hin. Da kamen sie auch schon an, Theo und Antje mit 2 kleinen Mädchen im Schlepptau. Eigentlich hatte sie 5 Kinder, aber 3 befanden sich gerade in einem Ferienlager. Kein Gepäck und keine Kleidung dabei, nur was sie am Leib tragen. Das erste Gespräch in unserem Büro ergab folgendes: Antje war eigentlich die Lebensabschnitts-Gefährtin von Eggi. Weil das aber so eintönig war, zog später Theo mit in ihre Wohnung. Er war mal wieder obdachlos geworden. Damit die Sache richtig rund wird, nahmen sie auch noch einen, im Milieu als Dr. Friedl bekannten Alkoholiker mit auf. So lebten sie dann, 4 Erwachsene und 5 Kinder, auf Basis einer Kommune in der kleinen Wohnung. Eggi war wieder einmal, wie schon öfters, mit dem Gesetz in Konflikt geraten und musste nun am 17.08. seine Gefängnisstrafe antreten. Darüber war er so frustriert, dass er seine außerehelichen Pflichten gegenüber Antje stark vernachlässigte und dafür mehr dem Alkohol zusprach. Theo, wie immer hilfsbereit, nahm ihm diese gern ab, nur hatte er sich nicht mit Eggi abgesprochen. Als er dieses mitbekam, warf er Antje und Theo samt Kindern aus der Wohnung, verwüstete diese und drohte mit Mord und Totschlag.

Am nächsten Tag fuhren wir zusammen mit Antje zu Eggis Wohnung, um ihre persönlichen Sachen zu holen. Niemand war da und die Tür ist verschlossen. Antje nimmt das nicht tragisch. Die Wohnung liegt im Erdgeschoss und ein Fenster ist eingeschlagen. Sie kletterte zum Fenster hinein und öffnete die Tür von innen. In der Wohnung sah es aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Im Schlafzimmer lag der Fußboden voller verkohlter Textil-Überreste. Andere Bewohner des Hauses gesellten sich dazu. Das wäre nicht weiter schlimm, Eggi hätte nur die Bettwäsche angezündet. Ansonsten scheinen sich die Leute hier recht gut zu verstehen. Sie erzählten, dass die Polizei hier ein und ausgeht. Die Mietschulden für die Wohnung betragen nur 2500 DM. Alle sind miteinander per Du, eben eine Hausgemeinschaft. Wir fühlten uns, wie in einem Horror-Film. Die armen Kinder…

5 Tage darauf zog auch Dr. Friedl bei uns ein. Er erklärte uns, er hätte 8 Semester Medizin studiert, dann hätte er seinen Doktor gemacht. Da man ihm hinterhältiger Weise seine Approbation streitig gemacht hätte, wäre jetzt sowieso alles egal. Nun sind fast alle Kumpels wieder beieinander, es fehlt nur noch Eggi. Am nächsten Tag kam eine Mitarbeiterin des Jugendamtes zu uns. Sie will die Einweisung der Kinder in ein Heim in die Wege leiten. Antje erklärte sich einverstanden.

Heute ist es nun soweit. Eggi steht vor der Tür. Er ist sogar nüchtern. Wir lassen ihn ins Büro ein und bitten den Theo dazu. Die Aussprache zieht sich über 3 Stunden hin und ist herzzerreißend. Theo macht das Friedensangebot, die Antje zurückzugeben. Dafür soll ihm aber Eggi als bester Kumpel erhalten bleiben. Er weint fast dabei. Eggi bleibt aber hart. Die Antje will er nicht zurück haben und die Freundschaft ist beendet. Zum Schluss gibt er seinen Wohnungsschlüssel bei uns ab, damit die Antje nach seinem Umzug in die JVA diese aufräumen und wieder dort einziehen kann,

Eggis Umzug ging problemlos über die Bühne. Die zweite Hälfte des Monats verbringt Antje damit, die Wohnung zu entmüllen. Dr. Friedel hilft ihr tatkräftig dabei, benötigt dazu aber etliche Promille. Theo bleibt meistens lieber bei uns im Heim. Er muss sich ausruhen. Wenn Antje anwesend ist, kümmert sie sich kaum um ihre Kinder. Sie sitzt lieber in der Grillecke und trinkt mit den anderen Bier. Wird ein Kinderarzt wegen Krankheitserscheinungen benötigt, ist das unsere Aufgabe. Hoffentlich zieht sich das mit dem Kinderheim nicht so lange hin.

Am Monatsende ziehen alle, Antje und die Kinder, Theo und Dr. Friedl wieder in ihre alte Wohnung. Die Kommune 1 ist wieder fast komplett, nur Eggi ist ausgetreten.

