Der Wanderer und der Weg

Ein grauer Raum in einem kantigen Gebäude. Er sitzt auf dem klapprigen Gestell von einem Bett und starrt die andere Wand an, die kaum ein paar Meter entfernt ist. Sein Kopf ist leer. Er weiß nur, das er hier raus will: aus den kahlen weißen Wänden überall, im dunklen kargen Flur, der Leere und dieser trostlosen Einsamkeit. Er schlingt die Arme um sich, fröstelnd. Die Zeit vergeht, durch das regelmäßige, in diesem Raum seltsam laute Kratzen der Uhr und scheint doch still zu stehen. Die Vorhänge sind zugezogen. Langsam geht er zum Fenster, öffnet sie und es hängt voller Tropfen. Unbeweglich steht er da und starrt in den Nebel dieses Bauwerks und aus seinen Gedanken in das viel wärmere Licht da draußen, die Sonne. Still und unbemerkt entzündet sich ein kleiner Funke in ihm, eine winzige Glut in der schwarzen Mitte, die nach außen hin ausgeblichen ist, in ein leeres und steinernes eisgrau. Eine starre und glatte Hülle die keine Tür hat. Der Funke wärmt leise sein Herz und furchtsam erblüht die Hoffnung. Darauf setzt er sich hin, zieht seine Schnürstiefel an, nimmt den Anorak vom Haken. Vorsichtig schleicht er an den kahlen flüsternden Wänden in den Fluren vorbei, leise steigt er die düstere steile Treppe hinunter, die Stufen hinab. Gut, das die Wände im Zimmer stumm sind, denkt er sich. Er erreicht den Fuß der Treppe, horcht, kann aber nur ein schwaches Pochen in der Ferne wahrnehmen. Er geht zur Tür,

durchbrach den Nebel und stürmte hinaus: Die mit grauen Steinen ausgelegte Zufahrt entlang durch den schmalen Durchgang in der Hecke, die aus Bäumen und Sträuchern bestand, die kein einziges grünes Blatt mehr trugen. Er fasste Fuß und ging die Straße hinauf, an einer vom Tau gesprenkelten Wiese vorbei. Und links waren hohe Bäume mit Resten vom Herbstlaub. Es wurde wärmer. Der Funke war zu einem warmen kugelförmigen Etwas geworden, das sich jetzt langsam in ihm auszubreiten begann. Ein paar Vögel zwitscherten.
Seine Schritte wurden fester und gleichmäßiger. Der Wanderer.

