Der Tag, der mein Leben zum zweiten Mal veränderte, liegt genau zehn Jahre zurück. Noch heute ist mir der trübe Mittwoch im November so gut in Erinnerung, als hätte der denkwürdige Abschied erst gestern stattgefunden. Wehmütig stehe ich vor dem Eingang zum Tierfriedhof, den ich seit diesem Tag regelmäßig aufsuche. Der Nebel liegt wie ein durchsichtiges Tuch über der idyllischen Gegend. Kein Mensch weit und breit. Ein paar Krähen ziehen ihre Kreise, fast scheint es so, als wollten sie mit ihrem Gesang die geheimnisvolle Stille vertreiben. Trotz der Kälte verspüre ich wohlige Wärme, die meinen Körper wie eine Flutwelle durchströmt, so wie immer, wenn ich mich dem einsamen Ort nähere. Mein eindrucksvolles Empfinden veranlasst mich zum Innehalten. Ich atme tief ein und lasse die nasskalte Luft in meine Lunge strömen. Es riecht nach Regen und ist nur noch eine Frage der Zeit, wann die ersten Tropfen zu Boden fallen werden.

Langsam setze ich mich in Bewegung und passiere das graue Gittertor, das mir wie die Pforte zu einer eigenen, stillen Welt vorkommt. Der weiße Kies knirscht unter meinen Schuhen, während der lebhafte Wind die letzten Blätter von den Baumkronen trägt. Das Laub schwebt wie ein stummer Zeuge des vergänglichen Lebens zu Boden. Gedankenverloren durchschreite ich die Kastanienallee bis zur Wiese, die mich an eine Lichtung im Wald erinnert. Nur noch ein paar Meter über das feuchte Gras, dann stehe ich vor meinem Ziel. Das angenehme Gefühl des Nachhausekommens ergreift von mir Besitz. Mit all meinen Sinnen genieße ich diesen einzigartigen Augenblick. Heute ist Benjis zehnter Todestag. Obwohl ich ihn nicht sehen kann, spüre ich seine Anwesenheit. Vor zehn Jahren begrub ich den kleinen Hund in der Erde des Tierfriedhofs. Demütig ruht mein Blick auf dem hübschen Grabstein aus weißem Marmor. Fast dreizehn Jahre begleitete mich Benji auf meinem Lebensweg. Heute vor zehn Jahren musste ich ihn auf seinem Weg begleiten – seinem letzten Weg. Ich war dabei, als er die friedliche Schwelle zum ewigen Hundeleben übertrat, die sanfte Grenze zu jenem Ort, wo er nicht mehr leiden musste wie die letzten Tage seines Lebens, die mich im makabren Zwiespalt zwischen Hoffnung und Verzweiflung gefangen hielten. Als ich kurz vor der zermürbenden Entscheidung seinen kranken Körper in den Armen hielt, sah ich ein letztes Mal die bedingungslose Liebe in seinem treuherzigen Blick, bevor sich die dunklen Augen für immer schlossen. Selbst der Tierarzt kämpfte um seine Fassung, als er dem Dackelmischling die erlösende Spritze setzte, doch wusste er ebenso wie ich, dass er es tun musste, um Benji ein qualvolles Siechtum zu ersparen.

Als ich ihn vor dreiundzwanzig Jahren in einer dunklen Gasse fand, kläglich winselnd und vermutlich ausgesetzt, war mir, als würde sein Blick meine Seele treffen. Sein flehender Gesichtsausdruck schien mir eine klare Botschaft zu senden. Hätte er sprechen können, so hätte er wohl gesagt: „Bitte nimm mich mit, ich werde dir ewig dankbar sein.“ Als ich ihn behutsam vom Boden aufhob, klammerten sich die hilflosen Pfoten an meinen Körper, als wollte mich der kleine Hund nie wieder loslassen. Seine dankbaren Gesten werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Das war der Tag, der mein Leben zum ersten Mal veränderte. Eine seltsame Fügung des Schicksals ließ uns zueinander finden, indem mich ein eigenartiger Zufall zum verlassenen Ort führte, an dem ich Benji halb verhungert und verdurstet vorfand. An solche Zufälle glaube ich jedoch nicht, zweifellos war das Bestimmung, denn der Hund brauchte mich, und ich brauchte ihn. Zu jener Zeit überschattete eine schwere Krise mein unglückseliges Dasein, und Benji war von da an meine Stütze in schwierigen Lebenslagen. Niemals wäre seinem gutherzigen Sinn eingefallen, mich in meiner Frustration alleine zu lassen, im Gegensatz zu den Menschen in meiner Umgebung. Bekannte, Verwandte, sogenannte „Freunde“…sie alle waren nur präsent, solange mich keine Probleme belasteten, doch sobald es mir schlecht ging, verschwanden sie schneller von der Bildfläche als ein Raubvogel im Sturzflug. Benji hingegen wich nie von meiner Seite. Wann immer mich die Depression in ihren gnadenlosen Klammergriff nahm, befreite mich sein liebevolles Wesen und richtete mich wieder auf. Die grenzenlose Treue ohne Wenn und Aber, die mir das Tier entgegenbrachte, ist mit Worten nur schwerlich zu beschreiben.