Erlebnis am Geldtag
Anfang März 1999. Wir sitzen in unserem Büro und machen die Abrechnung für den vergangenen Monat. Da klingelt das Telefon. Meine Frau nimmt der Hörer zur Hand. Es meldet sich eine freundliche Dame aus dem Einwohner-Meldeamt. Sie vermittelt einen ganz verzweifelten Eindruck. „Entschuldigung, wohnt bei ihnen ein Herr G. W.?“ „Ja, der ist bei uns wohnhaft. Was gibt es mit ihm für Probleme?“ „Er steht schon eine halbe Stunde bei mir im Zimmer und ich begreife nicht, was er von mir erwartet. Er stößt merkwürdige Laute aus, bedient sich einer mir unverständlichen Zeichensprache und schiebt mir ständig Zettel zu, auf denen so etwas wie 900 DM gekrakelt ist.“ Meine Frau muss nicht lange darüber nachdenken. Der Mann, der dort steht, ist unser Barry. Im Normalzustand kann man mit viel Phantasie verstehen was er möchte. Ist er aber volltrunken, dann bekommt er kein einziges Wort heraus. Es ist Monatsanfang. Barry will seine Rente abheben, hat aber das Meldeamt mit der Sparkasse verwechselt. Meine Frau klärt die verzweifelte Dame auf und diese schickt ihn auf die Sparkasse.
Es ist bereits später Nachmittag, da klopft es an der Bürotür. Herein kommt eine Hand mit einem Blumenstrauß, der nur noch aus kopflosen Stielen besteht. Dann noch eine zweite Hand mit einem schmutzigen Briefumschlag. Der beinhaltet das Geld für Miete und Verpflegung. Barry lässt alles aus der Hand fallen, dreht sich wortlos um und verschwindet schwankend vom Hof in Richtung „die Acht“. Das ist ein berüchtigtes abbruchreifes Haus, in dem Barrys Bruder, sein Neffe und noch einige andere wohnen. Diese warten am Renten-Zahltag schon immer auf ihn, um die Rente dann gemeinsam zu versaufen. Seit einiger Zeit hat Barry es sich zur Angewohnheit gemacht, das Geld für Miete und Verpflegung schon vorher bei uns abzugeben, weil das sonst auch mit draufgeht.
Am späteren Abend kommt Barry, nur in Strümpfen, wieder auf unseren Hof gewankt. Die Schuhe hatten sie ihm weggenommen, weil das Geld noch nicht alle war. Er hält die rechte Hand weit von sich. Blut quillt daraus hervor. Mühsam stammelt er: „Rooolllfie, Rooolllfie!“ Auch das gehört schon zum monatlichen Ritual. Rolfie, der Schäferhund seines Bruders, hat ihn wieder gebissen. Letztes Mal war es die linke Hand. Der Hund ist dort im Hof angekettet und hat viele schlechte Erfahrungen mit Betrunkenen gemacht. Deshalb beißt er sie immer. Meine Frau verbindet ihm die Hand, ruft ein Taxi und schickt ihn ins Krankenhaus.
Am nächsten Morgen ruft der Arzt aus der Klinik an. Wir sollen zu dem Hundehalter gehen und herausfinden, ob der Hund gegen Tollwut geimpft ist. Wenn nicht, sollen sie mit ihm zum Tierarzt gehen. Diese weigern sich, was vorauszusehen war. Also sollen wir Barry nach Dresden zu einem bestimmten Arzt schicken, um gegen Tollwut geimpft zu werden. Wir schreiben alles auf ein Blatt Papier, rufen wieder ein Taxi und sagen dem Chauffeur, wo er ihn hinfahren soll. Ein paar Stunden später kommt Barry zurück. Er wurde nicht geimpft, hat aber eine schriftliche Aufforderung mitbekommen, den Hund bei einem Tierarzt vorzustellen. Außer Spesen, nichts gewesen.
Der Kreislauf-Kollaps
Erster April 1999. Anwohner unserer Straße klingeln im Büro Sturm. Ein Bewohner unseres Hauses liege einige Häuser weiter im Gebüsch und könne nicht mehr aufstehen. Sie hätten schon die Polizei angerufen. Wir machten uns auf den Weg. Schon von weitem sahen wir am Straßenrand einen kleinen Menschenauflauf. Gegenüber der berüchtigten „Acht“ befindet sich ein völlig mit Gebüsch zugewachsenes, verwahrlostes Grundstück. Dort liegt mitten im Müll ein nur mit einem Schuh bekleideter, uns bekannter Mann. Es ist unser Dr. Friedl.
Dieser war vor einem dreiviertel Jahr bei uns ausgezogen, um mit Theo und seiner Familie in einer Wohnung zu leben. Sein Traum war damals, dort die Stelle eines Butlers und Hausarztes einzunehmen. Das ging aber nur ein paar Wochen gut. Wegen Unstimmigkeiten bei der Bierverteilung setzte Theo ihn wieder an die Luft und er kam zurück ins Heim.
Unser erster Gedanke: Getränkeunfall! „Nein, nein, das ist es nicht. Ich habe nur 1 Bier getrunken. Es ist eine Kreislauf-Schwäche. Bestimmt habe ich eine Rückenmarksverletzung und werde vielleicht querschnittsgelähmt. Dann muss ich mit einem Rollstuhl fahren.“ Meine Frau versuchte ihn zu beruhigen. „Dann ist es doch aber für Sie einfacher, das Bier vom Geschäft bis zu uns auf den Berg zu transportieren. Sie müssen dadurch nicht mehr so schwer tragen.“ In der Zwischenzeit trifft ein Streifenwagen der Polizei ein. Ein Polizist begrüßt den Doktor wie einen alten Bekannten. „Hallo Dr. Friedl! Es waren wohl wieder mal ein paar Bier zu viel?“ Dieser verneint das natürlich und der Beamte ruft die Notsanitäter. Mit Blaulicht und Sirene kommen diese angefahren. Wieder eine herzliche Begrüßung. „Hallo Dr. Friedl! Wir haben Sie seit einer längere Zeit nicht mehr gesehen und hatten schon Angst, es wäre mit Ihnen etwas nicht in Ordnung.“ Einer der Sanitäter untersuchte ihn, dann legten sie ihn auf die Trage und ab ging es in die Klinik. Der Beutel mit den restlichen Bierdosen musste natürlich mit.
Spät am Abend ein Anruf aus dem Krankenhaus: Dr. Friedl hat sich auf eigene Verantwortung entlassen und ist auf dem Weg ins Heim. Er hatte bei der Einlieferung 4,8 ‰, also noch Blut im Alkohol. Ohne Rollstuhl macht er sich auf den Weg, aber mit dem Bierbeutel in der Hand. Die restliche Nacht verbringt er im „Stauraum“. Am Morgen geht es ihm schon wieder besser. Er macht sich auf die Suche und findet seinen fehlenden Schuh. Zurück kommt er mit einem Blumenstrauß. Er übergibt ihn meiner Frau und entschuldigt sich bei ihr. Ein Doktor hat eben Manieren.
Der Ausbau des Dachbodens
Mitte April 1999. Es fehlt ständig an Platz um all die Dinge unterzubringen, die wir einlagern müssen. Immer wieder verschwinden Bewohner sang- und klanglos ohne sich abzumelden und hinterlassen all ihre persönlichen Gegenstände und Unterlagen. Mitunter tauchen sie dann nach langer Zeit wieder auf und fordern ihr Hab und Gut zurück. Die leeren Plätze müssen wir aber wieder mit Neuankömmlingen belegen. Deshalb muss das alles ausgeräumt und irgendwo eingelagert werden. Einen Stauraum im eigentlichen Sinne haben wir schon lange nicht mehr, da dieser zum Übernachtungsraum für diejenigen die noch ein wenig Blut im Alkohol haben, umfunktioniert worden ist. Oberhalb des 2. Stockwerks befindet sich noch ein Spitzboden. Den kann man über eine Falltür an der Decke betreten. Dort kann man aber nur vorsichtig über Holzbalken balancieren und nichts abstellen. Zwischen den Balken befindet sich nur Dämm-Material. Wer dort einmal daneben tritt läuft Gefahr, durch die Decke zu brechen und im darunterliegenden Stockwerk zu landen.
Unsere Idee ist, die Balken mit Brettern zu belegen und dadurch einen begehbaren Fußboden zu schaffen. So etwas kostet aber auch Geld. Wir treffen uns mit dem Geschäftsführer unseres Betreibervereins und stellen ihm unsere Idee vor. Er ist davon sehr angetan. Er stellt uns 400,00 DM für Material zur Verfügung, die wir von unserem Spendenkonto nehmen dürfen. Die Arbeitsleistung soll in Eigeninitiative vollbracht werden. Auf unsere Anfrage melden sich 5 Bewohner die sich bereit erklären, diesen Auftrag auszuführen. Sören K. will die anderen bei der Arbeit anleiten, da er gelernter Zimmermann ist. Grundbedingung ist natürlich – kein Alkohol in dieser Zeit. Zum Materialankauf kommen wir nicht mehr, da unsere lange geplante Urlausreise beginnt. Unser privates Werkzeug stellen wir zur Verfügung.
Unsere 2 Kolleginnen und der Zivi übernehmen das Weitere. Ein Baumarkt wird ausgesucht und dort eine entsprechende Menge von Dielenbrettern zur Anlieferung bestellt, nicht ohne vorher die Preise bei den verschiedenen Märkten zu vergleichen. Das Material wird angeliefert und die Arbeit läuft ohne Zwischenfälle wie am Schnürchen.
Unser Urlaub ist zu Ende und wir sind wieder vor Ort. Wir sehen uns den Dachboden an und sind hell begeistert. Binnen 3 Tagen haben die 5 Bewohner die Arbeit fertiggestellt. Es wurde sauber gearbeitet und das Holz hat sogar noch für einige Regale gereicht. Dort können dann die eingelagerten Habseligkeiten der Vermissten einsortiert werden. Zur Einweihung wird im Hof eine Grillfete veranstaltet und die fleißigen Amateurhandwerker brauchen zum Dank für Essen und Trinken nichts bezahlen.
Die Blumenkästen
Der Juni neigt sich langsam dem Ende entgegen. Wir hatten die Wahnsinnsidee, die Fenster des Heimes mit Blumenkästen zu verschönern. 20 Stück hatten wir aus Spendenmitteln bereits gekauft. Nun waren wir schon eine Weile auf der Suche nach Blühpflanzen, die möglichst preisgünstig zu erwerben sind. Heute führt uns der Weg zu einer, über die Stadtgrenze hinaus bekannte Gärtnerei. Dort tragen wir unser Anliegen vor, immer darauf bedacht dass unsere Geldmittel sehr begrenzt sind. Die Verkäuferin hört sich alles an und führt uns dann in einen Nebenraum. Dort arbeitet der Besitzer dieser Gärtnerei. Ein paar erklärende Worte der Verkäuferin und er macht uns ein wahnsinnig überraschendes Angebot. „Bringt eure Blumenkästen zu mir, ich befülle sie mit Erde und bepflanze sie. Wenn ich damit fertig bin, bringe ich sie mit meinem Transporter bei euch vorbei. Bezahlen braucht ihr nichts, es soll eine Spende von mir an euer Obdachlosenheim sein.“ Wir sind wie vom Donner gerührt. Eine solche Antwort haben wir nicht erwartet. Die leeren Kästen bringen wir noch am gleichen Tag hin.

Zirka eine Woche ist vergangen, das fährt ein Transporter mit der Aufschrift Gärtnerei N. auf unseren Hof. Der Fahrer öffnet den Laderaum und die eilig zusammengetrommelten Bewohner nehmen einen nach dem anderen die bepflanzten Blumenkästen in Empfang. Ein herzliches Dankeschön und schon ist er wieder fort. Nun werden die Kästen an den Fenstern beider Etagen verteilt. Es ergibt ein wunderbares Bild. Eine solche Zusammenstellung schafft eben kein Laie. Dazu muss man ein geborener Florist sein. Zur Liste der wöchentlichen Revierreinigungen kommt ab sofort ein Posten dazu. Je eine Woche lang ist ein festgelegter Bewohner dafür verantwortlich, die Pflanzen zu gießen. Einige Nachbarn beneiden uns um diesen Anblick. Jetzt sieht unser Haus nicht mehr wie ein Obdachlosenheim aus. Es gleicht eher der Schwarzwald-Klinik.

Die Spende sämtlicher Blumenkästen des Obdachlosenheimes wurde zur Tradition. Bis zum Endes des Heimes 2012 bepflanzte die Gärtnerei alljährlich die Blumenkästen völlig kostenlos.
Neuer Skandal im Obdachlosenheim
Montag, der 6. September 1999. Am frühen Nachmittag spricht uns auf dem Hof eine junge Frau an. Sie stellt sich als Journalistin der Dresdner Morgenpost vor und möchte doch einmal mit der Heimleitung sprechen. Wir wunderten uns nicht weiter darüber, kamen doch oft Zeitungsmitarbeiter bei uns vorbei, um mehr über das Leben in einem Obdachlosenheim zu erfahren. Wir gehen mit ihr in unser Büro. Dort eröffnet sie uns, dass 3 ehemalige Bewohner schwere Vorwürfe gegen die Heimleitung vorgebracht hätten. Es handelt sich dabei um René W. , Peter K. und Steffen K. Die Unterstellungen der 3 jungen Männer sind tatsächlich gravierend. René, der Wortführer der Drei behauptete, er hätte in unserem Auftrag im vorigen Jahr 6-mal säumige Schuldner aufsuchen müssen, um sie mit Hilfe von körperlicher Gewalt zur Zahlung ihrer Schulden zu bewegen. 3-mal wäre er erfolgreich gewesen. Peter bestätigte seine Vorwürfe. Des Weiteren behaupteten Peter und Steffen, wir hätten uns an den Lebensmittellieferungen der Dresdner Tafel bereichert. Wir hätten diese kostenlosen Lebensmittel an die Bewohner weiterverkauft. Lange sprechen wir noch mit der Journalistin über die 3 ehemaligen Bewohner, deren Werdegang bei uns und ihre mögliche Motivation für einen solchen, offensichtlichen Racheakt. Zum Schluss sagt sie uns, ihr wären diese Behauptungen auch nicht schlüssig vorgekommen. Deshalb wollte sie auch erst noch bei der Gegenseite nachfragen. Noch in unserem Beisein ruft sie in der Redaktion an, um diesen Artikel nicht in Druck gehen zu lassen. Sie verabschiedet sich von uns.
Am nächsten Morgen können wir ausschlafen. Unser Wochendienst ist erst einmal beendet und wir haben frei. Da klingelt unser Telefon. Meine Frau hebt ab und ihr fällt fast der Hörer aus der Hand. Eine Bekannte ist am anderen Ende der Leitung und informiert sie über die heutige Schlagzeile in der Dresdner Morgenpost.

Daraufhin telefoniert sie mit unserem Geschäftsführer und vereinbart einen Termin mit ihm, um unsere Reaktion auf diese Verleumdung zu besprechen. Der Oberbürgermeister wird auch sofort informiert. Er versichert uns, dass er uns glaubt und voll hinter uns steht, rät uns aber, die Verleumder anzuzeigen. Das machen wir auch umgehend. Auf eine Nachfrage unsererseits, weshalb die Morgenpost nun doch diesen Artikel gedruckt hat erhalten wir die Antwort: Die 3 Männer hätten eine eidesstattliche Erklärung abgegeben, dass das alles der Wahrheit entspricht. Für uns drängte sich allerdings der Verdacht auf, hier eine Fortsetzung der Morgenpost-Schlagzeile von vor 5 Tagen gefunden zu haben.