Leichtfüßig geht er an geschmückten Häusern vorbei. Sie sind schön und viel wärmer. Er biegt an der oberen Ecke in die leicht belebte, aber ruhige Hauptstraße ein. Hier stehen die Gebäude nicht so nahe an der Straße und weiter auseinander. Einzelne Leute gehen vorbei.
Ein älterer Mann mit Hund, er trägt eine karierte Mütze und einen langen olivgrünen Wettermantel. Sie grüßen sich stumm. Seine eisblauen Augen verweilen jedoch nur kurz bei dem Mann, er blickt wieder nach vorne. Ein Geschäftsgebäude einer Einrichtung zieht vorbei und er passiert mehrere Wohnhäuser. Ein kleines Mädchen kommt ihm auf derselben Straßenseite entgegen. Er sieht es durchdringend, aber nur vorbeistreifend an. Interessiert und zur selben Zeit gleichgültig, mustert er sie mit seinem beunruhigenden Blick, voller Sehsucht, schmerzerfüllt, fanatisch. Das Mädchen schaut schüchtern und furchtsam, aber auch mit einer Spur von Neugier zurück. Es trägt einen viel zu großen wollenen braun-grau melierten Mantel, der ihre kleine Gestalt umhüllt. Leichte Schmutzränder sind daran zu erkennen. Dunkle Strumpfhosen schauen unter dem Mantel hervor und ihre Füße stecken in kurzen schwarzen Stiefeln. Über dem grauen Schal aus dünnem Musselin quellen lange Haare aus dem Mantel hervor. Ein schmutziges blond, offen und in zotteligen Strähnen über die Schultern des Mädchens hängend. Ihr Haar ist etwas nass. Einen kurzen Moment behält er das Bild des Mädchens in seinen Gedanken, es mochte vielleicht fünf oder sechs Jahre alt sein.
Mit leicht gesenktem Kopf geht er weiter, kommt am Ende der Häuserreihe an. Er spürt schon sanft das untergehende Sonnenlicht das von Westen kommt. Auf der Brücke, die eine Schnellstraße überspannt und noch einen Zwilling in einem späteren Abschnitt des Weges hat, bliebt er für eine Zeit stehen. Er sieht in den Sonnenuntergang; Das warme Licht, gelborange, das allmählich zu einem rotorange werden würde und den Himmel bunt färbt. Seine blauen Augen blicken in die Ferne.
Er sehnt sich nach dem Süden, nach ein bisschen Wärme.
Ein paar Kilometer weit weg dampft der hohe Turm einer Fabrik. Er sieht hindurch. Hier ist es nur kalt, denkt er. Die Hände in den Jackentaschen, geht er weiter und verlässt den Ort. Ein langer menschenleerer Waldweg liegt vor ihm. Links des Weges stehen Bäume, ein Waldstück, verblichenes buntes Herbstlaub auf dem Boden. Rechts erstrecken sich grüne Wiesen, im Abendlicht intensiver gefärbt als in Wirklichkeit. Der Sonnenuntergang schafft eine eigenartige Atmosphäre und doch so wunderschön. Das genießt der junge Mann. Wo man hier doch sonst nichts genießen kann, denkt er.

