Als wir eines verschneiten Januarabends auf unserem Berg saßen und sich zwischen uns ein Klumpen Ton materialisierte, waren wir natürlich – um es gelinde auszudrücken – überrascht.
Nicht nur von der spontanen Entstehung eines massiven Objekts aus dünner Luft, sondern auch von der Qualität des Tons selbst. Fein schamottiert und kleinkörnig schien er schon bei erster Betrachtung zu sein.
Für einen Moment waren unsere Gedanken gefangen in der Dichotomie unserer großteilig überlappenden Weltanschauungen, die sowohl von trocken-realistischem Atheismus als auch vom Glauben an die Unsterblichkeit der Seele geprägt waren.
Ob dies nun ein Zeichen einer übergeordneten Macht war, oder ein unwahrscheinliches Würfelspiel der Quantenmechanik, schien bald eine zwecklose Überlegung zu sein, denn eindeutig war die Tatsache, dass der Klumpen genau hier und genau jetzt enstanden war und es deshalb nur an genau den zwei Menschen liegen konnte, zwischen denen es geschah und dass er damit auch für diese bestimmt war.
Guten Gewissens also, dass dieses Objekt vollständig uns gehörte, schlugen wir es, als ob es sich um zerbrechlistes Kristallglas handelte, in die Decke ein, auf der wir, uns vor dem gefrorenen Boden schützend, eben noch saßen und legten das schöne Paket in meinen grünen Wanderrucksack.
Lag auch die gesprächsmäßige Ergündung der Ursache und des Hintergrunds der Entstehung des Tons uns nicht am Herzen, so hielt sie uns doch beide gedanklich zu sehr gefangen, als dass wir weiter den Ausblick auf unserem Berg genießen konnten.
Vorerst gingen wir somit außeinander, schmiedeten aber beide, unwissend voneinander, Pläne zum baldigen Töpfern, obgleich weder du noch ich jemals diesem Handwerk nachgekommen waren.
Am nächsten Tag trafen wir uns gleich wieder auf unserem Berg und packten das Paket aus, um es im Tageslicht zu untersuchen.
Dein materialwissenschaftlich und mein plastizitätstheoretisch trainiertes Auge stellten bei zweiter Betrachtung fest, dass der Ton wirklich von allerhöchster Qualität war; wir gestanden uns auch gleich von unseren handwerklichen Plänen und waren verzückt darüber, dass die jeweils andere Person ähnliche Vorhaben im Sinn hatte.
Natürlich legten wir nicht jede Einzelheit gleich hier und jetzt im Jahranfangsgraupel, der schräg und steif uns in die Mantelkrägen wehte, dem anderen offen, jedoch erschien uns beiden, einen schönen großen Teller aus diesem Material herzustellen, als die beste Idee.
Ein Teller ist vielseitig, waren wir uns einig.

Nach kurzem Befassen mit der Lehre der Keramik fingen wir an unsere Strategie in die Tat umzusetzen.
Einiges mischten wir dem feinen Werkstoff beim knetenden Bearbeiten noch unter: bestimmt ein paar unabsichtlich abgeblätterte Hautschuppen, ein wenig Blut und Schorf aus frisch verheilenden Wunden, Sperma und Scheidenflüssigkeit – auch das eine oder andere Schweißtröpflein und Tränchen wurde mit eingearbeitet.
Während du nicht hinsahst webte ich noch einige Nerven zwischen die zarten Körnchen des Tons; Venen und Aterien flochten sich nun tief im Inneren dessen und auch meine rechte Herzkammer verschwand im gefügigen Braun. Blind lächelnd verband ich Organe, eines nach dem anderen, mit unserem Steingut-Projekt und nahm an, du tatest das Gleiche, während ich mal nicht hinsah.
Nun ging es ans Brennen.
Umschlungen wartend sahen wir den orangenen Schrühflammen des Sinterofens viele Stunden zu und am nächsten Tag beobachteten wir dann den Glattbrand der knallig roten Glasur auf ein Neues, dass wir bald schon das Blinzeln und Atmen vergaßen – bis er endlich fertig geglüht war. Kaum auszuhalten war das langsam schonende Abkühlen, welches von der Literatur für die Reduktion von inneren Spannungen vorgeschrieben war, doch hielten wir es gewissenhaft, wenn auch fingernagelkauend, ein.