René W. und Peter K. zogen bei uns im August 1998 ein. Zuerst kam René. Er machte von Anfang an den besten Eindruck auf uns. Nach eigenen Angaben hatte er mit Alkohol nichts im Sinn. Er hielt sich an alle Regeln im Heim und war auch anderen bei der Erledigung ihrer Aufgaben behilflich. Alles in Allem – ein Vorzeige-Heimbewohner. Eine Woche später, unsere Kollegin hatte gerade Dienst, zog Peter ein. Er stammte ursprünglich aus Berlin, hatte aber hier in der Gegend bei einem Freund gelebt. Unsere Kollegin hatte erst Zweifel, ob er tatsächlich bleibt. Er kam aber am nächsten Tag wieder und hatte tatsächlich alle Formalitäten vorbildlich erledigt. Die Zwei freundeten sich sofort an und zogen in ein gemeinsames Zimmer. Da unsere Kollegin vom Kochen nicht so sehr begeistert war, hat er auch des Öfteren für alle gekocht. Es hat auch immer gut geschmeckt. Anfang September ging es René gesundheitlich schlecht und er wurde ins Krankenhaus eingewiesen. Peter hatte seine gesamten Habseligkeiten in Berlin bei einem Freund eingelagert. Da wir sowieso in dieser Gegend privat etwas zu erledigen hatten boten wir ihm an, ihn in unserer dienstfreien Zeit dorthin mitzunehmen und die Sachen dort abzuholen. Er nahm das Angebot dankend an. Während der Autofahrt hatten wir genügend Zeit, uns mit ihm zu unterhalten. Er outete sich als schwul, was aber für uns noch nie ein Problem gewesen ist. Vollbepackt mit seinem Hab und Gut kamen wir wieder im Heim an.
Fast den ganzen September war René in der Klinik. Am letzten des Monats wurde er entlassen. Er sah sehr schlecht aus und erzählte, dass man ihm einen Teil seiner Niere entnommen hätte. Nun würde es ihm hoffentlich bald wieder besser gehen. Mit der Zeit konnte man auch den Eindruck gewinnen, es gehe mit ihm gesundheitlich wieder bergauf. Er war stets hilfsbereit und wenn irgendwo Not am Mann war, sprang er sofort ein. Alle Arbeiten, die im Heim anfielen, übernahm er freiwillig und erledigte sie zur vollen Zufriedenheit. Desgleichen Peter. Er hatte vorgegeben gelernter Koch zu sein und kochte des Öfteren für die gesamte Belegschaft ein leckeres Abendessen. Somit waren beide ein echter Gewinn für die Gemeinschaft. René ging es aber weiterhin gesundheitlich schlecht. Er gab vor immer wieder in die Klinik zu müssen. Nach einem dieser angeblichen Klinikaufenthalte kam er ins Büro und konnte die Tränen nur mit Mühe unterdrücken. Danach rannte er in sein Zimmer. Meine Frau lief ihm nach. Dort setzte er sich auf sein Bett und eröffnete ihr laut schluchzend, dass er Nierenkrebs hätte. Nur die Spende einer neuen Niere könnte ihm noch helfen. Eine solche Operation würde seine Krankenkasse aber nicht bezahlen. Nun wäre er endlich am Ziel seiner Wünsche angekommen, hätte eine Familie und Freunde gewonnen, aber eine zweite Chemotherapie würde er nicht noch einmal auf sich nehmen. Über diese Mitteilung waren wir sehr bestürzt. Es wurde im ganzen Haus sehr viel Rücksicht auf ihn genommen. Von den Reinigungsarbeiten wurde er weitestgehend ausgenommen. Immer wieder wurde er angeblich in die Klinik einbestellt.
Im Dezember gab er an, einen Job bei der Post angenommen zu haben. Da er dort Spätschichten ableisten müsse, bat er um einen Haustürschlüssel. Wir händigten ihm diesen auch aus. Den Rest des Jahres bekamen wir ihn nur selten zu Gesicht. Entweder er schlief oder er war auf Arbeit.
Anfang März kam es zwischen René und Peter zu irgendwelchen Meinungsverschiedenheiten und René zog zu Jan ins Zimmer. Jan absolvierte eine Berufsausbildung und benötigte ständige Motivation, diese erfolgreich zu Ende zu bringen. Wir hofften, René könnte einen positiven Einfluss auf ihn ausüben. Peter war seit Jahreswechsel dem Alkohol sehr zugetan. Das kannten wir bisher nicht bei ihm. Der erwünschte positive Einfluss von René auf Jan ließ auch sehr zu wünschen übrig. Das Verhalten von Jan wurde immer merkwürdiger. Er bummelte seine Lehre, war ständig mit René unterwegs und veränderte sich in seinem Wesen. Dann musste René wieder ins Krankenhaus.
Im Heim kochte die Gerüchte-Küche. Wir versuchten der Sache auf den Grund zu gehen. Auskünfte über den gesundheitlichen Zustand eines unserer Bewohner zu bekommen, ist eine sehr komplizierte Angelegenheit. Letztendlich kamen wir zu dem Ergebnis, René hat nie Krebs gehabt. Ihm wurde damals einfach nur ein Nierenstein entfernt. Bei einem Gespräch berichtete uns Peter, der gesundheitliche Verfall von René ist das Ergebnis seiner Drogensucht. Er konsumiert hauptsächlich LSD und Koks. Damit dealt er auch und verkauft die Sachen an Freddy, Jan, Sven und Steffen weiter.
Darauf angesprochen, veränderte sich das Verhalten von René mit einem Schlag. Er begann sofort uns zu bedrohen. Beweise hätten wir schließlich nicht. Würden wir der Polizei gegenüber etwas äußern, dann hätten wir sofort seine Drogen-Mafia auf dem Hals. Was die mit uns machen würden, könnten wir uns selbst ausrechnen. Eine Woche später zog René bei uns aus und nahm Jan gleich mit.
Der Alkoholkonsum von Peter nahm immer mehr zu. Ende April erwischten wir ihn bei dem Versuch, Alkohol ins Haus zu schmuggeln. Wie es in unserer Heimordnung steht, konfiszierten wir diesen. Daraufhin rastete er aus. Er würde uns anzeigen, wegen Diebstahl und Menschenrechtsverletzung. Es war kein vernünftiges Wort mehr mit ihm zu reden. Am 1. Juni zog auch er aus. Seitdem hörten wir nichts mehr von ihnen.
Nun auf einmal dieser Hammerschlag mit dem Presse-Artikel. Glücklicherweise können wir alle Vorwürfe ausnahmslos entkräften. Die Motivation von René und Peter ist uns sofort klar. Was Steffen allerdings bewogen hat bei diesem Komplott mitzumachen, ist uns erst einmal unklar. Er wohnte schon längere Zeit bei uns, war sehr einfach gestrickt und immer unauffällig. Am 1. Mai war auch er in eine eigene Wohnung gezogen. Trotzdem kam er noch regelmäßig ins Heim. Wir bekommen seit Längerem einmal in der Woche eine Lebensmittel-Lieferung der Dresdner Tafel. Die Lebensmittel kosten uns nichts, aber die Anlieferung müssen wir bezahlen. So waren wir mit den Bewohnern übereingekommen, dass wer diesen Service nutzen möchte pro Monat 5 DM dafür einzahlt. Steffen kam seit seinem Auszug immer noch jede Woche zu uns, um seinen Anteil an Lebensmitteln sich zu holen. Bezahlt hat er aber für die Belieferung nichts mehr. Die anderen Bewohner empfanden das als ungerecht und wir wiesen ihn darauf hin. Er aber sah dies nicht ein und stellte daraufhin die These auf, wir würden die kostenlose Ware an Bedürftige weiterverkaufen.
Als Reaktion auf den Zeitungs-Artikel rufen unabhängig voneinander 2 ehemalige Freundinnen bei uns an. Sie berichten, dass René diese Show bei ihnen auch schon durchgezogen hat. Er hatte auch Nierenkrebs und gab vor, sterben zu müssen. Außerdem sei er sehr gewalttätig gewesen, wenn etwas nicht nach seinem Willen lief. Eine von beiden soll er sogar in den Unterleib getreten haben.
Gut geschauspielert hat er jedenfalls und wenn er nicht gestorben ist, so leidet er wohl noch heute an seiner Krankheit.
Monate später bekommen wir Post von der Staatsanwaltschaft. Für unsere Anzeige besteht kein öffentliches Interesse. Wir sollen den Weg einer Privatklage beschreiten. Darauf haben wir dann verzichtet. Da dort nichts zu holen ist, wären wir auf den Kosten sitzengeblieben.
Die Jahrtausendwende
24. Dezember 1999. Wir, meine Frau und ich, haben dieses Jahr zu Weihnachten frei. Unsere Kollegin macht Dienst mit dem Zivi. Der Stress fängt gleich früh noch vor Dienstbeginn für sie an. Auf der Straße war über Nacht Blitz-Eis aufgetreten. Nur mit größter Vorsicht hatte sie es mit ihrem Auto bis vor unser Heim geschafft, da unser Haus hoch oben auf dem Berg liegt. Als sie das Auto verlässt sieht sie Dr. Friedl, der nur mit Hausschuhen bekleidet auf die abschüssige Straße hinausläuft. Dr. Friedl war im Sommer 1988 mit Theo und Antje aus dem Heim ausgezogen. Die Kommune 1, die sie damals gründeten, hatte aber keinen Bestand. Schon nach wenigen Wochen zog er wieder bei uns ein. Kaum hat er 2 Schritte auf die Straße gesetzt, zieht es ihm auch schon die Beine weg. Die Hausschuhe in Verbindung mit dem Blitz-Eis waren wohl doch nicht die passende Fußbekleidung. Unsere Kollegin will ihm aufhelfen. Er hat sich gleich mehrfach den rechten Arm gebrochen. Sie packt ihn in ihr Auto und fährt ihn ins Krankenhaus. Dort ist man hocherfreut, den Doktor wieder einmal zu sehen. Erstaunt ist man nur, dass diesmal bei seinem Unfall der Alkohol keine Rolle gespielt hat. Vielleicht wäre die Sache ja auch glimpflicher ausgegangen, wenn der Körper den gewohnten Grundpegel schon in sich gehabt hätte.
Am Nachmittag kommt Dr. Friedl mit dem Krankenwagen wieder bei uns an. Das Sozialamt hatte telefonisch für den Nachmittag 2 Berber angekündigt, damit sie an unserer Weihnachtsfeier teilnehmen könnten, bevor sie weiterziehen würden. Es wären sehr liebe Männer. Tatsächlich kommen Punkt 16:00 Uhr 2 Männer mit einem Taxi an. Der Eine erklärt, er wäre zu 100% geistig behindert. Er könne nichts, außer seinen Namen schreiben. Gesagt hat er das natürlich kurz und bündig. Er meint: „Ich bin dumm.“ Der Zweite ist stark angetrunken und pflichtet ihm bei. Beide sind sehr geruchsintensiv und haben mehrere Dosen Bier in den Jackentaschen. Diese werden erst einmal eingezogen. Beim Verlassen des Hauses werden sie diese zurückerhalten. Unsere Bewohner sind von dem Besuch nicht begeistert. Kaffee wird aufgetragen und Christstollen serviert. Die Stimmung ist gedrückt. Derjenige der 2 Berber, der seiner Meinung nach nicht dumm ist, setzt sich zur Kollegin an den Tisch und meint, mit ihr dienstliche Gespräche führen zu müssen. Er legt fest: „Den Dummen nehme ich nicht mehr mit. Den lasse ich bei ihnen im Heim.“ Der „Dumme“ will das aber nicht akzeptieren. Das Ganze zieht sich eine Weile hin. Dann erklärt die Kollegin die Weihnachtsfeier für beendet und packt für die Zwei noch einen Beutel mit Süßigkeiten zusammen. Unsere Heimbewohner werden immer mürrischer und brauchen lange, den Sinn dieser Prozedur zu begreifen. Erst als die Zwei endlich aufbrechen wird die Stimmung wieder besser. Alle werden wieder zusammengerufen und die Bescherung kann beginnen.
Eine Weihnachtsstimmung wie in anderen Jahren, wollte allerdings nicht aufkommen. Volker S., der Ende Oktober bei uns eingezogen war, hat am gleichen Tag auch noch Geburtstag. Somit wird er mit 2 Geschenken bedacht. Er ist völlig überdreht. Sylvia, seine derzeitige Lebensabschnitts-Gefährtin versucht aus der Weihnachtsfeier eine Sauf-Party zu machen. Auch wenn im Haus Alkohol nicht erlaubt ist hat man doch keinen Überblick, was außer Haus alles versteckt ist. So muss zum Nachtanken immer nur das Heim verlassen werden.
Sylvia zog im Mai dieses Jahres mit ihren 2 minderjährigen Töchtern bei uns ein. Schon bald bemerkten wir, dass sie mit der Erziehung ihrer Kinder total überfordert war. Sie kümmerte sich fast überhaupt nicht um diese. Ihre große Leidenschaft waren aber die Männer und der Alkohol. Zog ein Mann bei uns ein, war sie schon bald mit ihm verlobt. Das hielt dann immer so lange, bis wieder ein neuer Mann kam. Die 2 Mädchen waren dagegen sehr vernünftig. Sich um ihre schulischen Angelegenheiten zu kümmern, ihre Schulbrote zu machen und bei Krankheit einen Arztbesuch zu organisieren, war allein unsere Aufgabe. Wir hatten des Öfteren mit ihnen über ihre Situation gesprochen. Sie waren damit einverstanden, in das örtliche Kinderheim zu ziehen. Daraufhin setzten wir uns mit dem Jugendamt in Verbindung und Anfang August ging dieser Umzug dann vonstatten. Sylvia war darüber nicht traurig. Schon im September hatte sie sich dann mit Kay verlobt. Diese Verlobung ging dann im Oktober zu Bruch, als Volker bei uns einzog.
Volker und Sylvia mischen die Stimmung immer mehr auf. Am liebsten würde unsere Kollegin die beiden außer Haus schicken. Der einzige Hinderungsgrund: Sylvias 2 Töchter sind über die Feiertage bei ihrer Mutter zu Besuch. Also bleibt ihr weiter nichts übrig, als zu versuchen den Alkoholgenuss in Grenzen zu halten und den Heiligabend friedlich zu Ende zu bringen. Schließlich gelingt ihr das auch. Erfreulich war, dass einige sich über ihre Geschenke sehr gefreut haben. Scheuerchen war so begeistert, dass er sie sogar ganz innig geküsst hat. Sie fragt sich nur, steht so etwas auch im Arbeitsvertag?
Die Weihnachtsfeiertage sind vorbei und für uns ist nun wieder Dienstbeginn. Nach einer Dienstübergabe, auf der alle Vorkommnisse besprochen werden, geht unsere Kollegin in ihr verdientes Frei. Viele Anrufe kommen von Gaststätten und Privatpersonen. Alle haben irgendwelche Lebensmittel abzugeben, die von den Feiertagen übriggeblieben sind. Es ist wirklich mehr, als man gebrauchen kann. Angebote abzulehnen macht aber keinen guten Eindruck. Dann heißt es meist, die haben es wohl nicht nötig. Also fahre ich erst einmal viel in der Gegend herum, um alles einzusammeln. Was zu viel ist, versuchen wir dann an andere Bedürftige weiterzureichen.
Martin hat uns einen Tipp gegeben, was nachts im Haus so alles vorgeht. Wir werden der Sache einmal nachgehen. Es ist nachts 23:00 Uhr. Wir schließen das Büro ab und gehen in unsere Wohnung. Von da an haben wir bis früh nur noch Bereitschaftsdienst und müssen ansprechbar sein, falls in der Nacht etwas passiert. Ich schleiche mich wieder nach unten und verstecke mich im Büro. 0:30 klopft es leise an der Haustür. Durch das Fenster sehe ich Brettl draußen stehen. Er hat einen vollen Plastikbeutel in der Hand. Brettl lebt von Sozialhilfe und auf Grund seiner Alkoholsucht stets in Geldnot. In der Hierarchie der Heimbewohner steht er ziemlich weit unten. Für ein Bier ist er gern bereit, illegale Botengänge für andere Bewohner zu übernehmen. Im Speiseraum sitzen noch Uwe und Volker. Volker öffnet die Haustür und die Dosen werden verteilt. Für sie völlig unerwartet, öffne ich die Tür des Speiseraums. Volker und Uwe haben ihr Bier schon zur Hälfte ausgetrunken. Brettl ist gerade dabei, den Lohn für seinen Botengang zu öffnen. Den Augenblick der Überraschung nutzend, sammle ich alle Dosen ein und entleere sie in der Toilette. Alle Drei bekommen für diese Nacht den Stauraum zugewiesen. In der Zwischenzeit befindet sich Sylvia in Volkers Bett. Martin, Volkers Mitbewohner ist ausquartiert worden. Er soll, wie schon seit geraumer Zeit, die Nacht im Speiseraum verbringen. Als sie die Hiobsbotschaft erfährt beschließt sie, sich freiwillig ihrem Verlobten anzuschließen und mit ihm in die Welt zu ziehen. Uwe und der Bierlieferant verbringen die Nacht allein im Stauraum.
Der letzte Tag des Jahrtausends ist angebrochen. Nach dem Frühstück wollen wir mit den Vorbereitungen für die Silvesterfeier beginnen. Fast alle Bewohner, die uns sonst bei derartigen Gelegenheiten eine Hilfe waren, haben in diesem Jahr beschlossen auswärtig zu feiern. Es bleiben nur die, die sonst keiner haben will. Also wird es eine kleine Runde. Da kommt Sveni zu uns mit der Meldung: Der Falki liegt tot in seinem Bett. Sein Zimmergenosse Barry hat immer auf ihn gezeigt, dann sich mit der flachen Hand über die Kehle gefahren und das Wort „SENSE“ hervorgestoßen.
Falki lebt schon seit April 1998 bei uns. Er war ein sehr schwieriger Charakter. Als er einzog gewöhnte er sich nur widerwillig an die hier herrschenden Gegebenheiten. Es war ihm ein Grauen zu duschen, entsprechend stark war sein Eigengeruch. Keiner wollte mit ihm sein Zimmer teilen. Dazu kam, dass er gehbehindert war. Er konnte nur an 2 Krücken laufen. Deshalb mussten wir im gesamten Hausflur Geländer an den Wänden befestigen, damit er im Haus ohne Gehhilfen laufen konnte. Langsam gewöhnte er sich aber bei uns ein. Seit einiger Zeit lief es recht gut. Er bewohnte gemeinsam mit Barry ein Zimmer im Erdgeschoss. Dieser war heute schon sehr früh aus dem Haus gegangen und hatte den Todesfall gar nicht bemerkt. Es muss wohl in der Nacht passiert sein, denn er war schon ganz kalt. In der Zwischenzeit kam Barry, wie immer stark alkoholisiert, von seinem Morgenausflug zurück.
Jetzt heißt es, die Gedanken zusammen zu nehmen und die nötigen Anrufe zu tätigen. Meine Frau ruft den Notarzt an. Dieser stellt bei ihm einen unerklärlichen Todesfall fest. Aus diesem Grund muss noch ein zweiter Arzt, der eine Totenschau macht, hinzugezogen werden. Bis dieses geschehen ist, darf keiner das Zimmer betreten. Das kann jedoch eine Weile dauern. Barry fühlt sich rechtschaffen müde und will in sein Bett. Dass er nicht gemeinsam mit dem toten Falki in einem Zimmer schlafen darf, leuchtet ihm nicht ein. Mit viel Überzeugungskraft gelingt es uns schließlich, ihn vorläufig in einem anderen Zimmer unterzubringen. Der zweite Arzt kommt und stellt bei der Totenschau, bei der meine Frau anwesend sein muss, einen natürlichen Tod fest. Nun muss das Bestattungsinstitut gerufen werden. Das Leichenauto kommt in den Hof gefahren. Zwei Bestatter in schwarzen Anzügen tragen einen Sarg in Falkis Zimmer. Dort richten sie ihn ordentlich her. In der Zwischenzeit kommt Uwe vom Nachtanken zurück. Da sein Tank übervoll ist, muss er sich neben der Haustür auf die Strafbank setzen um einigermaßen auszunüchtern. Das schwarze Auto steht gleich neben der Bank. Die Bestatter tragen Falki im offenen Sarg aus dem Haus, setzen diesen im Laderaum ab, nehmen ihre Mützen in die Hand und verneigen sich. Uwe missversteht diese Geste. Er steht ebenfalls auf, setzt seine Pudelmütze ab und verneigt sich vor den Bestattern. Dann murmelt er: „Einen guten Rutsch ins neue Jahr!“