Ein paar Pferde, hübsche Tiere mit geschwungenen Staturen, langer windiger Mähne, elegantem Schweif und plüschigen Ohren grasen auf den Weiden. Es gibt sie in hellbraun, dunkelblond, haselnussbraun oder schokoladenbraun. Sie haben eine helle oder dunkle Mähne. Manche haben eine Blässe. Der junge Mann findet sie interessant, trotzdem bleibt er nicht stehen, denn er muss weiter. Er betrachtet sie nur kurz, denn der Wanderer drängt ihn weiterzugehen. Es zieht ihn förmlich weiter.
Während links des Weges weiter Bäume stehen, die Kiefern mit ihren dunklen Nadeln zwischen den Laubbäumen, den Eichen und stämmigen Buchen, erstreckt sich auf der anderen Seite nun eine Heide. Im Frühjahr wird sie blühen, aber jetzt sind nur ein paar Sträucher zu sehen. Wenige Brombeeren hängen noch am Wegesrand in den Dornen.
Der Weg muss immer weiter gegangen werden. Währenddessen kann keiner stehen bleiben, auf dem Weg des Lebens. Wie gerne nur, würde der Wanderer die Blumenwiese sehen. Saftiges und samtenes grünes Gras, auf dem die verschiedensten Blumen wachsen und deren Duft die Luft überall erfüllt und die sich weithin erstreckt. Es gäbe Mohnblumen, Gänseblümchen, Veilchen, Tulpen, Stiefmütterchen, Rosen, Narzissen, Maiglöckchen, Begonien und Wildblumen deren Namen niemand kennt. Alles gedeiht und ist in voller Blüte, bunt und wunderschön, wie ein Paradies.
Aus dem schönen Bild zurückkehrend auf die Gleichläufigkeit des Weges sieht er, wie das Licht der Sonne nachlässt.
Keiner begegnet ihm.
Der Himmel wird bunt und rot. Dann wird das Licht schwächer, verblasst. Blau breitet sich aus. Es wird dunkler. An der Biegung schaut er sich nicht um, denn die Nacht wird erwartet. Er biegt in den tiefen Waldweg, der von beiden Seiten mit hohen Bäumen gesäumt ist. Die Dämmerung tritt ein. Vögel, die eben noch gezwitschert haben, sind nun nicht mehr zu hören.
Es wird still. Die Stille breitet sich langsam aus, streicht über den Boden, das Graß und kriecht zwischen die Bäume. Einzig aus der Ferne hört er noch Geräusche. Abendgeräusche. Vorbeifahrende Autos, Hufgeklapper und leises Wiehern.
Der Weg wird jetzt steiniger. Immer wieder muss er darauf aufpassen, wohin er seine Füße setzt. Stehen sie beide fest auf dem Boden? Der Mann kommt an einer kleinen Lichtung vorbei. Nebelschwaden wabern dort über dem Boden. Auf den Weg wird sich der Nebel nicht ausbreiten. Diesmal ist der Nebel unterwegs in eine andere Richtung.
Von hinten kann man nur seine dunkle Haarmähne sehen. Sein Anorak ist ein bisschen heller. Ruhig geht er durch den Wald. Der Weg wird steiler, aber alles ist gut. Er ist fast auf der Anhöhe angekommen. Schritte auf dem Asphalt.
Sein Verstand sagt ihm, da ist keiner. Aber Schritte? Er dreht sich doch für einen Moment um. Nichts zu sehen.
Was er gehört hatte, war die Einsamkeit. Denn sie geht mit ihm, überall hin. Ein Käuzchen ruft und der Schrei verklingt hallend im Wald. Obwohl so viele Bäume im Wald stehen, viele Sträucher und Pflanzen und er viele Tiere beherbergt, ist er leer. Leere und Einsamkeit.
Er schaut zum Himmel hinauf. Könnte er dort oben das schwache blinken eines Flugzeugs sehen. Ein Zwinkern in dem immer dunkler werdenden Himmel. Aber bald kann man den Wanderer nicht mehr sehen. Der Himmel ist dunkelblau eingefärbt. Oben im Flugzeug sitzend, und warm, weiß keiner was unten auf der Welt eigentlich vor sich geht. Alle zu beschäftigt. Die Bäume, stumme Riesen, stehen in der Dunkelheit wie Begleiter neben dem Weg. Die Blätter flüstern leise im Wind. In tiefer Ruhe geht er durch den Wald.