Wir haben ihn so genossen.
Jede Mahlzeit haben wir von ihm gegessen und alle schmeckten phantastisch, ob ungewürzt oder versalzen, fade oder viel zu scharf – es waren alles Festmahle; von den Frühstückseiern am Morgen bis zum Abendbrot. Wir schafften uns eine Einbauküche an und er wurde das alleinige Küchenutensil, das wir besaßen; gossen auch Getränke auf ihn und schlürften genüsslich von der glatten Oberfläche des Artefakts.
Wir luden nicht häufig Freunde zu uns ein, aber wenn, so waren sie zwar meißtens verwirrt über das Einzelstück in der Küche, jedoch waren sich alle einig, dass dies eines der schönsten und feinst gearbeiteten Stücke Geschirr sei, das ihnen je die Freude bereitet hatte, es zu Gesicht zu bekommen. Am liebsten jedoch waren wir alleine mit dem Teller; saßen am Küchentisch und betrachteten ihn und seine makellose Oberfläche in dem sich das Sonnenlicht nicht nur zu spiegeln, sondern geradezu zu verstärken schien, wenn er dort, wie ein ewiger Monolith, in der zeitigen Abendsonne des Frühjahrs stand.

Als dann jenen Datums die Nacht von einem Geräusch zerfetzt wurde, einem Geräusch nicht von dieser Welt – ein reißendes Schreien, als ob man ein Klavir, ein Rudel wilder Katzen, eine Kindergartengruppe, eine Hand voll Küchenmesser und luntenbrennende Feuerwerkskörper in eine Kiste geworfen hätte und diese dann gründlich durchgeschüttelte hätte; ein Geräusch, dass noch mehr Nachdruck durch sein Gegenüberstellen zur spießbürgerlichen Stille der Nacht erlangte, jene Stille, dessen Wahrung nur durch schrecklichste Notfälle gebrochen werden durfte, wenn es nicht zur Beschwerde beim Vermieter kommen sollte – als eben jenes Geräusch jäh unseren Schlaf durch seine klirrende Knochenrüttelung vorzeitig beendete, lagen wir, entgegen der wohl nachvollziehbaren Meinung Unbeteiligter, dass es zu Aufsprüngen und sofortiger Wachheit hätte führen sollen, still und gefroren in unseren neuen Laken; unsicher, ob ein weiterer Quantenwürfelwurf Gottes uns den gleichen schrecklichen Traum beschert hatte.
Wir kniffen beide die Augen fest zu, als ob es das Geräusch und dessen Ursache rückgängig machen könne.
Ich schlief sogar wieder ein. Es war ein ohnmächtiger, traumloser Schlaf, der mich so lange umsponn, wie es noch nie zuvor einer getan hatte. Du wirst mir in einem Jahrzehnt erzählt gehabt haben, dass du mich zu wecken versucht hast, doch das weiß ich weder jetzt, noch wusste ich es damals, als ich so tief im Schwarz Apnoetauchen war, dass einem beim Zusehen schon der Atem gestockt hätte.
Als ich erwachte lag ich alleine im Bett. Die Matratze war geschrumpft im Schlaf – auf 80 Zentimeter.

Die Tür zur Küche stand einen Spalt offen und hineinspähend sah ich nichts – kein Rauch, keine Trümmer; vor allem aber sah ich keine Scherben. Die Küche war so leer, wie beim Einzug.
Der Besen stand verstaubt in einer Ecke – du hast alles aufgeräumt, zusammengekehrt und mitgenommen.

Viele Monate las ich Berichte und Artikel von Sprengexperten – versuchte mir zusammenzureimen, was geschehen war, doch ohne die Überbleibsel des Unglücks, ließ sich nichts herausfinden.
Ich versuchte dich zu kontaktieren, aber du warst in ein fremdes Land gezogen.
Was aus den Scherben geworden ist, habe ich nie erfahren.


© Ja


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