Der Ruf eines Raben beendet mein Schwelgen in der Vergangenheit. Außer den Vögeln ist niemand in meiner Nähe. Ich schreite zur Vase neben dem Grab und tausche die welken Blumen gegen frische, die ich meinem Hund mitgebracht habe. Dann betrachte ich das Bild auf dem Grabstein. Benji blickt mir aus dunklen Knopfaugen entgegen, eingerollt in seinem braunen Körbchen. Ich schließe die Augen und gedenke der gemeinsamen Jahre. Meine besondere Verbundenheit zu Benji geht weit über den Tod hinaus. Nirgends sind wir uns so nahe wie hier, an seiner letzten Ruhestätte. In meinem Kopf manifestieren sich Bilder trauter Zweisamkeit. Ich sehe uns auf der Wohnzimmercouch sitzen. Sein weicher Körper drückt sich an mich, als wollte Benji mir sagen, dass er immer bei mir sein möchte. Ich streichle ihn, bis er neben mir einschläft. Der geistige Film läuft realitätsnah vor mir ab. In tiefer Konzentration verliere ich mich in der Ekstase meiner Vorstellungskraft, die so stark ist, dass ich sein flauschiges Fell in meinen Händen spüren kann. Die Erinnerung überwältigt mich. Ein paar Tränen suchen sich ihren Weg über meine eiskalten Wangen. Manchmal fühle ich mich allein ohne Benjis körperliche Anwesenheit, doch bin ich glücklich, ihn über ein Jahrzehnt an meiner Seite gehabt zu haben. Ich weiß, dass Gott ihm ein lauschiges Plätzchen im Hundehimmel offenbart, und hoffe, dass er viele Artgenossen zum Spielen hat. Ich öffne meine feuchten Augen und schaue auf den vernebelten Himmel. Bestimmt kann Benji sein Herrchen von dort oben sehen. Ob er mich genauso vermisst, wie ich ihn? Ja, davon bin ich überzeugt. Ich glaube fest daran, dass er auf mich wartet. Wenn meine Zeit gekommen ist, werden wir wieder vereint sein, und er wird mit dem Schwanz wedeln und mich stürmisch begrüßen, wie er es zu Lebzeiten immer getan hat. Mit einem Seufzen beuge ich mich zur Grablaterne hinunter und entnehme die abgebrannte Kerze, bevor ich eine neue anzünde. Langsam erhebe ich mich und gehe ein paar Schritte rückwärts. Andächtig bleibe ich stehen und mache ein Kreuzzeichen. Im Grabstein ist ein Schriftzug eingraviert, der wahrer nicht sein kann:

Dass mir der Hund das Liebste war, sagst du, oh Mensch, sei Sünde?
Der Hund blieb mir im Sturme treu, der Mensch nicht mal im Winde.

Wie üblich fällt es mir schwer, mich von ihm zu verabschieden und ihn in die Welt des ewigen Friedens zu entlassen, in der wir uns in ferner, vielleicht auch naher Zukunft wiedersehen werden, je nachdem, wie Gott entscheidet. Machs gut, kleiner Benji. Bald komme ich dich wieder besuchen. Alte Liebe rostet nicht, wie ein Sprichwort besagt, und du warst und bist für mich etwas ganz Besonderes. In meinen schwersten Zeiten gabst du mir Kraft, die mir kein Mensch zu geben imstande war. Auch wenn du nicht mehr im irdischen Leben weilst, wirst du immer mein Hund bleiben, egal wo du bist, egal wo du lebst. Mit einem letzten dankbaren Blick wende ich mich ab und gehe durch die Kastanienallee zum Gittertor. Erst jetzt bemerke ich den starken Regen. Es ist, als würde der Himmel um Benji und die anderen verstorbenen Tiere weinen.


© Genesis


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Beschreibung des Autors zu "Eine immerwährende Liebe zwischen Mensch und Tier"

Eine kleine Geschichte über die tiefe Verbundenheit eines Menschen zu seinem verstorbenen Hund. Ich bin neu hier, und die Geschichte ist meine erste Veröffentlichung überhaupt. Daher würden mich Meinungen und Kritiken natürlich besonders interessieren. Beste Grüße, Genesis

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Kommentare zu "Eine immerwährende Liebe zwischen Mensch und Tier"

Re: Eine immerwährende Liebe zwischen Mensch und Tier

Autor: Juergen Wagner   Datum: 05.11.2016 21:55 Uhr

Kommentar: Sehr lebendig geschrieben, finde ich. Vom grauen Gittertor bis hin zur Kastanienallee sind viele sprachlich anschauliche und eindrückliche Wendungen. Ich hatte selber nie einen Hund und kann deshalb nicht alles nachempfinden, aber ahnen. Liebe Grüße! Jürgen

Re: Eine immerwährende Liebe zwischen Mensch und Tier

Autor: Genesis   Datum: 05.11.2016 22:16 Uhr

Kommentar: Danke für Dein positives Feedback! Ist wohl immer so eine eigene Sache bei der ersten Veröffentlichung. Man ist ein wenig unsicher, ob, bzw. wie es bei anderen Leuten ankommt und freut sich natürlich, wenn es jemandem gefällt. Beste Grüße, Genesis

Re: Eine immerwährende Liebe zwischen Mensch und Tier

Autor: agnes29   Datum: 05.11.2016 22:36 Uhr

Kommentar: Eine Geschichte die wirklich schön ist, obwohl sie sehr traurig ist.
Ich habe sie gerne gelesen.
Liebe Grüße! Agnes

Re: Eine immerwährende Liebe zwischen Mensch und Tier

Autor: Genesis   Datum: 06.11.2016 6:56 Uhr

Kommentar: Danke Agnes, freut mich! Genesis

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