Jetzt fahr’n wir übern See

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Der Tag war sonnig und friedlich. Sie hatten für das Wochenende ein Zimmer in einem komfortablen Hotel gebucht, das für seine Lage am See und seine Sterneküche berühmt war. Sie wollten den Alltag vergessen, abschalten, allen Frust und Ärger für ein paar Stunden hinter sich lassen. Ein langer Spaziergang am Vormittag, dann das übersichtliche, feine Mittagsmenü und nach dem Essen Entspannung im weitläufigen Park. Gegen Spätnachmittag, die Sonne näherte sich bereits dem Horizont, schlug er eine Bootsfahrt vor, um sich vor dem opulenten Abendessen den notwendigen Appetit zu verschaffen. Er war überrascht, als sie sofort einwilligte, da sie spontanen Unternehmen eher zögerlich gegenüberstand und sie meistens ablehnte.

Sie gingen zu dem nahegelegenen Bootsverleih und er vereinbarte mit dem Besitzer, einem alten Mann mit grünem Jägerhut, dass sie erst nach Rückkunft und dann für die tatsächliche Dauer bezahlen würden. Der Verleiher drückte das schmale Boot fest an den Bootssteg und half ihnen beim Einsteigen, konnte aber nicht verhindern, dass es stark schwankte, als sie sich mit ihrem beträchtlichen Gewicht auf den hinteren Sitz plumpsen ließ. Sie atmete tief durch, setzte ihre Sonnenbrille auf und drückte die kleine, weiße Handtasche resolut auf ihren Schoß, während ihr Mann sich geschickt an ihr vorbeischlängelte, den Ruderplatz einnahm und die Ruder in die Dollen einhängte. Dann gab der alte Mann dem Kahn einen kräftigen Stoß.

Er hatte schon lange nicht mehr gerudert und tat sich anfangs schwer, wurde aber bald immer sicherer und legte sich, nachdem er seinen Rhythmus gefunden hatte, mächtig ins Zeug. Das Boot entfernte sich rasch vom Bootssteg, der schon bald nur noch undeutlich auszumachen war, das Ufer verschwamm im Dunst des Nachmittags. Es war kühler geworden und in einiger Entfernung war eine Nebelbank, auf die sie geradeswegs zusteuerten. Die Frau schauerte und bedauerte wortreich, ihre Strickjacke nicht mitgenommen zu haben, während er sich durch die Ruderarbeit warm hielt und ihr Jammern ignorierte. Nach einer Weile schwieg sie resigniert, hielt aber ihr Schweigen nicht lange durch. Sie würde sich mit Sicherheit eine Erkältung holen und darauf habe sie gar keine Lust und er solle doch bitte umkehren, sofort umkehren, bitte schön. Der Mann, derartige Stimmungsschwankungen gewohnt, antwortete auch jetzt nicht, sondern ruderte verbissen weiter, wegen der Anstrengung heftig schnaufend und schwitzend.

In der Nebelbank angekommen, legte sich die helle, weiße Suppe augenblicklich feucht, kühl und watteartig auf sie und die Sonne war nur noch als diffuser Fleck zu erkennen. Es gab in dieser seltsamen Nebelstille nichts, an dem sich die Augen hätten orientieren und nichts was die Ohren hätten orten können. Doch diese einlullende Stille wurde schon bald durch das erneut einsetzende Klagen und Nölen der verfrorenen, inzwischen auch noch verängstigten Frau unterbrochen, das an und abschwoll, mal ein deutliches Fordern, mal ein hilfloses Wimmern war. Sie spüre ihre Arme und Beine vor lauter Kälte schon nicht mehr und sie würden aus diesem Nebel nie mehr herausfinden, nie mehr und sie habe jetzt Hunger und Angst, jawohl Angst dass sie sich verirrten und er solle nur nicht so dreckig lachen. Denn statt auf ihr Klagen einzugehen oder sie gar zu trösten, hatte er nur sarkastisch gelacht und aufgehört zu rudern. Er holte die Ruder ein und legte sie in das Boot, dann beugte er sich mehrmals vor und zurück, um seinen verspannten Rücken zu lockern. Das Boot begann zu schwanken, zuerst ganz sanft, ganz leicht, dann jedoch stärker und immer stärker. Für sie ein neuer Grund zu zetern, er solle mit diesem Quatsch aufhören, sie würden noch beide ins Wasser fallen. Ihre Angst zu ertrinken war sehr groß, seit sie als Kind in einen Teich gefallen und erst im letzten Moment gerettet worden war. Sie hatte daraufhin nie mehr einen Versuch unternommen, schwimmen zu lernen. Er kannte ihr Angst, hörte jedoch mit seinen provokativen Entspannungsübungen nicht auf und schalt sie einen Angsthasen, mit dem man nichts, aber auch gar nichts anfangen könne. Sie schwieg beleidigt. Als er merkte, dass er ihre Angst mit seinem kindischen Gewackel nicht weiter steigern konnte, stellte er es ein und verstieg sich stattdessen in Schimpf- und Hasstiraden. Was denn schon dabei sei, in eine Nebelbank zu fahren, es sei ja schließlich Sommer und solange man die Sonne noch erahnen könne, würde er auf jeden Fall, er betonte „auf jeden Fall“, zurück finden und außerdem sei der See nicht so groß als dass man sich verirren könnte und sie solle endlich den Mund halten, obwohl sie seit dem Ende des Geschaukels kein einziges Wort gesagt hatte. Einmal in Fahrt gekommen, beschränkte er sich nicht mehr auf den konkreten Anlass seiner Wut sondern landete beim Grundsätzlichen, bei seinem Lieblingsthema, bei ihren schwelenden Beziehungsproblemen. Sie gehe ihm schon seit langem auf den Geist. Sie sei eine doofe Nuss und er wisse gar nicht, wie er auf die Schnapsidee gekommen sei, sie zu heiraten und er frage sich jeden Tag, warum er immer noch mit ihr zusammen sei.