Sylvia und Volker beschließen außerhalb zu feiern, was wahrscheinlich in ihrem derzeitigen Zustand eine gute Idee ist. So bleiben letztendlich noch 12 Leute, die an unserer Silvesterfeier teilnehmen. Es ist kein herausragender Event, aber es läuft wenigstens ruhig und gesittet bis zum Schluss ab. Punkt 0:00 Uhr erheben wir gemeinsam unser Glas auf Falki. Prosit Neujahr 2000!
Anfang des neuen Jahres ziehen Volker und Sylvia in eine gemeinsame Wohnung. Die Kinder bleiben im Heim. Dort gibt es dann für sie kein Halten mehr. Es wird gewaltig exzessiv dem Alkohol zugesprochen. Einige Monate später ist Sylvia tot. Falkis Beerdigung findet Mitte des Monats in seiner Heimatgemeinde statt. Der Pfarrer fragt bei uns an, ob wir, meine Frau und ich, daran teilnehmen würden. Ansonsten würde ja niemand der Urne hinterherlaufen. Wir sagen zu. Auch Barry und Holy kommen mit. Auf dem Friedhof sind wir vier tatsächlich mit der Pfarrerin ganz alleine. Nicht einmal Falkis angeblicher Freund aus dem Dorf und seine Betreuerin sind da. Im Heim hatten wir vorher noch eine Geldsammlung veranstaltet. 65 DM kamen zusammen. Davon haben wir ein Blumenkissen für das Grab gekauft. Das ist der einzige Blumenschmuck auf diesem Begräbnis. Die Pfarrerin erbarmt sich noch und hat ein paar Worte am Grab gesprochen.
Am 7. Januar kurz vor dem Frühstück erleben wir im Hausflur eine Überraschung. Uwe kriecht auf allen Vieren im Treppenhaus herum, greift immer wieder ins Leere und steckt irgendetwas Unsichtbares in eine Tüte. Auf meine Frage, was er denn da anstelle, antwortet er ganz verwundert: „ Ja sehen sie die vielen weißen Mäuse nicht? Die muss ich alle einfangen.“ Das geht fast den ganzen Tag so weiter, nur sind es am Nachmittag Fische, die er im Duschbecken mit einem Kescher angeln muss. Nachdem er im Hof kräftig nachgetankt hat, wird er wieder ruhiger. Dazu bei der nächsten Jahresabschlussfeier:
Die Tage sind grau und die Nächte noch lang,
doch gibt’s hier den Uwe Fritsch, Gott sei Dank.
Der sorgt dafür, daß keiner kann klagen,
die Langweile wäre nicht zu ertragen.
Eines Tages, keiner dacht’ sich was schlechtes dabei,
rutscht im Flur, auf allen Vieren, der Uwe vorbei.
In der Hand eine Tüte, in die er voll Wut
vom Fußboden irgendwas einsammeln tut.
Man fragt ihn, oh Uwe, was hast du nur,
was robbst mit der Tüte du über’n Flur ?
Er meinte, wie könnt’ ihr so etwas nur fragen,
ihr seid wohl alle mit Blindheit geschlagen.
Die weißen Mäuse, es müssen wohl hunderte sein,
die fang ich und steck sie in die Tüte hinein.
Na gut, soll er machen, dachte ein jeder,
dann brauchen wir halt keinen Kammerjäger.
Jedoch dann am Abend mussten wir dem lieben
Uwe einen Riegel vorschieben.
Denn was er da tat, das ist hier streng untersagt.
Er hat uns auch gar nicht erst danach gefragt.
Würden wir es erlauben, könnte man uns belangen,
in der Dusche, ohne Angelschein Fische zu fangen.



