PIZZA UM ZEHN

© Maid Marion

Ich erinnere mich noch gut an den Sommer 1988. Ich hatte zwei Jahre zuvor meine Prüfung als Diplom-Übersetzerin abgelegt, und arbeitete nunmehr schon seit einem Jahr als Übersetzerin für englische und amerikanische Kurzgeschichten für einen bekannten deutschen Verlag.

Ich hatte Gott sei Dank viel zu tun als freiberufliche Übersetzerin, hatte abgesehen von den literarischen Übersetzungen auch andere Aufträge. Das hieß oft auch Arbeiten am Wochenende. Damals gab es schon die ersten PC's, aber dafür reichte mein Geld nicht. Aber ich hatte einen guten Freund, Wolfgang, der ein kleines Unternehmensberatungsgeschäft betrieb, und ich durfte seinen PC benutzen. Und so saßen wir dann oft am Wochenende in seinem kleinen Büro, er kaffeetrinkenderweise auf dem Sofa, ich am Computer, eifrig meine Übersetzungen tippend.

Dann, meist so gegen zehn Uhr, ließen wir den lieben Gott einen guten Mann sein, beendeten unser Tagewerk, gingen hinunter auf die Straße in die laue Sommernacht, und mischten uns unter die vielen Nachtschwärmer, von denen es um diese Uhrzeit in den engen Kopfsteinpflastergässchen der Altstadt von Saabrücken nur so wimmelte. Schließlich bogen wir in eine kleine Seitengasse ein, und setzten uns an einenTisch direkt vor einer kleinen Pizzeria. Wir bestellten eine Karaffe trockenen Rotwein, und jeder eine Pizza. So saßen wir noch lange da, beobachteten die Menschenmengen, die sich an uns vorüber wälzten, und genossen die stille Harmonie, die uns miteinander verband.

Manchmal, an lauen Sommerabenden, wenn das langgezogene, wehmütige Pfeifen der Vögel an meine Einsamkeit rührt, an mein Fernweh, meine Lust zu Fliegen, dann denke ich oft an diese Abende zurück, und wünschte mir, ich könnte die Zeit zurückdrehen, und noch einmal da, sein, frei und ungebunden, frei und ungebunden. Aber es geht nicht, ich bin ja krank, verletzt, brachliegend, und doch erfüllt von einer unbeschreiblichen, unbändigen Sehnsucht nach dem Leben, nach "himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt", nach Liebe, nach vollommenen Umarmungen, und nicht endenden wollenden, leidenschaftlichen Küssen.

Ich glaube an Reinkarnation. Es kann nach dem Tod doch nicht einfach alles vorbei sein, es muss da noch etwas geben.

Vielleicht werde dich als Königin wiedergeboren, oder als Hure. Ich habe alles in mir, einschließlich allem, was dazwischen liegt.


© Maid Marion


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