Sein Blick fiel auf das Schild am völlig verfallen Gartenzaun. ?Zu Verkaufen? ,stand dort handschriftlich geschrieben.
Gerolds interessierter Blick schweifte über das verwilderte Grundstück. Die Bäume waren vermoost und mit Flechten überzogen, das Gras wuchs wild und war bereits meterhoch. Die hölzerne Gartentür war einmal weis gewesen, nun hing sie traurig, an nur einem Scharnier, schief zwischen den Pfosten. Der Kiesweg war kaum als solcher zu erkennen und ein Fenster hatte einen großen Sprung im Glas. Der Putz bröckelte an allen Seiten des Hauses ab, selbst das Dach sah aus, als wollte es jeden Augenblick in sich zusammen stürzen.
Aber da war etwas das ihn innehalten ließ. Eine angenehme Wärme strömte von diesen Wänden aus. Ein Gedanke. Ein Gefühl. Er suchte nach Vergleichbarem in seinen Erinnerungen. Vage war es und doch glaubte er zu wissen was es war. Er war angekommen.
Ein Lächeln huschte über sein Gesicht und das Haus schien auf stumme Weise zurück zu lächeln. Er sah ihn vor sich, den frisch gestrichenen weißen Gartenzaun. Auch die von der alten Farbe befreiten Fenster, den neuen Putz an den Wänden und den frisch angelegten Kiesweg. Er sah Sonnenblumen, die sich sanft hinter dem Zaun im Wind bogen und Vögel wie sie aufgeregt in seinem Garten nach Würmern und Käfern pickten. Aufgeregt suchte er in seiner Jacke nach dem Telefon um bei der angegebenen Nummer anzurufen. Es meldete sich eine nette junge Dame die mit ihm einen Termin vereinbarte.
Gerold war ein stiller Mensch, für seine Exfrau zu still. Seit der Trennung vor ein paar Monaten hielt ihn nichts mehr in seiner alten Gegend. Dieses Haus war der Neuanfang den er brauchte um wieder Wurzeln zu fassen.
Da der Immobilenhändler Herr Wunderlich erst abends für ihn Zeit hatte, erkundete Gerold das Grundstück. Es schien ihn freudig einzuladen es zu betreten.
Er verbrachte viel Zeit unter dem alten Apfelbaum, der mitten im Garten neben einer Brombeerhecke wuchs. Die Zeit der Brombeeren war fast vorbei und die Zeit der Äpfel noch nicht ganz gekommen, aber er fand noch ein paar Beeren, die die Vögle übrig gelassen hatten. So stand er hinter dem Haus und stellte sich seine neue Terrasse vor, die er mit toskanischen Terrakotta- Fliesen auslegen würde. Das leise Summen der Bienen um ihn herum und die warme Nachmittagssonne ermüdeten ihn. Gegen den Stamm des Apfelbaumes gelehnt schlief er selig, als Herr Wunderlich zum dem verabredeten Termin erschien.
Gerold war es sichtlich unangenehm, dass Herr Wunderlich ihn so vorfand, aber dieser zog sein Jackett aus und bat ihn mit ins Haus zu kommen.
Innen war es kalt und muffig. Die Sonne schien hier nur durch Dreck verkrustete Scheiben und als Herr Wunderlich ein Fenster öffnete, klang der Gesang der Amseln wie eine längst vergessene Melodie herein. Die Sonnenstrahlen die ins Zimmer drangen, ließen den Staub im ganzen Zimmer tanzen.
Gerolds fragte ihn nach dem Vorbesitzer des Hauses. Doch darüber hatte Herr Wunderlich nur wenig Informationen. Seine Auftraggeber wohnten im Ausland und waren Erben, die das Haus mitsamt Grundstück noch nie persönlich besichtigt hatten.
?Eigentlich sollte man das Ganze hier abreißen und ein großes Mehrfamilienhaus darauf bauen.? Geringschätzig stöberte Herr Wunderlich in seinen Unterlagen.
?Nur leider darf es nicht abgerissen werden. Der Vorbesitzer hat diese Bedingung an einen Kauf geknüpft.?
Gerold empfand mit einem Mal Abscheu für diesen Herrn, der so wenig Gespür für das Besondere besaß.
?Was soll das Haus denn kosten?? fragte er beiläufig, als wäre er gar nicht wirklich an diesem Haufen Steine interessiert.
Herr Wunderlich sah ihn fragend an, ganz so als überlege er, ob sein Gegenüber ihm nicht zugehört hatte.
?Gibt es Unterlagen davon, wie es einmal aussah?? Gerold lief ohne Ziel in der Küche umher und blickte dabei in die Ecken.
?Ja, in der Tat , die gibt es.? Herr Wunderlich stöberte immer noch in seiner Tasche, bis er fand was er suchte.