Ein Bomben-Job
Heute ist der 21.03.2000. Holy hat einen Termin im Arbeitsamt. Ganz aufgeregt kommt er von dort zurück. „Ich habe einen tollen Job angeboten bekommen. Nun muss ich nur noch überdenken, ob ich ihn annehme. Ich könnte in Irland als Schmied arbeiten. Der Nettoverdienst beträgt 5000 DM im Monat. Dazu Hotel- und Verpflegungskosten inclusive. Das werde ich wohl annehmen.“ Uns bleibt vor Staunen der Mund offen stehen. Der Holy, ohne Berufsabschluss, der bisher auf keiner Arbeitsstelle länger als einen Monat ausgehalten hat – das können wir uns nicht vorstellen. Meine Frau ruft im Arbeitsamt an. Der dortige Mitarbeiter muss lachen. Diesen Job gibt es tatsächlich, aber bestimmt nicht für Herrn H. „Der hat doch tatsächlich nicht geschnallt, dass ich ihn nur hochgenommen habe. Richtig traurig ist Holy aber auch nicht. Das wäre ja vielleicht mit Arbeit verbunden gewesen.
Was lange währt …
Nun sind wir schon Mitte Mai 2000 angekommen. Sören kommt von einem Arztbesuch zurück und hat eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung dabei. Meine Frau sieht ihn ganz erstaunt an. „Sie sehen doch gar nicht wirklich krank aus.“ Er druckst verlegen herum. „Mir fehlt ja auch nicht wirklich etwas. Ich muss doch aber auf meine Silly aufpassen.
Am 19.07.1998 bekamen wir einen Anruf vom Zelt der Stille in Dresden. Das war ein von der Kirche betriebenes großes Zelt, das Obdachlosen und anderen einsamen Menschen tagsüber eine geschützte Aufenthaltsmöglichkeit zum Zwecke der inneren Einkehr bot. Des Nachts mussten sich Obdachlose dann selbst eine geeignete Schlafstelle suchen. Sie berichteten von einem Mann, der schon des Längerem zu ihnen kam. Er sei sehr ängstlich, fürchte sich vor jeglichen Behördengängen, hätte aus diesem Grund keinerlei Einkommen und lebe vom Betteln. Sein letzter fester Wohnsitz war aber in unserer Heimatstadt. Sie fragten, ob wir uns nicht um ihn kümmern könnten. Wir sagten zu. Ich machte mich auf den Weg und fuhr mit meinem Auto zu diesem Zelt. Dort lernte ich Sören K. kennen. Nach einer längeren Unterhaltung mit ihm konnte ich ihn überzeugen, zu uns ins Heim zu ziehen. Ich nahm ihn dann gleich mit. Die Behördengänge, Anmeldung im Einwohnermeldeamt, Beantragung von Sozialhilfe, Berechtigungsnachweis in unserem Heim zu wohnen, das alles machte ich gemeinsam mit ihm. Langsam wurde er wieder etwas selbstbewusster. Alkoholprobleme hatte er auch, aber es hielt sich noch in Grenzen. Wenn Arbeiten im Heim anstanden, war er immer einsatzfreudig.
Am 10.04.2000 zog Silly bei uns ein. Sie kam aus der berühmt-berüchtigten „8“. Schon oft hatte sie bei uns im Hof nachts herumkrakelt, wenn sie Sehnsucht nach einem hier wohnenden Liebhaber verspürte. Damals war es meistens Marco. Nun wohnte sie selbst hier. Da weibliche Mitbewohner im Heim stets in der Minderzahl waren, wurden sie von den männlichen Bewohnern heiß begehrt. Am Anfang war Uwe der Auserwählte. Da ihm aber der Alkohol weitaus wichtiger als eine Beziehung war, kühlte das Verhältnis rasch ab. Sören sah seine Chance gekommen. Er kämpfte um ihre Gunst.
Nun hat er es erreicht. Seine Angst, sie wieder zu verlieren ist so groß, dass er glaubt seinen vor kurzem erhaltenen Job riskieren zu müssen. Meine Frau redet ein paar ernste Worte mit ihm. Daraufhin geht er wieder zum Arzt und lässt sich gesundschreiben. Wenn doch alle so pflegeleicht wären, schreibt sie daraufhin ins Dienstbuch.
Es dauert noch lange, bis beide wieder auf eigenen Beinen stehen. Im März 2003 ziehen sie in eine eigene Wohnung. Zur Einrichtung dieser konnten wir einiges beisteuern. Als die Wohnung fertig ist, laden sie uns auf einen Kaffee ein.









