21:00 Uhr
Mein Körper fühlt sich unheimlich schwer an , während ich krampfhaft versuche nicht gegen den genervt aussehenden Anzugträger neben mir zu stoßen, der noch dunklere Augenringe hat als ich selbst sie mein eigen nennen kann. Der Fahrstuhl ruckelt unaufhörlich und lässt mich wie benommen schwanken, wobei das laute Knattern und Quietschen der Fahrstuhlaufhängung einen beinah in den Wahnsinn treibt. Wie lang kann so eine Fahrt denn bitte dauern? Die passende Gegenfrage dazu wäre, wie ein Mädchen alleine in einer Ein-Raum-Wohnung im 12 Stock eines überdimensionalen Plattenbaues am Rande einer Millionen Metropole wie Tokyo leben kann ohne , dass es auch nur irgendwem merkwürdig vorkommt. Wie kann sowas normal sein? Egal wie oft ich mir diese Frage stelle, so finde ich doch keine halbwegs gute Antwort darauf. Das Licht an der Decke des alten Fahrstuhls flackert sowie wohl jedes andere Licht in diesem heruntergekommenen Gebäude. Niemand wäre dumm genug in so ein Haus zu investieren , was eh schon gefühlt kurz vor dem Einsturz steht und die untere oder hübscher gesagt einfache Mittelschicht ein undichtes Dach über dem Kopf gibt.
Mit einem starken Ruck kam das instabile Konstrukt zum stehen . Ich wäre fast hingefallen , aber knalle letztendlich einfach nur gegen die verkratzte Stahlwand neben mir. Meine Schulter schmerzt ein wenig , aber ein blauer Fleck mehr oder weniger wird jetzt auch keinen Unterschied mehr machen. Ich hebe meine Sporttasche neben mir wieder auf, die mir beim Aufprall runter gefallen ist und hieve mir den breiten rauen Gurt wieder über meine Schulter. Sie ist hat einen Musteraufdruck als hätte jemand eine weiße Tasche gehabt und sie mit Malerfarben bespritzt und besprenkelt in den schönsten Pastellfarben . Ich liebe mehr die Tasche als ihren Inhalt.
Knarzend öffnet sich die schwere Schiebetür vor mir und es wird uns der wohl trostloseste Flur der Welt eröffnet. Zumindest ist der das für mich. Eine hölzerne Wohnungstür reiht sich neben die andere , wobei die Nummern an ihnen zumeist schon zur Hälfte vergilbt sind und kaum noch zu erkennen. Der Mann im Anzug bleibt stehen, während ich den Aufzug verlasse und die paar Schritte zu meinem „Zuhause“ hinter mich bringe. Missmutig wenn auch ein wenig erleichtert, bleibe ich vor der schweren Tür mit der Nummer 142 stehen und beginne in meiner Jackentasche nach dem Schlüssel zu kramen. Direkt neben mir tropft es aus der Decke und die Wände wirken mit den eingesickerten Wasserspuren noch maroder als sie es eh schon waren. Im ganzen Flur ist es so feucht wie sonst nur in Kellern. Dieser abstoßende modrige Geruch liegt in der Luft und ich bin froh als ich meinen Schlüssel endlich finde und die Tür öffne. Sie klemmt etwas , weswegen ich mich halb gegen sie werfen muss , damit sie einen Spalt aufgeht und ich mich mühevoll hindurch schieben kann. Meine Tasche habe ich vorher schon hinein geworfen. Im Inneren angekommen schalte ich erstmal das Licht an ,welches von einer lose an der Decke hängenden, alten Glühbirne gespendet wurde, welche ebenfalls schon weiß Gott ihre besten Tage gesehen hat, wie praktisch alles an und in diesem Gebäude. Und schon stehe ich wieder in meinem Zimmer. Ein Raum zum leben und links noch ein kleines Badezimmer mit einer Toilette mit Waschbecken und einer winzigen Nische mit einem alten Duschkopf. Insgesamt kann ich hier 18 Quadratmeter mein eigen nennen . Recht viel ,wenn man sich mal klar macht , dass meine Nachbarn teilweise mit vier oder fünf Personen auf der selben Fläche leben und das tatsächlich irgendwie organisiert bekommen. Rechts in der Ecke liegt mein hellgrüner Futon mit weißer Decke und Kissen daneben ein kleiner tiefer Tisch mit meinem Laptop . Links an der Wand steht noch ein mittelgroßer hellbrauner Schrank ,der noch von heute Morgen offen steht, als ich hastig mir noch Klamotten heraus gesucht hatte für den Tag. Ich spüre die Müdigkeit in meinem Körper, doch habe ich eigentlich noch keine Zeit um mich auszuruhen. Erschöpft stelle ich meine Tasche an das Fußende meines Futons. Links neben dem Schrank steht noch ein kleiner Fernseher auf einer Kiste, den ich auch sogleich mit Hilfe der Fernbedienung, die noch auf meiner Decke liegt , anschalte. Es ist mir ziemlich egal, was gerade läuft solange es mir das Gefühl gibt selbst entscheiden zu dürfen , was ich jetzt tue . Ich habe keinen Kühlschrank geschweige denn eine Art Küche . Ich bringe mir jeden Tag mein Essen selbst mit und habe mich mit den geltenden Umständen arrangiert.
