Schon so manches Mal hatte ich das Gefühl verspürt, dass mich niemand verstand. Ich gab mein Bestes, um mich vor anderen Menschen so darzustellen, wie sie mich gerne hätten. Das ich damit unweigerlich irgendwann scheitern würde, war mir auch bewusst gewesen, aber ich hatte es trotzdem versucht. Stundenlang hatte ich das Internet nach Möglichkeiten durchforstet, wie ich mich „anpassen“ konnte. Wie ich mich als ein normales Mädchen „verkleiden“, wie ich als normales Mädchen agieren sollte. Dass ich es geschafft habe, lasse ich hier mal außen vor - es tut nichts zur Sache, denn jeder kann sich verändern. Auch wenn es meist zum Negativen ist.
Nachdem ich mich geändert hatte, mich angepasst hatte, wurde mir klar, dass ich mich selbst verlor. Ich verlor das, was mich bis dahin ausgemacht hatte. Ich entwickelte eine täuschend echte Fassade, hinter der ich mich ab dann immer und immer mehr versteckte. Das, was ich einmal war, rückte weitab in den Hintergrund. Heute weiß ich gar nicht mehr, wie ich früher eigentlich genau war. Vor allem die Frage nach meinen eigenen Interessen kann ich heute nicht mehr richtig beantworten, denn ich weiß nicht mehr, wer ich wirklich bin.
Meine Gedanken sind von der Frage dominiert, wie ich damit in der Öffentlichkeit ankomme. Kann ich so fühlen, denken, handeln, ohne, dass ich verurteilt werde? Ist es das, was sich Ottonormalverbraucher unter einem „guten und gehorsamen Mädchen“ vorstellt oder liege ich falsch und muss meine Persönlichkeit neu überarbeiten? Ich habe alle Ecken und Kanten meines Selbst verloren, bin zu einem Kreis der Gewöhnlichkeit geworden. Zumindest nach außen hin scheint es so.
Wie es in meinem Inneren vorgeht, wird immer mehr zu meinem Geheimnis. Die weltlichen Entfernungen in Form von Kilometern drängen die Personen aus meinem Leben, die noch etwas um meine Individualität geben würden. Heutzutage soll man einfach nur noch funktionieren. Der Rest wird wissend unter den Teppich eines jeden Stammbaumes gekehrt. Was wirklich in einem Menschen vorgeht, ist nur noch ein Gerücht. Auch wenn man früher in der forensischen Psychiatrie eingeschränkter war als heute, so versteht man die Menschen doch schlechter als man es früher getan hat. Und warum? Weil jeder sich nur noch um sich kümmert, nicht mehr die Zeit investiert, sich die traurige Geschichte einer Person anzuhören, die seinen Weg kreuzt. Nein, es könnte einen ja berühren. Es könnte zeigen, dass nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen auf der Welt ist.
Keiner von uns hat je in das Gesicht eines Kindes gesehen, dass aus seiner zerbombten Heimat fliehen musste, weil seine Eltern an den Folgen des Krieges gestorben waren. Keiner von uns hat je eine Person ernst genommen, die sich nicht anders zu helfen wusste/weiß, als Schmerz mit Schmerz zu begleichen. Nicht jeder, der am Boden ist, steht auch wieder auf. Nicht jeder, der sich auf sein hohes Podest gestellt hat, kann auch sicher sein, dass ihn niemand von dort oben runter schubst, nur, um sich selbst besser zu fühlen.
Menschen, die anders sind und auch noch den Mut aufbringen, dieses Anderssein öffentlich zu zeigen, werden gedemütigt, verletzt und erniedrigt. Warum die Gesellschaft sie nicht existieren lässt, ist einfach: die Gesellschaft will keine Eigendenker. Jemand, der eine Vision vor Augen hat, wird vor etliche Prüfungen gestellt. Nur die Wenigsten dieser Menschen können diese meistern. Bei den anderen erlischt dieses winzige Licht der Eigeninitiative aufgrund von Gesetzen, Moral und Disziplin.
Jeder, der mir in die Augen sieht und behauptet, er wäre reich, weil er Geld besäße, hat den Sinn des Lebens nicht verstanden.
Wenn man der Bibel Glauben schenken darf, so wurde Eva aus dem paradiesischen Garten Eden verbannt, nur, weil sie etwas Neues wagte. Weil sie wagte, sich zu etwas überreden zu lassen, was die gestellten Normen brach. Das sollte uns allen aufweisen, dass zu wenige Menschen denken, sie handeln viel zu viel. Ein guter Gedanke jeden Tag würde so manches Unheil verhindern, denn dann käme so mancher Mensch gar nicht auf die Idee, aus den Normen auszubrechen und sich eigene Normen zu schaffen.
Ich las einmal von einem Obdachlosen, der es rigoros verweigerte, sich eine Wohnung vom Amt stellen zu lassen. Er meinte, er habe es so gewollt. Ihm war Geld und Karriere immer wichtiger gewesen als das Leben. Und als ihn das Schicksal dann ereilte, nahm er dies zur Kenntnis und krempelte sein Leben um - zum Guten!
Hast du dir je Gedanken darüber gemacht, was passieren würde, wenn du plötzlich allein da stehen würdest, ohne irgendwelche Hilfe am Abgrund der Gesellschaft? Wenn du diese Frage nur mit „nein“ beantworten kannst, weißt du, was du dir in nächster Zeit mal vor Augen führen solltest. Denn, wenn wir dem wackeligen Euro vertrauen, könnte dieser Zeitpunkt schneller da sein, als man denkt.
Der Zeitpunkt, wo jeder nur noch an sich selber denkt und Freundschaft nur noch ein Wort im Lexikon ist.


© GoldenShadow


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Beschreibung des Autors zu "Ecken und Kanten"

Ein paar Gedanken, die man sich so denkt...

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Kommentare zu "Ecken und Kanten"

Re: Ecken und Kanten

Autor: Angell   Datum: 14.03.2015 8:36 Uhr

Kommentar: Ich finde deine Geschichte einfach mega mega klasse , mehr wie nur auf den Punkt getroffen !!!

LG Angell

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