Urlaub mit Hindernissen

Anfang Juni 2000. Jacke hat mit der Post seinen Gestellungsbefehl bekommen. Das heißt, er muss sich am benannten Datum in der JVA auf der Schießgasse melden und seine Gefängnisstrafe absitzen. Fahrgeld hat er aber nicht. Das ist ihm schon durch die Kehle geronnen. Unsere Kollegin, Frau W., borgt ihm das Geld und er macht sich auf die Reise. Dort angekommen, meldet er sich bei den JVA-Beamten an. Er muss lange warten, darf sich aber in dieser Zeit in einer Zelle aufs Bett legen. Sie gehen sämtliche verfügbaren Listen durch. Sein Name taucht nirgends auf. Er steht nicht auf der Liste. Sie drücken ihm ihr Bedauern aus und schicken ihn wieder nach Hause. Für die Rückfahrt hat er aber kein Fahrgeld mehr. Also muss er, der seit seinen „Fenstersturz“ 1993 gehbehindert ist, wohl oder übel die 13 km zu Fuß laufen. Am Abend kommt er wieder im Heim an und gibt dort seine Story zum Besten.
Am nächsten Morgen ruft Frau W. in der JVA an. „Es tut uns leid, man hatte vergessen ihn auf die Liste der Neuzugänge zu setzen. Er soll heute noch einmal kommen“. Also der 2. Versuch. Er bekommt wieder Fahrgeld und macht sich auf den Weg. Unterwegs trifft er auf einige seiner Kumpels und vertrödelt so seine Zeit. Erst nach 18:00 Uhr kommt er auf der Schießgasse an. Sein Name steht diesmal auf der Liste, jedoch es ist bereits Feierabend. Nach 18:00 Uhr hat die Urlaubsunterkunft geschlossen. „Versuche es morgen noch einmal!“
Frau W. ist im höchsten Grade erstaunt, als sie Jacke bei ihrem nächsten Dienstbeginn wieder im Heim antrifft. Sie setzt sich sogleich mit der JVA in Verbindung und schickt ihn wieder auf den Weg. Dieses Mal trifft er auf Kumpels, die noch etwas Geld in der Rückhand haben. Sie laden ihn zu einem Abschiedsumtrunk ein. Da kann er nicht nein sagen. Als er dann etwas später in der JVA erscheint, hat er wohl noch etwas Blut im Alkohol. Die entsprechende Fahne trägt er vor sich her. Im Gestellungsbefehl steht aber geschrieben: Er soll in nüchternem Zustand erscheinen. So scheitert dann auch der dritte Versuch. Er nimmt das nicht weiter tragisch. „Es soll halt nicht sein. Wenn sie mich brauchen müssen sie mich eben hier holen.“
2 Monate später wird er dann tatsächlich von der Polizei geholt. Auf der nächsten Weihnachtsfeier kommt dann folgender Vers zum Vortrag:

Der Jacke hat ‘ne Einladung für einen Urlaubsplatz bekommen.
Er hatte an einem Wettbewerb der Schuldner teilgenommen.
Der Urlaubsplatz war kostenlos, der Anreisetag stand schon fest.
Jacke macht sich auf den Weg, weil sich’s nicht vermeiden lässt.
Er geht ins Hotel Schießgasse, meldet sich an der Rezeption.
Er war der Meinung, der Hotelier warte sehnsüchtig auf ihn schon.
Doch der Mann hinter’m Tresen sprach: Dein Name ist mir nicht bekannt.
Er geht die Buchungen durch. Nirgends wird sein Name genannt.
Man lässt ihn zwar in sein Zimmer. Dort ruht er sich erst mal aus.
Nach ein paar Stunden erscheint der Boy, schickt ihn wieder nach Haus.
Zwar hat er noch protestiert, versucht sein Recht zu bekommen.
Doch man sprach: Halt das Maul! Sei froh, so leicht wieder raus zu kommen.
Am nächsten Tag versuchte er es nochmal. Frau W. rief extra an,
ob der Jacke mit dem Gestellungsbefehl wieder vorbeikommen kann.
Der zweite Versuch ging wieder schief. Diesmal kannte man zwar seinen Namen.
Jedoch es war schon Feierabend. Da hatte man kein Erbarmen.
Ein dritter Versuch wurde noch gewagt. Auch der gelang jedoch nicht,
denn der Jacke war besoffen und ‘nen Stauraum gibt es dort nicht.
Nach diesen drei Versuchen machte er dann endlich schlapp
und meinte, wenn sie mich brauchen, hol ‘n sie mich schon hier ab.


Der Möchtegern-Hausmeister
März 2002. Das Wetter ist noch recht ungemütlich draußen, so dass ich viele Bewohner die Zeit drinnen mit Fernsehen vertreiben. Leider besitzt nicht jedes Zimmer einen Kabelanschluss. Gretel möchte auch gern fernsehen. Sie fragt im Haus, ob ihr nicht jemand helfen kann, ihr Gerät zu verkabeln. Sofort meldet sich Puffti. Er fühlte sich schon immer als der geborene Hausmeister. Das Nebenzimmer von Gretel besitzt einen solchen Anschluss. Werkzeug hat er aber keines. Er kommt zu mir und bittet mich um eine Spitzhacke. Verwundert frage ich ihn, wozu er eine solche denn braucht. „Ich will der Gretel einen Kabelanschluss in ihr Zimmer legen. Dazu muss ich ein Loch in die Wand hacken, um das Kabel durchzustecken.“ Diese Logik macht mich erst einmal sprachlos. Mühevoll überzeuge ich ihn dann, dass er dazu nur ein Loch durch die Wand bohren muss, um das Antennenkabel dann hindurchzuführen. Ich gebe ihm eine Bohrmaschine samt passendem Steinbohrer. „Kannst du das auch, ein Loch in die Wand bohren?“ „Natürlich, ich war doch viele Jahre Hausmeister!“
Es vergeht einige Zeit, dann werden wir auf laute Klopfgeräusche im Haus aufmerksam. Meine Frau geht nachschauen, wer einen solchen Lärm veranstaltet. Gretels Zimmertür steht offen. Puffti ist schwer am Arbeiten. In letzter Minute kann sie noch verhindern, dass er zwischen beiden Zimmern eine Durchreiche installiert. Er hat ein mit Hammer und Meißel ein großes Loch mitten in die Wand gehackt. „Das Kabel hat mit samt dem Stecker nicht durch das Loch gepasst“, erklärt er. Es bleibt mir nichts übrig, als die Sache selbst zu Ende zu führen. Dabei entdecke ich, dass unten über der Scheuerleiste schon ein solches Loch vorhanden ist. Das Kabel ist dann schnell verlegt. Die Wand mussten wir danach aber neu verputzen lassen. Das Resultat: Außer Spesen nichts gewesen!

Als Erinnerung an diese Episode folgender Vers während der Jahresabschlussfeier 2002/03:
Die Gretel möchte gerne einen Fernsehanschluss,
wobei man das Kabel durch die Wand durchzieh ‘n muss.
Der Puffti sprach, das kann ich, dafür bin ich der Mann,
holte sich Werkzeug und fing sofort an.
Nach ‘ner Stunde gingen wir nachschau’n, denn es hämmerte gar so laut.
Da hat er doch der Gretel eine Durchreiche gebaut.


Der Kater mit Eigenkapital


Draußen wird es langsam dunkel. Es wird Zeit, dass ich endlich Feierabend mache, denke ich. Meine Frau ist schon vor einer Stunde in unsere Wohnung gegangen. Ich fahre den Computer herunter und schaue mich noch mal im Büro um. Da fällt mein Blick auf den Schrank. Dort liegt ja noch Gari in seinem Körbchen, ein schwarzer Kater im Alter von 5 Jahren. Er schläft auf dem Rücken, die Beine weit von sich gestreckt und denkt nicht im Traume daran gerade jetzt aufzustehen, nur weil es mir gerade einfällt jetzt Feierabend zu machen. Nun gut, denke ich, stelle ich ihm eben die Wasserschüssel und die Katzentoilette ins Büro und komme dann noch in ca. einer Stunde nochmal nachschauen, ob er dann vielleicht Lust verspürt, das Büro zu verlassen. In der Regel macht er nachts noch seine Runde auf der Wiese und in den Gärten, bevor er dann entscheidet, bei welchem Bewohner des Obdachlosenheimes er die Nacht zu verbringen gedenkt. Während ich das Büro abschließe und die Treppe zu unserer Wohnung emporsteige, denke ich daran, wie wir einst zu dem schwarzen Katerchen gekommen sind. Es war im Juli 2005. Eine gerichtlich bestellte Betreuerin fragte bei uns an, ob wir einen ihrer Klienten aufnehmen könnten. Er stand kurz vor einer Zwangsräumung und benötigte eine neue Unterkunft. Gut, wir hatten noch Plätze frei, also stand der Sache nichts im Wege. Er hat aber eine Katze und will sich auf keinen Fall von ihr trennen, gab die Betreuerin zu denken. Unsere Hausordnung verbietet das Halten von Haustieren. Da wir selber 3 Katzen haben und glaubten den Jungen verstehen zu können, drückten wir alle Augen zu und machten die berühmte Ausnahme. Der Tag der Zwangsräumung kam und Ronny W. zog mit seiner Katze ein. Es war ein kleiner, schwarzer Kater, unterernährt, ungeimpft, unkastriert und von Milben befallen. Er hatte den Namen „Garfield“. Nach und nach erfuhren wir mehr von der Geschichte des Katerchens. Ronny hatte vorher schon einen Kater. Weil er diesen unbeaufsichtigt in seiner Wohnung gelassen und das Klappfenster offengelassen hatte, war dieser in das offene Klappfenster gesprungen, hatte sich festgeklemmt und ist dort erbärmlich zugrunde gegangen. Daraufhin verbot seine Betreuerin ihm, sich wieder ein Tier zuzulegen. Nichtsdestotrotz beschaffte er sich sofort wieder eine junge Katze. Seine erste Frage war, ob es nicht möglich wäre den Kater rot zu färben, damit er auch wie ein Garfield aussieht. Ich glaube, das wirft schon ein bezeichnendes Licht auf Ronnys Gedankenwelt.
Ronny bekam ein Zweibettzimmer. Sein Mitbewohner hatte nichts dagegen, dass eine Katze mit einzog. Die erste Maßnahme war, den Kater sofort zu kastrieren, zu impfen, zu entwurmen und etwas gegen seinen Milbenbefall zu unternehmen. Dann kontrollierten wir des Öfteren das Zimmer. Es sah dort katastrophal aus. Die Katzentoilette war ständig verdreckt und wurde nicht gesäubert, die Fressnäpfe standen mit vertrockneten Resten verklebt herum und das Kippfenster war auch wieder geöffnet. Da hieß es: Streng durchgreifen! Ab sofort kontrollierten wir jeden Tag die Katzentoilette. Das Futter bekam der Kater von uns. Ronny musste nur einmal im Monat eine festgelegte Summe dazugeben. Weil uns Garfield für einen schwarzen Kater doch etwas unpassend vorkam, riefen wir ihn einfach nur Gari. Natürlich bekam er hier nach einer kurzen Eingewöhnungszeit auch Freigang. Zum einen ging das gar nicht anders, weil man einen Kater einfach nicht in so ein kleines Zimmer einsperren kann und zum zweiten wäre es eine Sünde gewesen bei unserer mehr ländlichen Umgebung mit Autoverkehr nur von Anliegern. Unsere eigenen Katzen haben schließlich auch Freigang. In der Haustür befindet sich eine Katzenklappe, so dass sie jederzeit wieder hereinkommen können. Gari lebte sich ziemlich schnell im Hause ein. Mal schlief er bei dem einen Bewohner im Bett, mal bei dem anderen, manchmal aber auch nur im Speise- und Fernsehraum oder auf der Couch in der Raucherecke. So wurde er bald zu einem regelrechten Heimkater.

