Der wohl größte Held der Weltgeschichte war Overstar. Kein anderer erfreute sich größerer Beliebtheit und noch viel größeren Anzahl an Spielfilmverträgen. Niemand konnte es mit seinen Einnahmen aufnehmen und so gefiel es ihm. Ein Superheld seines Formates durfte sich gerne die Rosinen aus dem Kuchen picken und das war auch nötig. Immerhin wollte er die Nummer eins bleiben und da konnte er sich um solchen Kleinkram wie Müllsammeln oder andere karikative Zwecke nicht kümmern. Es musste immer etwas großes, dramatisches sein und dafür gab er Unmengen an Geld aus, um möglichst präzise Katastrophenvorhersagen zu treffen.

    »Also, James, was haben wir denn heute alles für mögliche Heldentaten?«

    James war sein Assistent und hieß eigentlich Jeffrey, allerdings ließ dieser es für das exorbitante Gehalt über sich ergehen. »Nun, wir hätten heute ein Erdbeben, welches voraussichtlich hunderttausend Menschen das Leben kosten wird.«

    »Bitte, nicht schon wieder. Diese Naturkatastrophen öden mich zutiefst an.«

    »Ein Attentat auf einen bekannten Politiker. Aber wir hätten auch ein brennendes Waisenhaus.«

    »Politik interessiert doch heute niemanden mehr. Und obwohl ich es liebe gewisse Heldenklischees zu erfüllen, so bin ich heute nicht in der Stimmung für Gutmenschentaten. Was ich brauche ist etwas episches. Etwas, dass beweist, dass ich der Größte bin. Ein Kampf gegen einen großen Unhold, eine Alien-Invasion, ein Imperium des Bösen das sich erhebt, verstehst du, was ich da meine? Haben wir heute so etwas im Angebot?«

    »Mal sehen... wir haben... Einen Handtaschendieb.«

    »Einen Handtaschendieb?«

    »Einen Handtaschendieb«, bestätige Jeffrey alias James.

    »Hast du mir überhaupt zugehört?«, fragte der Held zerknirscht.

    Daraufhin ließ der Assistent eine Akte auf den Tisch fallen. »Eddie Workout, genannt Eddie der Große. Sieben Verhaftungen wegen besagten Diebstahls, Widerstand gegen die Staatsgewalt und noch diverserer anderer kleinerer Delikte. Er neigt dazu sich in ein gewaltiges Monster zu verwandeln, wenn er kämpft.«

    »Wenn das so ist, wieso klaut er dann noch Handtaschen?«

    Jeffrey zuckte unwissend mit den Schultern. »Mangelhafte Intelligenz.«

    »Ist er irgendwie stark?«

    »Nein, aber seine Ungeheuerform ist überaus beeindruckend und fotogen.«

    »Gekauft.«

    
Dieser Tag war wieder einmal sehr lohnend gewesen. Ein paar gekaufte Reporter und aus Eddie war ein gewaltiger Schurke geworden. Und zufälligerweise war natürlich immer einer von ihnen vor Ort gewesen, um das Geschehene aus dem richtigen Winkel festzuhalten. Ab und an hatte sich Overstar sogar selbst treffen lassen, um den Zweikampf dramatischer darzustellen.

    Nun ging es für den Schurken ab ins Atlis, ein Unterwassergefängnis für die gefährlichsten Unruhestifter mit Superkräften. Zum Glück war Eddie des Kampfes wegen bewusstlos, sonst hätte er bestimmt geflennt und angefangen nach seiner Mami zu schreien. Dieser Ort war nur für die übelsten Kerle bestimmt und das war er ganz bestimmt nicht, doch der Held hatte ihn zu einem gemacht. Eigentlich müsste er Overstar dafür danken dass er ihn jetzt zu einer Berühmtheit gemacht hatte. Er durfte erzählen wie er den größten Helden aller Zeiten beinahe besiegt hätte.

    Als er neben den Aufzug stand der nach unten zu den Zellen führte, begegnete er einem Kollegen.

    »Lange nicht mehr gesehen, Overstar.«

    »Ah, Puncher! Grüß dich. Was verschlägt dich denn hierher? Wie du siehst, kennst du meine Gründe bereits«, er zerrte an seinem ohnmächtigen Gefangenen, um den Blick auf ihn zu lenken.

    »Ich bin auch wegen eines Gefangenen hier. Er soll mir ein paar Informationen geben.«

    »Darf man sich erkundigen, wer der Glückliche ist?«

    »Andrew A. Anderson I.«

    »Oh, ich erinnere mich. Du hast seinen Sohn angeblich kalt gemacht.«

    »Die Leiche hat man nie gefunden.«

    »Und seitdem suchst du immer noch nach ihm. Soweit ich weiß.«

    »Du bist gut informiert, so wie immer.«

    Der Fahrstuhl klingelte. »Oh, das ist meine Etage. Hier muss ich nun raus.«

    »Wir sehen uns, Overstar.«

    Puncher war ein seltsamer Kerl auf den der Held schon lange Zeit ein Auge hatte. Trotz seiner Heldentaten lehnte er jegliche Beförderungen in die zweite Klasse ab. Scheinbar besaß er keinerlei Ehrgeiz aus der dritten Klasse aufzusteigen. Nichtsdestotrotz waren jedoch seine Taten von großer gesellschaftlicher Auswirkung. Overstar hatte selbstverständlich auf all solche Helden ein Auge. Er würde nicht lange die Nummer eins bleiben, wenn er nicht auf die Konkurrenz achtete.

