Fliegen.
Immer weiter, immer höher und immer schneller.
Sie wollte sich schon lange einfach fallen lassen. Einfach ihre Augen schließen und loslassen.
Höher, schneller und weiter.
Hattest du mal diesen einen Traum, in dem du auf einer Klippe stehst? Kurz vor dem Abgrund? Ganz allein? Ja? Nein?
Sie hatte diesen Traum nie, aber trotzdem ist er wahr geworden.
Die Arme hatte sie weit geöffnet, die Augen fest verschlossen und ihr Atem ging ruhig.
Sie war bereit.
Bereit zu fliegen.
Hoch, weit und schnell.
Als sie einen Schritt vortrat, bereit zum Springen, öffnete sie doch ihre Augen und blickte nach unten.

Dort stand er.
Die Hände tief in seinen Hosentaschen und ebenfalls wenige Zentimeter vor dem Abgrund entfernt. Sie trat noch einen weiteren winzigen Schritt vor, um einen noch besseren Blick auf ihn zu werfen.
Dabei lösten sich kleine Kieselsteine von dem Untergrund und purzelten schräg hinunter auf den Felsvorsprung, auf dem der fremde Junge stand. Dieser bemerkte es und drehte sich um. Verwundert, wer ihn in seiner Ruhe störte. Er schaute hoch und seine Augen fanden dabei das Mädchen mit den geöffneten Armen. Wie ein Vogel stand sie dort schräg über seinem geheimen Felsvorsprung, auf der großen Klippe ganz weit vorn.
Er legte den Kopf schief und rief: „Kleiner Vogel, möchtest du fliegen?“
Das Mädchen sah ihn mit großen Augen an, antwortete aber nicht.
„Hast du etwa Angst, kleiner Vogel?“, fragte er weiter.
Sie ließ ihre Arme sinken und betrachtete den geheimnisvollen Jungen genauer. Zottelige Haare bedeckten seinen Kopf und ließen ihn recht jung aussehen. Sie fasste ihren ganzen Mut zusammen und rief zu ihm herab: „Möchtest du denn auch fliegen, geheimnisvoller Junge?“
„Nein, kleiner Vogel. Ich kann es bereits. Nun bin ich hier, um anderen Verlorenen das Fliegen beizubringen", sagte er und sah dabei aus wie ein Engel, der gefallen war.
Sie sah ihm dabei zu, wie er sich wieder umdrehte und seine Arme, wie sie zuvor, ausbreitete. Er wollte gerade den letzten Schritt vortreten, als sie laut rief: „Kannst du mir auch zeigen, wie man fliegt?“
Er stoppte in seiner Bewegung, drehte sich aber nicht um. Nach kurzem Zögern ließ er seine Arme wieder sinken und drehte sich um. Er sah sich den kleinen Vogel genauer an. Ein knallgelber Regenmantel verdeckte ihren Körper und lange Haare fielen ihr in die Stirn.
„Ich kann dir das Fliegen beibringen, kleiner Vogel. Du darfst aber keine Angst haben und musst mir vertrauen. Erst dann wirst du das Fliegen lernen,“ sprach er bedächtig und achtete auf seine Wortwahl. Normalerweise sprach er nicht so viel, schon gar nicht mit fremden Mädchen. Er wollte ihr wirklich zeigen, wie man fliegt, aber er konnte nicht zu ihr hoch oder sie zu ihm hinunter. Also musste er ihr es von dieser Entfernung beibringen. Langsam setzte er sich mit dem Rücken zum Abgrund in einen Schneidersitz. Mit einer Geste bedeutete er ihr, das Gleiche zu tun.
Das Mädchen setzte sich auf den Rand der Klippe und ließ ihre Beine baumeln. Ihre Hände klemmte sie unter ihre Oberschenkel und beugte sich ein wenig vor, um den Jungen besser sehen zu können. „Fang an. Ich höre dir zu, geheimnisvoller Junge. Erzähle mir, wie man das Fliegen erlernt“, sagte sie zu dem Jungen mit den zotteligen Haaren. Sie fragte aber auch gleich: „Beherrschst du denn wirklich das Fliegen?“
„Natürlich beherrsche ich es, sonst würde ich es dir nicht beibringen können“, antwortete er charmant. Er nahm einen kleinen Stein in seine Hand und warf ihn paarmal in die Luft. „Siehst du diesen Stein, wie er immer wieder zurück in meine Hand fällt? Siehst du, wie schwer er sich macht? Er ist zu schwer, um zu schweben. Die Erde nimmt ihn wieder zurück. Er ist nicht für das Fliegen gemacht, weil er zu schwer ist. Deine erste Aufgabe also wird es sein, all die Last zu verlieren, die du auf deinen Schultern trägst. Dabei wirst du merken, wie leicht du dich danach fühlen wirst. Wenn du es nicht fühlst, weißt du, dass die Erde noch nicht bereit ist, dich gehen zu lassen.“
Verdutzt schaute das Mädchen von oben auf ihn herab. „Aber ich bin doch kein Stein! Das wird nicht funktionieren.“ Sie schüttelte ihren Kopf.
„Vertraue mir“, sagte er.
Sie schloss ihre Augen und fühlte in sich hinein. Sie spürte die Schwere in ihr. Die Last auf ihren Schultern, die sie daran hinderte, aufrecht zu stehen. Diese Last drückte sie hinab, zog sie hinunter zum Boden, auf den sie sich am liebsten legen wollte. Sie merkte den Druck in ihr, der sie so schwer belastete. Was sagt der Junge noch gleich?Sie müsse sich leicht machen. Kann es so einfach sein?
Sie öffnet ihren Mund und…
Kein einziges Wort verließ ihre Lippen. Sie schloss ihn nur, um ihn gleich wieder zu öffnen.
Auf und zu.
Auf und zu.
Das ging eine Weile so. Ihr stiegen Tränen in die Augen, weil die Situation sie so überforderte. Sie verstand nicht, warum keine Worte ihren Mund verlassen wollten. Verzweifelt schaute sie zu dem Jungen hinab, der sie die ganze Zeit nur still beobachtet hatte.