Das Boot dümpelte vor sich hin und schaukelte sanft im Takt der kleinen Wellen, die ein aufkommender leichter Wind verursachte. Er hatte sich in Rage geredet und losgeworden, was er loswerden wollte. Nun schwiegen beide. Nach einer Weile bückte er sich, um die Ruder wieder einzuhängen und die Rückfahrt anzutreten. Sie jedoch glaubte, er wolle wieder mit dem Geschaukel anfangen und ihre aufgestaute, mühsam zurückgehaltene Wut, ihre halbversiegte Angst, ihr permanenter Frust brachen sich plötzlich Bahn. Sie schrie ihn an, er solle sich unterstehen das Boot wieder umkippen zu wollen. Er sei ein sadistisches, gefühlloses Arschloch, ein Idiot, der sie immerzu quäle. Er, gründlich missverstanden, war über diesen Ausbruch zunächst sichtlich verblüfft, doch dann blickte er sie böse an und begann aus Trotz und Sadismus nun erst recht, das Boot zum Schwanken zu bringen. Er wackelte heftig mit seinem Oberkörper von links nach rechts, von vorne nach hinten und das Boot reagierte auf seine Bewegungen, immer schneller, immer heftiger. Sie hielt sich mit beiden Händen an dem schmalen Sitzbrett fest, die Handtasche war auf den Boden gefallen, auf dem auch die Sonnenbrille lag und schrie mit sich überschlagender Stimme, er solle aufhören, sofort aufhören. Sie wolle mit solch einem Blödmann keinen Abend, keine Nacht mehr verbringen, sie scheiße auf das Abendessen, auf das Hotel, auf das Wochenende und reise noch heute ab. Da er unbeeindruckt seine Bewegungen fortsetzte, hielt sie erschöpft und außer Atem inne und versuchte nach einer Weile ihn mit Flehen und Betteln umzustimmen. Er solle doch bitte, bitte aufhören und sie wolle auch wieder gut zu ihm sein und sie könnten doch ihren Zwist vergessen und jetzt umkehren. Doch nun war er störrig und statt einzulenken, richtete er sich in dem schmalen Boot auf und verstärkte die Schlingerwirkung. Sie weinte und sagte wieder, dass sie endgültig gehen wolle, nicht nur abreisen, nein, sie wolle sich scheiden lassen und ihre Worte erstickten fast in ihren Tränen. Doch er stellte nur höhnisch fest, sie wisse doch gar nicht, was sie da sage, von was sie denn, bitte schön, leben wolle, sie hinge doch voll von ihm ab, voll und ganz, von ihm und nicht nur von seinem Geld. Sie sei doch ohne ihn ein Nichts, ein Garnichts, ein Fliegenschiss. So ging es noch eine Weile weiter, bis er sich abreagiert hatte, dann setzte er sich wieder hin, hörte mit dem Gewackel auf und beide schwiegen erneut. In diese Stille, die einige Minuten andauerte und schon fast das Ende ihres Streits zu sein schien, sagte sie dann ganz ruhig, ganz leise, ganz ohne Schluchzen, seltsam gefasst und entschlossen, dass sie ihn nicht brauche, dass sie ohne ihn leben könne, er werde es schon sehen.