Meine Eltern schicken mir monatlich Geld aus England hier rüber ,aber selbst wenn sie Liebe für mich empfinden würden , so würden sie sich trotzdem nicht die Mühe machen diese mir auch noch auf mein Konto zu überweisen. Ich streife mir meine Jacke ab und schmeiße sie unachtsam neben meine Tasche . Unter meinem kleinen Tisch steht ein Wasserkocher,welchen ich mir hole und im Badezimmer am Waschbecken mit Wasser befülle. Während dessen findet mich mein eigener Blick im Spiegel. Meine blass hellblauen Haare sind nun etwas gelockt und zerzaust , weil ich sie vorhin zum tanzen noch im Dutt gebunden hatte. Es bleiben mir noch ein paar Sekunden um sie mir ein wenig zu richten . Genauso die beiden Haarspangen in meinem Pony . Zwei weiße Schleifen kaum so groß wie mein kleiner Finger. Meine Augen haben ein merkwürdiges grün .Zumindest sagen das die meisten ,denn hier in Japan hat der Großteil nicht nur fast schwarze Haare ,sondern auch genauso dunkle Augenfarben. Da ist mein Mischmasch aus Grüntönen alles andere als unauffällig . Klar , dass ich ständig gefragt werde, ob ich rund um die Uhr Kontaktlinsen trage. Das ist natürlich Quatsch , aber ich bin nicht überrascht darüber, dass viele davon nach wie vor überzeugt sind. Fast läuft mir das Wasser in der Kanne über und ich muss wieder etwas ausschütten. Meine Hände sind von dem Wasser schon ganz kalt und zittern ein wenig, als ich die jetzt gefüllte und recht schwere Kanne aus dem Becken hebe und mit beiden Händen zurück in den Nebenraum trage um sie dort wieder in die Fassung zu stellen und den Stecker des Kochers in die Steckdose stecke. Nach so einem Tag habe ich wirklich Hunger und es wird Zeit meine Füße neu zu verbinden .Sie sind von vorhin noch total geschunden. Ich seufze und kümmere mich erstmal um die Fertigsuppe, die ich vorhin noch am Bahnhof gekauft habe und hole sie aus meiner Tasche. Es gibt hier weder Fenster noch Heizung und trotzdem ist es hier nicht so kalt wie man annehmen könnte. Dafür leben hier einfach zu viele Menschen auf zu engem Raum . Dafür ist die Luft hier natürlich alles andere als frisch,aber auch daran konnte ich mich in den letzten Monaten gewöhnen auch wenn es immer noch viele Dinge gibt an die ich mich wohl nie gewöhnen werde.
Ich öffne die Verpackung der Suppe in die man das Wasser nur zu schütten braucht um sie dann direkt essen zu können. Sie hat schon eine Schüsselform. Praktisch.
Der Fernseher läuft immer noch neben her, doch ich höre das Brodeln des Wassers im Kocher trotzdem heraus. Ich mache mir meine Suppe zurecht , setze mich auf meinen Futon und sehe mir einen der tausend Sender an. Noch bin ich noch nicht so ganz hinter die japanische Werbung gestiegen. Sie ist zumeist unglaublich bunt knallig, wobei die auftretenden Charakter noch künstlicher wirken als die bei uns im Westen. Viele Werbungsfilme verstehe ich auch einfach nicht von der Handlung her .Geschweige denn, dass ich erkennen könnte, was dort beworben wird. Ich bin Engländerin. Es fiel mir am Anfang enorm schwer Japanisch zu lernen und ihre Schriftzeichen zu begreifen. Es sind einfach so unglaublich viele. Ein Jahr ist meine Anreise nun mehr her. Es ist als würde man in eine ganz andere Welt geworfen werden. In eine , wo man sich selbst in einer total überfüllten U-Bahn noch einsam fühlen kann. Die bloße Masse von allem macht mir häufig immer noch Angst. Das Leben hier fast schon zu schwer für mich. So ganz ohne irgendwen als Ansprechpartner zu haben . Was haben sich meine Eltern bloß dabei gedacht.... Ein Internat am anderen Ende der Welt . Schön ,dass sie mich als Tänzerin fördern möchten ,aber sie haben nur meine potentielle Zukunft im Blick, aber kaum meine Gegenwart und das Leben was ich dafür hier führe. Es ist mir kaum möglich Freunde zu finden an den Orten, wo mein Alltag stattfindet. Mein europäisches Gesicht macht mich zum Außenseiter. Nur die aller wenigsten beim Training betrachten mich nicht von oben herab. Während diese Schulmädchen fast alle gleich aussehen ,stehe ich zwischen ihnen wie ein hellblauer Fleck auf einer schwarz weißen Wand. Ich komme nicht nur von woanders , sondern ich spreche auch noch nicht perfekt und bin in meiner Optik dem Pastelgothstyl zugewandt. Blicke als wäre ich ein verabscheuungswürdiges Alien nur weil ich nicht in Bild passe, was mich jedoch bei einem Land wie Japan wundern muss, denn gerade hier sind styls wie Lolita und Visual kei hochgezogen worden und dann werde ich trotzdem beglotzt wie ein Tier? Vor allem gibt es nichts , was ich mehr dagegen tun kann. Ich habe jede der andere Tänzerinnen mit so viel Respekt wie nur möglich zu überschütten um zu zeigen, dass ich kein schlechter Mensch bin, aber das nimmt man dort noch nicht ernst habe ich so das Gefühl. So viele japanische Gebräuche habe ich auswendig gelernt und schon angewandt ,aber bisher habe ich praktisch nur Anstandsnicken bekommen und das war es dann auch schon, aber gut man muss nehmen , was kommt.