„Weißt du, manchmal ist es schwer loszulassen. Vor allem wenn man so viel an Schwere in sich trägt wie du. Probier es weiter. Es wird dir gelingen“, sprach er wieder bedacht.
Das Mädchen nickte einmal und öffnete wieder ihren Mund. Doch ihr wollten partout keine Silbe über die Lippe treten. Immer mehr Tränen stiegen in ihre Augen und als sie wieder den Jungen sah, der so seelenruhig da saß und dabei lächelte, als hätte sie ihm ein großes Geschenk allein mit ihrer Anwesenheit gemacht, kullerten die aufgestauten Tränen ihre Wangen hinab. Sie tropften auf ihren Schoß und durchnässten den Jeansstoff ihrer Hose. Der Strom an Tränen wollte nicht mehr versiegen. Als sie dann noch an alles vergangene dachte, brach sie mental zusammen.
Da kamen die ersehnten Wörter endlich aus ihrem Mund, aber in Form eines tiefen Schluchzen und vielen darauf folgenden.
„Shhh, kleiner Vogel, alles wird gut. Lass die Schwere und die Last heraus. Befreie dich davon.“
Immer weiter weinte das Mädchen im knallgelben Regenmantel. Nach einer halben Ewigkeit spürte sie es. Der Druck in ihrem Inneren ließ nach. Ihre Schultern bebten immer weniger und sie hörte auf zu schluchzen. Die Tränen versiegt schließlich. Mit einer Hand wischte sie sich die Augen trocken, seufzte noch einmal und lächelte vorsichtig.
„Ich spüre es. Ich spüre, dass die Erde mich gehen lässt. Sie hält mich nicht mehr fest“, sprach sie zu dem Jungen.
Er schüttelte nur den Kopf und sagte: „Danke nicht mir, sondern dir selbst. Ich habe dir nur einen kleinen Schubser in die richtige Richtung gegeben, kleiner Vogel.“
Er warf den Stein, den er immer noch in der Hand hielt, den Abgrund hinunter.
„Hast du noch Angst, kleiner Vogel?“, fragte er leiser als gewöhnlich.
„Ein wenig“, gestanden sie.
„Wovor fürchtest du dich?“
„Ich fürchte mich davor zu fallen, genau wie der Stein. Ich habe Angst, dass die Erde sich um entscheidet und mich doch zurückholt. Ich fürchte mich vor dem Fall“, sagte sie leise, wobei der Wind ihre Worte direkt zu dem Jungen schräg unter ihr trug. So hörte er also, wovor das Mädchen Angst hatte und beschloss, ihr diese zu nehmen:
„Die Erde entscheidet sich nie um. Sie gibt und nimmt, aber nicht frei nach Laune heraus. Sie entscheidet fürsorglich. Den Stein holt sie sich, weil er immer zu ihr gehört hat und gehören wird und das schon seit tausenden von Jahren. Sie kennt ihn gut genug, um zu wissen, dass er auch zurück zu ihr möchte. Immer und immer wieder. Dich aber kennt sie auch und weiß jetzt nach deinem Geständnis und den Tränen, die ihren Boden genährt haben, dass du fliegen möchtest. Das akzeptiert sie, indem sie dir deine Schwere nimmt. Fühlst du dich denn nicht wie eine Feder im Wind? Immer bereit, weg zu fliegen?“
Als er seine kleine Rede mit der Frage beendete, schaute er erwartungsvoll zu dem Mädchen hinauf. Sie schaute entschlossener aus als vor seiner Rede.

Ohne seine Aufforderung stand sie auf, breitete ihre Arme wieder aus und blickte dabei gerade aus.
Der Junge stand ebenfalls in Richtung des Abgrundes auf und schob seine Hände zurück in die Hosentasche. Ein letzter Blick zurück zu seinem kleinen Vogel in der knallgelben Regenjacke und er wusste, dass sie zum Fliegen bereit war. Seine Arbeit war somit getan und er machte einen Schritt ins Leere. Er fiel in die Tiefe und verschwand für immer.

Das Mädchen bemerkte davon nichts. Sie stand noch immer auf der Klippe, mit leichtem Herzen. Sie schloss ihre Augen und trat auch ins Leere. Sie verlor sich aber nicht in der dunklen Tiefe, wie der geheimnisvolle Junge, sondern sie stieg in die Höhe wie ein Engel in den Himmel.

Innerlich dankte sie ihm.
Dem Jungen, der ihr das Fliegen beibrachte.


© Violet E.


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Beschreibung des Autors zu "Der Junge, der ihr das Fliegen beibrachte."

Was bedeutet fliegen für dich?

F-L-I-E-G-E-N.
Seine Flügel spannen und abheben.
Loslassen und gleiten lassen.

Springen und der Welt entgleiten.
Nicht mehr aufwachen.
Den Schmerz und das Leid hinter sich lassen.
Dem Frieden in die Arme fallen.

Frei sein.



Violet E.

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