Wenn wir dienstfrei haben, fahren wir mit unseren 3 Katzen auf ein 200km entferntes Waldgrundstück. Dort leben wir dann in einem Wohnwagen und unsere Katzen waren davon immer begeistert. Also dachten wir, wo drei Platz haben passt auch noch ein vierter mit hin. Zweimal nahmen wir den Gari mit, aber dann mussten wir das wieder aufgeben. Wir hatten noch nie eine Katze, der beim Autofahren so schlecht wurde. Schon beim Anfahren fing er an zu speicheln und das setzte sich den ganzen Weg über fort. Als wir dann nach 2 Stunden am Ziel ankamen, sah er aus als wäre er in einen Teich gefallen. Auch wenn es ihm dann dort gut gefallen hat, wog das die Strapazen der Fahrt nicht auf. Also beschlossen wir, ihn zukünftig im Heim zu lassen. Er wurde dann dort während unserer Abwesenheit von dem uns vertretenden Personal und den Heimbewohnern gut versorgt. Mit der Zeit gewöhnte er sich so gut ein, dass man glauben konnte er wäre schon immer da gewesen.
Die Jahre vergingen und aus dem halbverhungerten Katzenkind wurde ein prächtiger schwarzer Kater von 6,5 kg Gewicht. Ronny bekam wieder eine Wohnung und zog bei uns aus. Wir beratschlagten, was aus dem Gari werden sollte. Er zog mitten in die Stadt, direkt an eine Hauptverkehrsstraße. Dort hätte er ihn keinesfalls aus dem Haus lassen können. Ihm aber den Freigang wieder abzugewöhnen, wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Also schlugen wir ihm vor, er solle den Kater hierlassen, monatlich eine kleine Summe zum Futter dazugeben und er könne ihn ja auch jederzeit besuchen. Zuerst jammerte er, wie sehr er ja an seinem Gari hänge, aber erklärte sich schon bald damit einverstanden. Das ist nun 8 Monate her. 2 Monate hat Ronny noch etwas bezahlt, besucht hat er ihn nicht ein einziges Mal. Was blieb uns weiter übrig, von da an bezahlten wir das Futter allein. wenn aber die jährlichen Impfungen anfallen und auch sonstige Tierarztkosten, dann würde das schon ganz schön teuer werden. Wir haben ja schon unsere eigenen 3 Katzen und Gari, der seines Zeichens auch ein tüchtiger Haudegen ist, musste schon öfters mal mit einer seiner Blessuren zum Tierarzt. Volker, ein Bewohner des Obdachlosenheimes kam auf die Idee, jeder könne ja monatlich eine Summe seines Ermessens für Gari auf ein Konto einzahlen. Wir brachten diese Idee zu Papier und hingen dieses am schwarzen Brett im Hausflur auf. Die Resonanz war größer als erwartet und der größte Teil der Heimbewohner zahlt seitdem monatlich zwischen 2 und 5 € auf Garis Konto. Muss er dann mal zum Tierarzt, so wird diese Ausgabe mitsamt der Tierarztrechnung verbucht und jeder hat immer einen genauen Überblick wie hoch der Kontostand von Gari ist. So kommt es, dass er der einzige Kater ist den ich kenne, der im Besitz eines Kontos ist.……………………………………………………………………

Nun ist es 24.00 Uhr. Ich mache noch einen Rundgang durchs Haus. Alles ist ruhig. Die meisten schlafen schon. Ich schließe das Büro auf. Gari hat schon auf mich gewartet. Er kommt vom Schrank gesprungen, reibt sich eine Weile sein Köpfchen an meiner Hand und verschwindet dann ins Freie. Ich schließe das Büro wieder ab und werde nun auch schlafen gehen. Gari wird wie immer irgendwann in der Nacht wieder zur Tür hereinkommen, an der Zimmertür von Volker oder von Melanie kratzen bis diese öffnen und dann die restliche Nacht dort verbringen.
Das Ende
Es ist Januar 2013. Draußen ist es kalt. Ein Wunder ist das nicht in dieser Jahreszeit, aber die frostigen Temperaturen sind nicht nur meteorologisch bedingt. Auch gefühlsmäßig ist eine Kältestarre bei uns eingezogen. Wir laufen durch das Haus um die Entsorgung der gesamten Einrichtung in die Wege zu leiten. Es ist schon ein gespenstiges Gefühl. So viele Jahre war das Gebäude ständig mit Leben gefüllt. So viele Einzelschicksale haben hier stattgefunden. Lustige und traurige Begebenheiten haben einander abgelöst und auf Schritt und Tritt ist man den unterschiedlichsten Heimbewohnern begegnet. Wir mussten Traurige trösten, Wütende besänftigen, zwischen Streithähnen schlichten, alles was man wahrscheinlich in einer Großfamilie auch tun muss. Nun herrscht hier absolute Stille und wir begegnen keinem Menschen mehr auf den nunmehr leeren Fluren.
Doch halt, ganz selten trifft man doch noch auf Menschen. Heute am Vormittag kam Volker B. uns besuchen. Er war bis vor kurzem noch einer der Bewohner des Heimes. Die Sehnsucht hatte ihn wohl wieder einmal hierher getrieben. Er bat, sich noch einmal in sein ehemaliges Zimmer setzen zu dürfen, um dort wie früher eine Zigarette zu rauchen. Es sprach unsererseits nichts dagegen, zumal ja sowieso keine Zimmertür mehr verschlossen war. Kurz darauf klingelte es an der Haustür. Die Sozialdezernentin aus dem Freitaler Rathaus begehrte Einlass. Sie wollte angeblich nach dem Rechten sehen und den Stand der Entrümpelungsarbeiten in Augenschein nehmen. Merkwürdig war nur, dass sie so unstet auf dem Gang hin und her lief und verschiedene Zimmertüren öffnete. „Ich rieche hier Zigarettenrauch. Wo kommt der her?“ Sie öffnete die Tür des Zimmers, in dem Volker B. saß. „Was macht der hier?“ Wir erklärten ihr die Situation, aber sie fragte sichtlich aufgeregt immer weiter. „Halten sich noch andere Personen hier im Haus auf? Haben Sie vielleicht Herrn F. hier auch versteckt?“ Diese Anschuldigung erschien uns so grotesk, dass uns die Worte für eine Erwiderung darauf im Halse steckenblieben. Wir hatten zu diesem Zeitpunkt schon von seiner Betreuerin erfahren, dass Klaus F. als vermisst galt und nach ihm gesucht wurde. Die Suche blieb, trotz Hubschraubereinsatz ergebnislos. Lediglich Teile seiner Bekleidung wurden am Ufer der Weißeritz, einem Fluss der zu dieser Zeit viel Wasser führte, von der Polizei gefunden.
Klaus F. kam letztes Frühjahr zu uns ins Obdachlosenwohnheim, direkt von einer stationären Therapie für Suchtkranke. Jahrelanger Alkoholmissbrauch hatte bei ihm bleibende Spuren hinterlassen. Als dann seine Lebenspartnerin, die an derselben Krankheit litt starb, brach er völlig zusammen. Zu seinem Glück stand er zu diesem Zeitpunkt schon unter Betreuung und wurde zur stationären Behandlung eingewiesen. Als er bei uns eintraf, war er bereits trockener Alkoholiker. Er wurde ins ambulante betreute Wohnen, das in unserem Heim mit integriert war, aufgenommen. Seine Entwicklung verlief seither positiv. Er fand Vertrauen zu uns, konnte seinen Tagesablauf immer besser strukturieren und half uns gern bei den verschiedensten Aufgaben innerhalb des Heimes. Rückfällig ist er in dieser Zeit nie geworden. Die Nachricht, dass Ende des Jahres das Heim geschlossen wird, traf ihn wie ein Schlag.
Dezember 2012, kurz vor Weihnachten. Normalerweise herrschte in diesem Monat immer Trubel in unserem Haus. Die Vorbereitungen für die gemeinsame Weihnachts- und Silvesterfeier und der Einkauf der sehr individuellen Weihnachtsgeschenke nahmen immer viel Zeit in Anspruch. Diesmal war alles anders. Von den Heimbewohnern waren nur noch 5 Personen übrig. Auch diese sollten noch vor Weihnachten evakuiert werden. Bei 3 Leuten traf das auch zu. Am 24. Dezember waren nur noch 2 Bewohner da. Einer davon war Klaus F. Ich musste nach den Feiertagen 2 Tage unser Haus verlassen, um unseren eigenen Umzug vorzubereiten. Meine Frau blieb mit den letzten Bewohnern allein zurück. Als ich wieder eintraf, war niemand mehr da. Sie erzählte mir, sichtlich mitgenommen, den Verlauf des letzten Tages. Beide Übriggebliebenen saßen in ihren Zimmern auf den Betten. Die wenigen Habseligkeiten waren zusammengepackt. Meine Frau hörte im Vorbeigehen ein Schluchzen aus Klaus F.s Zimmer. Die Tür stand offen und sie trat ein. Er weinte bitterlich. Sie versuchte ihn zu trösten und ihm klarzumachen, dass wir an seinem Schicksal keinen Anteil haben und auch keine Möglichkeit, ihn hierzubehalten. Er sprang auf, warf sich meiner Frau an den Hals und schien sie nie wieder loslassen zu wollen. „Ich weiß doch, dass Sie nichts dafür können. Ich will nicht wieder allein sein. Bei Ihnen habe ich mich richtig zu Hause gefühlt.“ Er schimpfte noch laut und nachhaltig auf den Bürgermeister und die Stadtverwaltung. „Denen ist unser Schicksal doch egal. Wir zählen doch für die überhaupt nicht.“ Meine Frau ging traurig in unsere Wohnung. Als sie nach einer Weile noch einmal nach ihm sehen wollte, war niemand mehr da. In der Zwischenzeit war ein Transporter der Firma „Rumpelmännchen“ vorgefahren. Das war eine Freitaler Firma, deren hauptsächliche Tätigkeit darin bestand, leere Häuser und Wohnungen von übriggebliebenem Müll zu befreien. Dass neben tatsächlichem Müll auch einmal übriggebliebene Menschen entsorgt werden müssen, kam sicher seltener vor. Klaus F. hat seine Habseligkeiten nie ausgepackt. Er fing wieder an zu trinken. Am 12. Januar wurde er als vermisst gemeldet.