?Es sind nur ein paar alte vergilbte Fotografien und Baupläne übrig geblieben.? Er fingerte sie aus seiner Tasche und übergab sie Gerold.
Man konnte nicht mehr sehr viel auf den Fotografien erkennen, aber Gerold sah darin sein neues Zuhause.
?Was soll es kosten?? fragte er noch einmal ohne von der Fotografie aufzublicken.
Herr Wunderlich hüstelte und sah in seine Unterlagen.
? Hundertzwanzigtausend.?
?Wie groß ist das Grundstück??
?Ungefähr zweihundert Quadratmeter.?
Gerold nickte. ?Gibt es ein Gutachten über den Zustand der Bausubstanz??
?Ja, den gibt es.? Herr Wunderlich wurde nun ganz geschäftig und breitete seine kompletten Unterlagen auf dem einzig verbliebenen Möbelstück, einem Küchenbuffet aus.
So blieben die beiden Herren, bis auch das letzte Tageslicht gewichen war, in dem Haus und sahen in jeden Winkel und unter jeden Balken.

Nach zwei Wochen war der Kauf amtlich beglaubigt und Gerold stand mit dem Haustürschlüssel vor seinem neuen Zuhause. Ungläubig und etwas befangen stand er im Garten vor dem Haus, den Schlüssel in der Hand als erwartete er eine Reaktion des Hauses auf ihn und seine Anwesenheit. Um es im Vorfelde milde zu stimmen sagte er ?Ich werde aus dir wieder ein wunderschönes kleines Haus machen. Du wirst sehen, bald erstrahlst du wieder in voller Schönheit.?
Gerold war, als würde es ihn willkommen heißen, freundlich auf ihn herab lächeln.
Als er den Schlüssel in das Schloss steckte und ihn umdrehte, fühlte er sich wie ein lange verschollener Sohn des Hauses. Sein Herz schlug bis zum Hals. Seine Schritte hallten in den leeren Räumen durch die er ging, um sie alle einzeln zu begrüßen.
Er strich dabei sanft über die Wände und Türen, fühlte die Kälte der Wände und die Wärme des Holzes.
Er wanderte durchs Haus um sich mit jedem Winkel vertraut zu machen. Am Ende stand er vor der Leiter zur Dachkammer. Dort oben waren sie nur kurz gewesen um den Zustand des Daches einschätzen zu können. Langsam ging er die schmale und steile Holzsteige empor. Sie hatte kein Geländer und war krumm und ausgetreten. Er stemmte sich gegen das Brett, das die Dachluke verschloss, und hob es an. Vorsichtig schielte er über den Rand des Bodens. Durch ein winziges Fenster im Giebel fiel etwas Licht in den Raum, aber alles was er sehen konnte waren Spinnenweben und Balken. Er wollte schon den Weg nach unten antreten, da fiel sein Blick auf eine Kommode, die versteckt in einer Ecke stand. Neugierig kletterte Gerold auf den Dachboden und wäre beinahe über einen zusammengerollten Teppich gestolpert.
Vorsichtiger ging er weiter. Das spärliche Licht, das durch die dreckige Schreibe drang wusch den Raum in ein diffuses Dämmerlicht der Vergangenheit, welches Gerolds Puls beschleunigte. Er näherte sich der Kommode und entdeckte einen Bilderrahmen der obenauf lag. Er nahm das Bild und wischte mit der anderen Hand den dicken Staub weg. Durch die Glasscheibe blickte ihn eine junges Mädchen, von vielleicht zehn Jahren, an. Sie saß, in ein weißes Matrosenkleid mit weißen Schleifen und blauem Kragen gekleidet, auf einem Korbsessel und blickte sehr ernst, als wollte sie dem Betrachter etwas Wichtiges mitteilen.
Gerold musterte das Mädchen lange und sie kam ihm merkwürdig lebendig vor. Er stellte sich vor, wie sie in anlächelte und ihn einlud in ihrem Haus zu wohnen. Es gruselte ihn leicht und er legte das Bild an seinen ursprünglichen Platz. Dann machte er die Kommode auf. In den unteren Fächern sah er nur Geschirr und Vasen, die teilweise zerbrochen waren, aber in einer Schublade fand er einen alten weißen Füller. Er nahm ihn heraus, drehte ihn zwischen den Fingern und konnte im schwachen Licht den Namen Emily lesen, der in goldenen Lettern eingraviert war.
Er wusste nicht ob der Füller dem Mädchen auf dem Bild gehört hatte, aber Gerold entschloss sich, das Mädchen nun Emily zu nennen. Er überlegte, was er mit dem Füller anstellen sollte und da er ihm gefiel, wollte er ihn mitnehmen. Aber bei diesem Gedanken empfand er ein Unwohlsein. Es war nicht seiner und er hatte nicht das Recht ihn mitzunehmen. Also legte er ihn schuldbewusst zurück in die Schublade der Kommode, entschuldigte sich stumm bei Emily und verließ den Dachboden so schnell er konnte, da er das Gefühl hatte in diesem Moment nicht willkommen zu sein.