    
Ein weißer Raum in den tiefsten Tiefen von Atlis und keine Möglichkeit die eigenen Kräfte zu nutzen. Nur die größten Schurken wurden in so einen Raum gesperrt. Die meisten wurden innerhalb kürzester Zeit wahnsinnig. Andrew hatte hingegen eine Methode gefunden wie er diesem grässlichen Weiß entkommen konnte. Er floh aus seinem Gefängnis in ein anderes. Seine Erinnerungen, sein Geist, dort konnte dieser Raum nicht hingelangen. Es stimmte was gesagt wurde, seinen Körper konnten sie einsperren, nicht aber seinen Geist. Aber in seltenen Fällen kehrte jener in seine Zelle zurück. So zum Beispiel wenn er Besuch bekam und das konnte nur einer sein. Puncher kam immer wenn er Informationen über seinen unglückseligen Sprössling haben wollte. Er verriet gerne seinen Sohn. Es war seine Art sich für dessen Verrat zu revanchieren. Andrew II. hatte ihn hierhin gebracht. Aber er konnte nicht tot sein. Die Andersons waren zähe Mistkerle. Er war ebenso einer wie sein Sohn und dessen Sohn. Beim Gedanken an seinen Enkel schlich sich ein leises Lächeln auf seine Lippen. Das jedoch schnell erlosch, als er sich wieder bewusst wurde, dass er nicht allein war.

    »Lassen wir die Höflichkeiten und kommen gleich zum Geschäftlichen«, meinte der alte Mann, ohne sich zu seinem Gegenüber umzudrehen.

    »Ganz wie du meinst, Anderson. Ich habe einige Fragen zu deinem Enkel.«

    Das kam jetzt überraschend. »Wieso? Er ist nicht von Belang für dich.«

    »Jetzt schon. Ich habe gesehen wie er zwei große Schlägertypen mit einem einzigen Schlag pulverisiert hat und dann diese Aura und die roten Augen... Sehr ... beeindruckend.«

    Das Lächeln des alten Schurken kehrte breiter denn je zurück. »Ich weiß, er ist etwas ganz besonderes.«

    »Ich will mehr über seine Kräfte wissen.«

    »Kennst du das Bild "Licht & Schatten" vom Maler H. Trezus?«

    »Ich interessiere mich nicht für Kunst.«

    Andrew sah es genau vor sich mit jedem Detail. »Es zeigt auf der linken Seite das lichte Paradies mit Wolken, Engeln und Gott. Auf der anderen Seite sind Dämonen in einer Schattenwelt und der Teufel zu sehen. Eigentlich ein weitverbreitetes Motiv, mit einer Ausnahme. Einem winzigen Detail.«

    »Und das wäre?«

    »Sowohl die Engel als auch die Dämonen sind angekettet. Und das Ende dieser Fesseln sind die Herzen ihrer jeweiligen Herren. Anders ausgedrückt«, er wandte sich jetzt zum ersten Mal dem Helden zu. »Mein Enkel ist das Böse, welches uns Schurken im Zaume hält.«

    »Also kann er, selbst wenn er es wollte, seine Kräfte nicht nutzen um Unschuldige zu verletzen?«

    »Leider nein. In meiner Familie tragen alle ähnliche kriminellen Energien in sich, wenn auch nicht so stark. Er will vermutlich in die Fußstapfen seines Vaters und Großvaters treten, doch der direkte Weg wird ihn für immer versperrt sein.«

    »Vielleicht gibt es noch Hoffnung für ihn. Er hat sich erst gestern eingetragen. Ich werde ihn an der Akademie fördern, ihn unter meine Fittiche nehmen und mich bemühen ihn auf den rechten Pfad zu bringen.«

    »Tu, was du nicht lassen kannst, Held«, warf Andrew sein Gegenüber noch hinterher, als dieser den weißen Raum verließ. Der alte Mann drehte sich um und Puncher verließ die Zelle wieder auf den gewohnten Weg. Sein Geist kehrte an einen sonnigen Frühlingsnachmittag zurück in welchem er in seinem großen Anwesen seinen jungen Enkel zu Besuch hatte. Er wollte ihm einiges für sein späteres Leben beibringen, doch seine Kräfte waren schon damals so stark gewesen, dass er keinerlei Chance hatte und es auch niemals haben würde. Dennoch machte ihn dieses Wissen glücklich, dass der Teufel aus seiner Blutlinie entstanden war. Sie würden ihn niemals zu einem der ihren machen können. Es war wider die Natur. Allerdings ahnte er schon, was Andy vor hatte. Keine schlechte Idee. Er kann auf den direkten Wege nicht König werden, also musste er Umwege in Kauf nehmen. Unwillkürlich wanderte sein Kopf nach oben und kam zu einem furchteinflößenden Schluss: Wenn es den Teufel gab, war dies ein gewisser Beweis für die Existenz Gottes. Und dieser Umstand machte ihn mehr zu schaffen als alles andere. Vielleicht brauchten die Helden Andy mehr als sie jetzt zugeben mochten.

    
The End


© EINsamer wANDERER


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Beschreibung des Autors zu "Der andere falsche Held"

Nicht jeder der wie ein Held aussieht und sich so nennt, ist auch einer.

Der falsche Held (Gegenstück): https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/13/Kurze/68480/Der-falsche-Held/

Die Hinterfragung der moralischen Identität: https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/13/Kurze/66487/Die-Hinterfragung-der-moralischen-Identitaet/
Der alte Dunkelelf und seine Tochter: https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/12/Fantasie/67175/Der-alte-Dunkelelf-und-seine-Tochter/
Die Helden, die böses tun müssten, um Helden zu sein: https://www.schreiber-netzwerk.eu/de/2/Geschichten/12/Fantasie/67738/Die-Helden,-die-boeses-tun-muessten,-um-Helden-zu-sein/
Auch Schurken haben ein Herz: Coming Soon
Auch Helden sind hirnlos: Coming Soon
Der Tausch der moralischen Identität: Coming Soon

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