Nachsatz:
Am 17. Juni 2013 wurde in der Elbe unter Treibgut eine männliche Leiche gefunden. Die Verwesung war schon so weit fortgeschritten, dass er schwer zu identifizieren war. Im Oktober fand ein DNA-Abgleich statt. Es war Klaus F.
Im Frühjahr 2016 wurde das 1995 mit 1,3 Millionen öffentlicher Mittel generalsanierte, 1850 gebaute denkmalgeschützte Haus, mit Sandsteinsäulen und Kreuzgewölbe im Erdgeschoss von Abrissbaggern dem Erdboden gleichgemacht. Jetzt steht dort ein Gebäudekomplex aus Mietwohnungen für Gutbetuchte.


Hausordnung für die Nutzung des Obdachlosenheimes Oststrasse 13
Präambel: Das Haus auf dem Grundstück Oststrasse 13 hat den Status eines ganztägig geöffneten Heimes für obdachlose Bürger. Alle Bewohner dieses Heimes haben gleiche Rechte und Pflichten. Diese sind durch folgende Hausordnung festgelegt und werden nach entsprechender Belehrung durch eigenhändige Unterschrift von jedem Bewohner anerkannt.
§ 1 (1) Im Obdachlosenheim werden männliche und weibliche Personen über 18 Jahre sowie Familien mit Kindern aufgenommen, die keinen festen Wohnsitz haben. Alleinstehende Personen unter 18 Jahren finden keine Aufnahme.
(2) Das Sozialamt der Stadtverwaltung Freital stellt dem Hilfesuchenden bei vorliegenden Voraussetzungen ein Berechtigungsschreiben zur Vorsprache im Obdachlosenheim aus. Über die Aufnahme entscheidet der Leiter bzw. das Personal.
§ 2 Das Obdachlosenheim ist ganztägig geöffnet. Über die Zimmerbelegung entscheidet das Personal. Die Zimmerbelegung erfolgt bei längerem Heimaufenthalt in der Regel längerfristig. Es besteht aber kein Rechtsanspruch auf das einmal belegte Zimmer.
§ 3 (1) Vor Betreten und Verlassen der Räumlichkeiten ist eine An- bzw. Abmeldung beim Personal erforderlich. Im Besitz befindliche Zimmerschlüssel zu Räumlichkeiten des Obdachlosenheimes sind beim Verlassen des Heimes beim Personal abzugeben und können beim Betreten wieder in Empfang genommen werden.
(2) Nicht aufgenommen werden Bürger
- ohne Berechtigungsschein (Ausnahmen bilden Notaufnahmen)
- die unter erheblichem Einfluss von Alkohol und Drogen stehen.
(Die Entscheidung über Aufnahme/Abweisung obliegt dem
diensthabenden Personal)
- die Hausverbot erhalten haben.
(3) Unter Vorbehalt aufgenommen werden Bürger bei unzumutbarer Unsauberkeit und mit Ungeziefer behaftete. Die Aufnahme erfolgt in diesen Fällen erst nach der Reinigung bzw. Desinfektion. Die benötigten Reinigungs- bzw. Desinfektionsmittel und die Duschanlage werden zur Verfügung gestellt.
(4) Haustiere finden keine Aufnahme. Über Ausnahmen entscheidet die Leitung.
§ 4 (1) Folgende Zeiten sind einzuhalten:
07:00 – 22:00: Aus- und Eingänge sowie Neuzugänge
Mahlzeiten im Speiseraum:
07:30 – 09:00: Frühstück
12:00 – 13:30: Mittagessen
18:30 – 20:30: Abendbrot

23:00 – 06:00: Nachtruhe
Zwischen 22:00 und 06:00 bleibt das Heim geschlossen.
(2) Abweichungen von diesem Zeitplan (z.B. infolge von Schichtarbeit) können nach Absprache vom diensthabenden Personal ermöglicht werden.
§ 5 (1) Jedem aufgenommenen Bürger steht mindestens ein Bett und ein Schrank in einem Mehrbettzimmer zur Verfügung. Das Bett ist selbst zu beziehen und in einem vom Personal festgelegten Rhythmus oder beim Auszug aus dem Heim wieder abzuziehen.
(2) Jeder aufgenommene Bürger hat die Möglichkeit, seine Kleidung innerhalb des Heimes zu waschen und zu trocknen.
(3) Jeder aufgenommene Bürger ist für die Reinigung und Sauberhaltung/Ordnung des von ihm bewohnten Zimmers selbst verantwortlich. Bewohnen mehrere, nicht verwandtschaftlich zusammengehörige Personen ein Zimmer, so ist ein zeitlich geregelter Reinigungsplan zu erstellen.
(4) Jeder aufgenommene Bürger kann, unter Berücksichtigung seiner Fähigkeiten, tagsüber zu Reinigungs- und Verschönerungsarbeiten auf dem Grundstück Oststraße 13 durch das Personal herangezogen werden.
§ 6 (1) Aufgenommene Bürger haben sich im Obdachlosenheim ruhig und ordentlich zu verhalten.
(2) Die Einnahme von Alkohol und Drogen im Obdachlosenheim ist strengstens verboten. Sollten Alkohol und Drogen vorgefunden werden, so können diese ersatzlos vom Personal eingezogen werden. Die Einnahme von niedrigprozentigen alkoholischen Getränken (Bier/Wein) kann in geringen Mengen vom diensthabenden Personal innerhalb des Speise- / Aufenthaltsraumes in Ausnahmefällen genehmigt werden.
(3) Das Rauchen ist nur in den Vorräumen und im Aufenthaltsraum gestattet. In den Schlafräumen besteht strengstes Rauchverbot.
(4) Glücksspiele sind verboten. Übertretung und Versuch wird zur Anzeige gebracht.
(5) Der Handel mit Gegenständen jeglicher Art ist untersagt
(6) Das Ausüben eines Gewerbes im Heim ist unzulässig.
(7) Das Zubereiten warmer Mahlzeiten in den Zimmern, mit Ausnahme von Kindernahrung, ist nicht gestattet.
(8) Das Tragen und der Besitz jeglicher Waffen ist innerhalb des Heimes nicht gestattet. Nichtwaffenscheinpflichtige Waffen müssen bei Betreten des Hauses dem Personal zur Aufbewahrung übergeben werden und sind beim Verlassen auf Verlangen wieder auszuhändigen.
(9) Das Personal hat das Recht, beim Betreten des Hauses die Kleidung und das Gepäck nach Alkohol, Drogen und Waffen zu durchsuchen.
(10) Das Personal hat das Recht bei Verdacht auf Zuwiderhandlungen, die Zimmer unter Wahrung der Verhältnismäßigkeit zu durchsuchen.
(11) Jegliche körperliche Gewaltanwendung in der Einrichtung ist untersagt und kann mit sofortiger Ausweisung und Hausverbot geahndet weden.
§ 7 (1) Alle Räume und Einrichtungsgegenstände sind schonend und pfleglich zu behandeln. Schäden sind dem Personal unverzüglich zu melden. Für vorsätzlich verursachte Schäden haftet der Verursacher. Er wird zum finanziellen Ersatz oder zur Wiedergutmachung durch zusätzliche, gemeinnützige Arbeit herangezogen.
(2) Für persönliches Eigentum der Bürger wird keine Haftung übernommen. Jeder Heimbewohner ist deshalb verpflichtet, auf sein Eigentum selbst zu achten. Bargeld, Wertgegenstände, Ausweise und Gepäck können beim Personal für die Zeit des Aufenthaltes gegen Quittung hinterlegt werden (Tresor).
§ 8 Erkrankte Personen melden sich zur Vermittlung einer weiteren medizinischen Versorgung beim Personal.
§ 9 (1) Dem Hilfesuchenden stehen Betreuer zur Verfügung. Sie übernehmen die Betreuung und Beratung in allen Fragen des Lebens und sind Bindeglied zwischen dem Obdachlosen und dem Sozialamt.
(2) Wünsche und Beschwerden kann der Obdachlose an die leitende Betreuerin bzw. an die Geschäftsführung der (Trägerverein)e.V. richten.
§10 Bei Verstößen gegen diese Hausordnung sind die Angestellten des Obdachlosenheimes berechtigt, Heimbewohnern
-Verwarnungen auszusprechen,
-die sofortige Ausweisung aus dem Heim auszusprechen,
-Hausverbot auszusprechen.
Diese Hausordnung tritt mit Wirkung vom 01.08.1995 in Kraft.


© Dietmar Geister


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Beschreibung des Autors zu "Unser Leben mit Obdachlosen (noch unfertig)"

Leseprobe des noch unfertigen Buches. Ende 2012 wurde das Obdachlosenheim in Freital, in dem wir 20 Jahre lang gearbeitet und gelebt haben, geschlossen. Jetzt versuche ich ein Buch über diese Zeit zu schreiben.




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