Als Gerold am nächsten Tag mit der Arbeit beginnen wollte, schien das Haus ihm aufmunternd zuzulächeln: nur Mut, du schaffst das schon!
Er fing damit an, dass er die unansehnliche Styropordecke von der Küchendecke entfernte. Sie war wohl aus Gründen der Isolierung von den Vorbesitzern angebracht worden, so vermutete Gerold. Der rote bröselige Lehm der Decke fiel auf ihn herab, als er die Platten herunterriss und kitzelte ihn in der Nase. Es störte ihn kaum, denn er dachte daran die alte Verpackung zu entfernen um das Haus wieder in seinem ursprünglichen Glanz erstrahlen zu lassen.
Er entfernte Tapeten, riss die alten Stromkabel aus den Wänden, verputzte alles neu, strich und renovierte zuletzt den Holzfußboden. Er entfernte sogar eine der Wände um den Wohnbereich zu vergrößern.
Es kostete ihn ein Jahr des Schweißes und des Blutes sein Heim so her zu richten wie das Haus es von ihm verlangte.
Er musste nur die Augen schließen und vor seinem inneren Auge tauchten die Bilder der einzelnen Räume auf. Klar und deutlich.
Als er an einem schönen August Abend den letzten Pinsel ausgewaschen hatte, öffnete Gerold sich ein Bier und stand, auf seiner von Terrakotta- Fliesen ausgelegten Terrasse, hinter dem Haus. Der Apfelbaum war schon für den Herbst bereit mit den ersten roten Früchten, die Bienen summten im Garten und die Sonnenstrahlen tanzten durch die Blätter. Die Luft roch nach Feld und Gras. Die Wildrosen am Zaun verbreiteten ihren Duft und die Grillen zirpten ihr Lied.
Ein ganz und gar ruhiges und friedliches Bild zeichnete sich vor Gerold ab. Er tätschelte seine Emily, wie er sein Haus liebevoll nannte und schwor sich hier nie wieder auszuziehen. Hier wollte er bleiben, bis man ihn mit den Füßen zuerst heraus trug. Er hatte für eine Frau schon einmal alles aufgegeben, dieses Mal würde er sich nicht wieder vertreiben lassen. Er konnte sich in diesem Moment nicht vorstellen, dass es eine Frau geben könnte, die er so sehr lieben konnte, dass er für sie dieses Haus aufgab. Es beschützte ihn, war seine Festung und sein Halt, es gab ihm Geborgenheit wie der Schoß einer Mutter.
Keine Frau konnte ihm das geben, was er jetzt empfand: Inneren Frieden.
?Wir werden zusammen alt, Emily.? Sagte er und das Haus antwortete ihm stumm.

Als im Nachbarort die alljährliche Kirchweih, zu Ehren eines guten Erntejahres gefeiert wurde, machte Gerold sich schick und fuhr mit seinem Fahrrad dorthin.
Zuerst fühlte er sich zwischen so vielen Menschen verloren und fehl am Platze. Er überlegte gerade wieder zu gehen, als ihn ein Frau ansprach:
?Gerold? Bist du das??
Diese gut aussehende Frau zog ihm am Arm und strahlte ihn an.
?Irmi?? Gerold traute seinen Augen nicht.
?Oh mein Gott! Was machst du denn hier??
Gerold konnte es nicht glauben, vor ihm stand seine alte Jungendliebe Irmgard Hölzlinger, die er schon als kleiner Bub angehimmelt hatte. Irmi war zwei Jahre älter als er und schon früh mit den älteren Jungen im Heuschober verschwunden. Ihn hatte sie nie bemerkt. Er aber hatte sich manchmal heimlich hinter dem Schober versteckt und sie dabei beobachtet wie sie sich von anderen Jungen ausziehen ließ. Jetzt in dem dichten Gedränge kamen die alten Bilder an Irmi wieder hoch und er wurde rot. Irmi deutete dieses Zeichen als eines der Wiedersehensfreude, hakte sich bei ihm ein und lud ihn zu einem Schoppen ein.
So saßen sie bis spät in die hinein Nacht zusammen und erzählten sich Geschichten aus der Vergangenheit und der Gegenwart.
Irmi erzählte Gerold, dass sie eine Scheidung hinter sich hatte, nun Alleinerziehende Mutter mit zwei Kindern sei und gerade erst aus München her gezogen war, weil ein Bekannter ihr eine Anstellung als Pferdefachwirtin verschafft hatte.