Meine Augen verfolgen weiter das Abendprogramm. Nichts , was mich wirklich interessiert. Der heiße Dampf meiner Suppe und ihre bloße Hitze wärmt mich mal wieder mehr als jeder falsche nette Blick von diesen aufgesetzt lächelnden Schachfiguren beim Training.
Eine meiner Strähnen hängt mir fast in mein Essen und ich streiche mir mein hellblaues Haar hinter mein Ohr, während ich in einem lieblosen Essen herum rühre. Bis...
Plötzlich zieht doch tatsächlich der Fernseher meine Aufmerksamkeit auf sich, denn ich höre ein Lied welches mir nur allzu bekannt ist.
„Bigger than me“ von Tasha Baxter ft. Au5. Das letzte womit ich bei einem japanischen Programm gerechnet hätte. Das letzte mal, wo ich tatsächlich auf das geachtet habe, was in der Flimmerkiste lief , war der Moment, wo eine Waschmittelwerbung lief bei der ein Mann im Oktopuskostüm durch das Bild rannte und ich mich zwischen verstört kucken und lachen nicht entscheiden konnte.
Meine Augen weiteten sich. Ein junger Mann im Cybergothoutfit kündigte mit einem Mädchen im schwarzen Lolitakleid die Eröffnung einer neuen Disko Schrägstrich Bar an . Ein neuer Club namens „Bittersweet“. Ein Name der mir unglaublich gefällt und das liegt nicht nur an der Art von Menschen, die gerade in dem Spot präsentiert wurden. Und was würde dort für Musik als Hauptthema gespielt werden? Alles im Bereich Electro und Dubstep mitten in Tokyo. Das klingt natürlich alles wundervoll und total interessant ,aber wann sollte ich zu sowas denn gehen können. Enttäuschend. Das wäre die Gelegenheit für einen Ort, wo ich mir nicht total fehl am Platz vorkommen würde. Einer mit Menschen , die genauso sind wie ich oder sagen wir ähnlich....
Eine traumhafte Vorstellung. Trotzdem...wie soll das gehen. Ohne Freunde , die einen begleiten könnten? Vor allem ohne einen Erwachsenen oder sonst irgendwem? Es wäre zu gefährlich um diese Zeit mit der Bahn in eine solche Gegend zu fahren.Die Eröffnung ist außerdem schon heute und ich muss für morgen noch so viel an Hausaufgaben machen und wir haben schon 22:00 Uhr. Es wäre unvernünftig und praktisch unmöglich mit gerade mal 15 Jahren in einen Nachtclub zu kommen.
Jedoch auf der anderen Seite: was kann ich bis auf mein Leben noch verlieren? Ich habe nichts hier außer mich selbst und meinem Lebensstil und den kann ich hier kaum so ausleben wie ich es mir wünschen würde.
Das wäre vielleicht mal eine Gelegenheit wieder wirklich so zu sein wie ich es auch will.
Jetzt war ich mir sicher. Ich will das und ich will es zumindest versucht haben, denn sonst werde ich es vermutlich schon morgen bereuen.
Keine Sekunde später stand ich vor meinem Kleiderschrank und riss beide Türen weit auf. Schon jetzt spüre ich, wie neues Lebensgefühl in mir aufkommt. Wie lange habe ich mich nicht mehr wirklich schick gemacht oder so wie ich gerne ausgehen würde. Ein Oberteil nach dem anderen fliegt aus meinem Schrank . Pullis ,T-Shirts , Blusen außerdem noch diverse Röcke und Kleider , die kurz darauf folgen. Das geht so lange weiter bis ich die beiden passenden Kleidungsstücke in Händen halte. Mein weißes langes T-Shirt , wo in blass lila das Gesicht der Grinsekatze aus Alice im Wunderland drauf ist und ein grauer einfacher Rock, der bis zur Mitte meines Oberschenkels geht. Fast komplett verdeckt von dem langen dünnen T-Shirt , was sich sehr locke