Diese ruhigen Worte ärgerten ihn seltsamerweise mehr als ihr Geschrei und ihr Geheul, mehr als ihre Tränen und ihre Wut. Er packte eines der Ruder und fuchtelte damit drohend über ihrem Kopf, stieß wüste Flüche und Verwünschungen aus, stand erneut auf, stieg sogar, um sein Tun und seine Worte zu verstärken auf die Ruderbank und wuchtete mit langen, ausholenden Bewegungen das Ruder von links nach rechts und von rechts nach links. Daraufhin schwankte der Kahn so bedrohlich, dass ein Schwall Wasser nach dem anderen über Bord schwappte und die Pfütze zu ihren Füßen immer größer wurde. Angesichts dieser konkreten Bedrohung, angesichts des unabwendbaren Ertrinkens oder Erschlagenwerdens und angesichts des rasenden Mannes, ihres Mannes, der hoch über ihr stand und mit dem Ruder so bedrohlich gestikulierte, wuchs ihre Angst zur Todesangst und mobilisierte ungeahnte Kräfte. Als er, so glaubte sie, zu einem endgültigen, einem finalen Todesschlag auf ihren Kopf ausholte, ließ sie sich rückwärts von dem schmalen Brett fallen, riss dabei mit einer unvermutet schnellen Bewegung ein Bein hoch und trat ihm mit aller Kraft den spitzen Absatz ihres Stöckelschuhs zwischen die Beine. Er versuchte dem Tritt auszuweichen, heulte auf, als sie ihn dennoch traf, ließ das Ruder los, das aufplatschend ins Wasser fiel und griff sich, Linderung suchend, in den Schritt. Dabei verlor er das Gleichgewicht, schwankte noch stärker als das Boot und eine Sekunde später erfolgt ein zweites, diesmal weit heftigeres Aufklatschen.

Sie zog sich langsam an der Bordwand hoch und setzte sich auf das Brett. Dann sah sie, wie ihr Mann, ein, zwei Meter vom Boot entfernt, heftig mit den Armen ruderte, nach Luft japste, keuchte, Wasser soff und ausspie und dazwischen atemlos rief, sie solle ihm helfen, verdammt noch mal, und ihm endlich das Ruder hinstrecken, das zweite, das auf der Bank liege. Sie strich sich die Haare zurück und ergriff dann das Ruder mit beiden Händen. Er war mit seinem wilden Herumgefuchtel, mit seinen unsystematischen, hilflosen Schwimmbewegungen immerhin bis an das Boot herangekommen, hielt sich mit beiden Händen an der Bordwand fest und versuchte sich daran hochzuziehen. Sie schaute zu, machte aber keine Anstalten, ihm zu helfen. Als er schon ein Bein über die Bordwand gehievt hatte und das Boot sich dadurch so weit neigte, dass es fast umkippte, kehrte die Todesangst vor dem Ertrinken, die sich nach ihrem Befreiungstritt gelegt hatte, auf einen Schlag wieder zurück. Sie wollte nur noch diese entsetzliche Gefahr abwenden, dieser bedrohlichen Situation endgültig entkommen. Sie fasste das Ruder noch fester, hob es über ihren Kopf und schlug mit aller Kraft auf die klammernden Finger. Ein tierischer Schrei, ein lautes Platschen als er los ließ, ein erneutes heftiges Schwanken des Bootes in die andere Richtung, ein blubbernder, erstickter Ruf. Seine wild um sich schlagenden Arme wirbelten das Wasser auf, er näherte sich wieder dem Boot, da schlug sie noch einmal zu. Sie schlug mit aller Kraft auf seinen Kopf, der aus dem Wasser ragte, dann ging er unter. Alle Geräusche waren verstummt, das Wasser beruhigte sich, das Boot fand in eine stabile Lage zurück. Die nebelwattige Stille wurde durch nichts mehr gestört.

Sie starrte eine Weile wie gelähmt auf das Wasser, auf die Stelle, an der er versunken war, als fürchtete sie sich, dass er wieder auftauchen könne. Dann tauchte sie das Ruder in das Wasser und versuchte paddelnd voranzukommen. Das Boot drehte sich im Kreis und schlingerte, doch schließlich schaffte sie es, aus dem Nebel hinauszufinden. Sie sah wieder die Sonne, die gerade dabei war, unterzugehen und sie sah in einiger Entfernung einen Fischer in einem kleinen Kahn, der seine Netze auslegte und von dem Geschehen in der Nebelbank offensichtlich nichts mitbekommen hatte. Bevor sie anfing, laut zu rufen und das hochgehaltene Ruder zu schwenken, hob sie das Handtäschchen aus der Pfütze auf, entnahm ihren Taschenspiegel und prüfte ihr Aussehen. Als der Fischer sie endlich bemerkte, kam er rasch auf sie zu. Sie verspürte plötzlich großen Hunger.


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