Ein leiser stechender Schmerz schneidet ihm auf einmal durch die Brust. Er schluckt. Der Weg erstreckt sich noch so weit, weiter vorne scheint Licht und da sind Laternen. Dazu müsste er aber erstmal die gepflasterte Stelle des Weges erreichen, an der links eine Einfahrt ist.
Die Dunkelheit hat sich ausgebreitet. Oben leuchten die Sterne auf. In ihren verschiedenen Positionen schmücken sie die Nacht. Sie glitzern die Nacht. Sie geben etwas, das bedrohlich sein könnte, ein Bild der Schönheit, erwecken Andacht und vermitteln ein Gefühl der Friedlichkeit. Der junge Mann sieht in den Himmel, sieht sie und kann alles sehen. Aber niemand sieht ihn. Hier fühlt er sich geborgen. Weiter den Weg entlang, setzt er seinen Weg fort, durch die Dunkelheit. Er ist ganz eins mit ihr.
Er kommt zu dem Abschnitt des Weges, an dem in Abständen Laternen stehen. Als ein dunkler Schatten huscht er zwischen den orangen Lichtkegeln der diffus scheinenden Straßenlaternen hindurch. Kaum sichtbar für das Auge eines Menschen. Rechts liegt ein mit Graß bewachsener Platz unter den Bäumen, deren Zweige sich leise im Wind wiegen. Ein paar Pferdewagen sind dort abgestellt worden. Auf der anderen Seite drücken sich die dunklen Gebäude eines Gestüts nebeneinander: der Stall, die Reithalle, das Hauptgebäude. Der Wanderer nimmt an der Kreuzung, die an das Gelände grenzt die linke Biegung. Er muss weiter. Raschen Schrittes geht er die Straße hinauf unter weiteren Laternen als eine dunkle Gestalt hindurch. Je höher er kommt, desto dunkler wird auch sein Umriss. In seinem Inneren herrscht immer tiefere Finsternis bis er oben an der Brücke angelangt ist und auf einmal kleine kalte Sterne in ihm aufleuchten als er dort steht, am Brückengeländer und über die Stadt sieht, ein weites Lichtermeer vor ihm. Er denkt, dass es wunderschön ist. Sehnsucht nach der Ferne flackert in ihm. Doch der Moment verklingt.
Von weiter vorne des Weges hört man ein plötzliches Rascheln im Laub, dort wo der Weg schon beginnt wieder abzufallen. Er erschrickt etwas. Schnell hastet er weiter. Der Nebel hat ihn gerufen, den Zorn in ihm. Mit einem Rascheln. Er läuft nahezu lautlos die nun wieder unbeleuchtete Straße runter. Sie ist dunkel. Die Wut packt ihn, schüttelt ihn. Und auf einmal heult der Nebel durchdringend durch ihn hindurch, durchbricht seinen geistigen Schutzwall und reißt jede Feder davon.
Er ist gebannt, kann an nichts anderes mehr denken.
Der Nebel erfüllt ihn, versteinert sein Herz und wabert dann in einer dicken schweren Masse herunter und erschafft seine glühend roten Augen, als der Nebel ihn nicht mehr bedeckt. Mordlust packt ihn. In schnellen geschmeidigen Schritten läuft er links die Straße runter, die roten Augen starr auf die Umgebung konzentriert, nach vorne gerichtet. Aufmerksam und konzentriert. Kein Mensch, ein Tier in ihm, das ihn festhält. Doch kein Opfer blutet in dieser Nacht als er schleicht, die Augen flackernd, die Krallen an den Tatzen vorgestreckt und vor der Rundkreuzung ankommt,
das schwarze Fell gesträubt. Sie hat die Form eines Kreises.
Eigentlich hat sie keinerlei Kräfte. Aber in diesem Moment, in der Nacht, als der Panther den Kreis betritt, kommt es von allen Seiten auf ihn zu gebraust, die hellen Lichtstreifen der Sphären, drücken ihm gegen die Brust, die Kraft befördert den Menschen mit einem kräftigen Schlag aus dem Körper, zieht ihn mit eisernem Haken am Herzen hoch und schüttelt ihn. Er fällt auf die Knie. Ein stechender Schmerz in seiner Brust lässt ihn aufheulen.
Der Panther ist verschwunden. Der Wolf, denkt das kleine Mädchen, dass zwei Straßen weiter in einem Hauseingang sitzt.
Verzweifelt versucht er wieder aufzustehen. Er tut vorsichtig einen Schritt. Da fährt ihm ein weiterer schneidender Schmerz durch die Brust. Es brennt und zerdrückt ihn. Die Qualen lassen ihn das Gleichgewicht verlieren und er stürzt.
Schluchzend und sich windend vor Schmerz liegt er am Boden. Seine Augen brennen. Das Leiden soll ihn die strafen.