aber doch geschmeidig um meinen Körper legt. Es ist mir schließlich nicht zu groß. Es ist einfach nur länger als die Sonstigen. Unten im Schrank liegen außerdem noch meine absoluten Lieblingsschuhe. Silberne Platoschuhe mit einem sieben Zentimeter hohen Absatz in Holzoptik. Das coolste , was ich mir in Sachen Schuhe mit unter vorstellen kann. Meine Augen glänzen als ich die passenden Sachen auf meinen Futon schmeiße und mich binnen drei Minuten komplett umziehe. Wow was eine Rekordzeit. Erstaunt über meine Geschwindigkeit mache ich mich daran zu überlegen womit es weiter gehen würde. Nagellack? Ja auf jeden Fall. Keine Zehn Minuten später scheinen meine Nägel in einem relativ kalten Violett. Ich bin voller Euphorie und verschwinde im Badezimmer um mich ein wenig zu schminken. Besondere Ereignisse fordern schließlich 100% der eigenen Kreativität. Sekunden in denen mir das kleine schäbige Badezimmer, wie der schönste Ort der Welt vorkommt, wo ich mich total austoben kann und das Bild im Spiegel das ist, was am meisten zählt. Die „Lampe“ an der Decke flackert. Wieder und wieder.
Hell lilaner Lidschatten sorgt für eine aufregende und zugleich wahrhaft elegante Farbnuance in meinem recht blassen Gesicht . Ich würde zu meinem eigenen Gefallen und Selbstschutz, wohl gleich einen Mundschutz tragen. In unserer Szene weiß Gott nichts ungewöhnliches , wobei ich sagen muss , dass ich eher der Typ bin, der eher zu einem dünnen bunten Stoffmundschutz tendiert, als zu den großen und im Vergleich dazu recht stämmigen Gasmasken. Nicht, dass sie mir nicht gefallen, aber ich glaube kaum, dass mir so ein Riesenkonstrukt im Gesicht stehen würde. Langsam und konzentriert trage ich mir den Lidschatten in zwei Abstufungen und einen Panda orientierten Lidstrich auf .Ich versuche nicht allzu sehr zu zittern, aber irgendwie gelingt es mir in meiner Aufregung nicht so wirklich, was dazu führt, dass ich das ein oder andere mal verrutsche und verwackle. Ich seufze als ich im Spiegel den kleinen schwarzen Striemen links neben meinem rechten Auge sehe. Mit einem zusammen gerollten Stück Toilettenpapier , tupfe ich mir den schwarzen Fleck behutsam weg. Schminken kann eine echte nervliche Belastungsprobe sein.Am Ende ziehe ich mir nun noch meinen fliederfarbenen Mundschutz über mein Gesicht.
Nachdem ich mit dem ganzen nun endlich fertig bin, gehe ich zurück in mein Zimmer und packe mich das wichtigste in eine kleine Handtasche. Handy , Geldbörse , Dauerfahrkarte für die Bahn und natürlich neben einer Packung Taschentücher noch das nötigste zum nachschminken, sollte dies mal nötig werden. Flüchtig werfe ich noch einen Blick auf die Uhr meines Handys.

22:30 Uhr
Ich lege mir meine dünne Übergangsjacke über den Arm, atmete tief durch und verlasse die Wohnung. „Dann mal los...“


© Red Papermoon


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Beschreibung des Autors zu "Bittersweet Pastel : 1. Bright purple nails"

ich wurde spontan auf einer Con dazu inspiriert, als ich die ganzen faszinierende Charaktere , die dort herum liefen beobachten konnte. meine erste Geschichte, die ich im Präsenz schreibe. Mal was anderes . da ist man mehr mittendrin statt nur dabei ;) zumindest fühle ich mich dann immer so. Viel Spaß ihr Lieben

LG Red Papermoon




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