Nur langsam verklingt der Schmerz, wird dumpf und schwer. Jetzt liegt er reglos da, wie betäubt. Der Boden kommt ihm immer schwerer vor, wie ein riesiger Klotz aus Teer, von dem er so stark angezogen wird, dass es scheint als läge er unter ihm und nicht darüber.
Doch kommt er langsam zu sich, seine Erinnerungen klären sich.
Vorsichtig richtet er sich auf, steht aus der Niedergeschlagenheit auf. Er tut einen Schritt. Nichts passiert. Er setzt einen Fuß vor den anderen und entdeckt, dass er wieder Wanderschuhe trägt.
Der Morgen graut. Es wird heller. Er erreicht die Allee. Der Wind pfeift brausend hindurch. Es ist grau und neblig. Er muss zurückkehren, das weiß er. Auch wenn er dann sterben muss. Wenn er weitergeht würde diese Allee nie enden. Der Wind bläst ihm ins Gesicht. Seine nun blassen blauen Augen sehen nach vorne. Tränen rinnen ihm über die Wangen.
Links hinter den Bäumen und der Hecke erstreckt sich das große kantige Gebäude.
Wenn er dorthin zurückgeht wird er sterben.
Der Nebel ruft ihn her. Es tagt.
Sein Kopf wird schwer und er fängt an zu schlurfen. Nur mühsam kann er einen Fuß vor den anderen setzen. Es bannt ihn, hält ihn fest.
Sie wollen nicht, dass er fortgeht und dann letztendlich und ewiglich ins Nichts übergeht. Sie wollen ihn begraben. Niemand sollte so verblassen. Er muss sterben. ER MUSS STERBEN!, haben sie geschrien und er kann es noch über Raum und Zeit hinweg in seinem Kopf hören. Er bleibt stehen. Sie haben es ihm gesagt, als er dorthin kam.
Sie flüsterten es, schrien es, riefen es und beschwörten es. Und es durchdrang ihn. Wie ein Satz des Schicksals, etwas Unausweichliches kann er es auch jetzt flüstern hören. Es kommt in seine Ohren, als wäre es überall und in ihm drin. Er kann es im Rauschen der verdorrten Blätter im Wind hören, im Getöse des Flusses an der dritten Brücke und in den Schritten der wenigen einsamen Menschen, denen er auf dem Weg begegnet ist. Er wird unendlich müde und spürt seine Kraft langsam weichen. Sein Kopf senkt sich.
Doch auf einmal hört er eine Stimme, hell und klar durchdringt sie ihn. Sie ist weise und mächtig und hat eine seelische Tiefe, die ihn erschaudern lässt. Er schaut danach wo sie herkommt zur Sonne. Doch diese ist nicht da, denn Wolken schieben sich schnell über den Himmel, majestätisch in ihrer Form. Der Himmel verdunkelt sich. Die Nacht erscheint. Die Stimme gibt ihm Kraft, lässt einen kleinen weißen Funken in ihm entspringen. Doch er kann ihren Ursprung nicht sehen. Der Gesang einer Urgöttin durchdringt ihn. Du musst nicht sterben, sagt sie, nicht auf diese Weise. Diejenigen die deiner wollen, würden es schmerzhaft geschehen lassen. Aber du kannst das verhindern, denn du entscheidest. Ich kann dir helfen. Ich möchte es dir angenehmer und schöner machen, dass du langsam und sanft entschwebst während du vergehst.
In der Tiefe durchdringen ihn die Worte und er versteht. Sein Gehirn arbeitet zu langsam aber sein Herz antwortet der Göttin: Ich habe keine Hoffnung mehr, länger zu leben. Wie ist es zu sterben? Ist es schlimm? Wie kann ich deine Hilfe und Behutsamkeit verdient haben? Es ist mein Geschenk an dich, haucht die Göttin sanft.
Du brauchst dich nicht sorgen. Vergehen ist leichter als einschlafen, flüstert sie. Ihre Stimme, die sanft und behutsam ist, perlend wie Glöckchen und trotzdem machtvoll wiederhallend, benebelt ihn, löscht seine Zweifel, kühlt seinen Schmerz und wiegt ihn in Sicherheit. Und in Geborgenheit eingelullt wie bei der Mutter Erde beginnt seine Seele sich zu öffnen, als sie sanft daran zieht. Sie heilt ihn.
Seine Erinnerungen verblassen und seine Tränen versiegen. Ein warmes und berauschendes Gefühl erfüllt ihn. Dann sagt er: Ja, ich möchte mit dir gehen. Ich entfliehe von Herzen lieber, als zu sterben. Gut, wispert die Göttin, dort wo du hingehst brauchst du dein Herz nicht. Ich werde es sicher in meinen Schatzkammern aufbewahren. Als Erinnerung an dich, werde ich es sicher behüten. Schlaf nur ein.
Und ihre Stimme wird immer leiser. Halt, murmelt er benommen, als er schon den Wind spürt, der ihn wegträgt. Lass mich dich sehen. Ein wohlwollendes und klingendes leises Lachen in seinem Ohr. Er schaut zum Himmel. Und für einen kurzen Augenblick öffnen sich die Wolken und offenbaren die Nacht. Zwischen ihnen schwebt der volle Mond, sich ein letztes Mal in seinen blauen Augen spiegelnd. Das bin Ich, kann er den Singsang der Göttin wie aus weiter Ferne hören, wunderschön und klar. Ich bin die Nacht, singt sie leise, die Göttin der Nacht, aber ich habe tausend Namen. Und ihre schillernde Stimme verklingt. Geh nicht weg! , ruft sein Herz. Ich bin einsam. Ein weiteres sanftes Gurgeln und Plätschern. Du bist der Wanderer, wispert die Stimme, geh, und dann komm zu mir.

Und dann steht er wieder auf der Straße in der Allee.
Es alles war nur in seinem Kopf. Suchend schaut er sich um. Er kann die Bäume rechts und links sehen. Die Hecke aber, ist schon kaum mehr zu erkennen. Alles um ihn herum liegt im Nebel. Er kann nur ein leises Plätschern hören, wie von sanftem Regen. Die Farben sind verblasst. Die Allee verschwimmt bis zu der Stelle, soweit er noch sehen kann und wird dort von hellgrauem dichtem Nebel verschluckt, als ob dort einfach ein Ende wäre, ein Nichts. Obwohl er doch weiß, dass die Allee unendlich ist. Zu dem Ende des Weges hin bleichen sämtliche Farben aus. Er geht langsam auf das Nichts zu. Und dann sieht er es. Die Nebelwand wird immer heller, bis ihm ein überirdisch hell leuchtendes engelsgleiches Licht entgegenscheint, das sich immer weiter ausbreitet. Er geht schneller, er hört entfernt die letzten tiefen Atemzüge ruhig durch seinen Körper streichen. Es wird immer heller, blendend weiss. Er geht weiter darauf zu und es kommt auf ihn zugeschwebt. Bald ist er von Licht umgeben. Alle Geräusche sind wie ausgeblendet.

Er kann ein warmes Licht in seiner Mitte fühlen, da wo sein Herz war. Völlige Glückseligkeit erfüllt ihn. Seine Gestalt verschwimmt. Und so entflüchtet er ins Licht, und vergeht.
Wie gerne hätte er die Blumenwiese gesehen. Eine Wiese aus saftigem und samtenem grünen Gras, die sich weit in die Ferne erstreckt, bis zum Horizont und auf dem die verschiedensten Blumen wachsen, deren Duft die Luft überall erfüllt. Und die strahlende Sonne, die alles erleuchtet, wohltuende Wärme die alles durchdringt. Es gäbe Mohnblumen, Gänseblümchen, Veilchen, Tulpen, Stiefmütterchen, Rosen, Narzissen, Maiglöckchen, Begonien, Kirschblüten und Wildblumen deren Namen niemand kennt. Alles gedeiht und ist in voller Blüte, bunt und wunderschön, wie ein Paradies. Im Verschwinden träumt er einen Gedanken daran, so wunderschön, himmlisch und sonnig. Es scheint fast real zu sein, doch ist es ein Traum. Er träumte vom Paradies, aber er konnte es nicht erreichen.


© Robert Lier.scripts


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Kommentare zu "Der Wanderer und der Weg"

Re: Der Wanderer und der Weg

Autor: AMIBANANI   Datum: 29.07.2017 14:05 Uhr

Kommentar: w o w. ich kann nur das sagen. Ich bin sprachlos.

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