Gerold erzählte von seiner Scheidung und seinem neuen Haus, in das er Irmi auch sogleich einlud. Angetrunken nahm Irmi die Einladung an und zog Gerold mit sich fort. Sie wollte sein Haus jetzt sehen. Sie fuhren zu zweit auf seinem Fahrrad durch die Nacht. Der Spätsommermond leuchtete ihnen dabei den Weg.
Als sie beim Haus ankamen, zeigte ihr Gerold zuerst seinen Garten. Er zog sie unter den Apfelbaum und legte ihr die Hände auf die Augen.
?Hör mal!?, forderte er sie auf. Nur ein leises Zirpen der Grillen war zu vernehmen.
?Schön?, nuschelte Irmi, zog Gerold fest an sich heran und küsste ihn leidenschaftlich.
Gerold war als würde ein alter Kindheitstraum wahr werden. Er sah sich noch hinter dem Schober stehen und eine feuchte Hosen bekommen bei dem Anblick der prallen Brüste Irmis. Und jetzt küsste sie ihn, als wäre er die Erfüllung ihrer feuchten Träume.
?Zeig mir dein Haus.? Forderte sie ihn auf und zog Gerold mit sich. Er wollte sie durch alle Räume führen, aber Irmi wollte nur das Schlafzimmer sehen.



Gerold hatte sich nach diesem Jahr wieder eine Arbeit suchen müssen, denn seine Geldreserven waren bis auf den letzten Cent aufgebraucht. Er stellte sich bei einem Gas-Wasser-Installateur vor, dem er stolz von seinem restaurierten Haus erzählte und daraufhin den Job bekam. Gerold arbeitete in den nächsten Wochen hart, denn er brauchte das Geld. Irmi dagegen musste oft auf Gerold verzichten, auch an den Wochenenden. So stöberte sie in seiner Abwesenheit durch das Haus. Sie mochte die fein verputzen kühlen Wände und die warmen Farben die Gerold ausgesucht hatte. Sie lief durch das ganze Haus. Am Ende stand sie vor der kleinen Treppe, die auf den Dachboden führte. Gerold hatte das Brett durch eine massive Tür mit einem Schloss ersetzt. Diese erweckte nun Irmis Neugier. Sie kannte Gerold mittlerweile gut und ahnte schon wo der Schlüssel zu dieser Tür war. Zielstrebig schritt sie die Treppen hinab und ging in die Küche. Sie öffnete jede Schublade des alten Küchenbuffets und fand ihn in der letzten Schublade unter einer Schachtel Streichhölzer. Triumphierend hielt sie den Schüssel in die Luft.
Sie ging die Treppen zum Dachboden wieder hinauf, steckte den Schlüssel ins Schloss und er passte tatsächlich. Sie schloss die Tür auf und erkannte das sie ohne Taschenlampe nicht weit kommen würde. Sie holte sich ihre aus dem Auto und versuchte es ein weiteres Mal. Als der Lichtkegel in das Dunkel leuchtete, huschten gespenstische Schatten über die Wände. Vorsichtig schritt sie durch den großen Raum, der kaum Licht bot. Der Schein der Taschenlampe fiel auf eine Kommode, die versteckt hinter einem Balken in der Ecke stand. Erfreut etwas gefunden zu haben, ging Irmi zielstrebig darauf zu. Fast wäre sie über den Teppich gefallen, der mitten im Raum lag. Sie rollte ihn aus und fand eine kleine weiße Schleife, die am Rande des Teppichs hing. Sie nahm sie an sich und schaute sie neugierig unter dem Taschenlampenlicht an. Sie war aus Samt und auf der Unterseite war der Faden zerrissen, so als ob sie von einem Kleidungsstück abgerissen worden wäre. Irmi rollte den Teppich wieder zusammen und behielt ihr Fundstück in der Hand.
Sie fand das Bild und wollte sich neugierig darüber beugen als sie zurück schreckte. Das Mädchen auf dem Bild schien sie mit einer verachtenden Hochmütigkeit
anzublicken. Irmi mochte das Mädchen auf dem Bild nicht. Schnell legte sie das Bild mit dem Gesicht nach unten wieder zurück. Ihre Aufmerksamkeit galt nun der Kommode. Sie stöberte durch die Fächer und dachte daran die eine oder andere Vase, die sicher ein paar Euro wert war, auf einem Flohmarkt zu verkaufen. Dann fand sie den Füller. Sie steckte ihn ein. Als sie ihre Hand aus der Tasche zog krachte mit einem ohrenbetäubenden Knall der Fensterladen gegen die Wand. Irmi erschrak und ließ die Schleife fallen. Schnell stand sie auf um den Dachboden zu verlassen. Dabei blieb sie am Teppich hängen, verlor das Gleichgewicht , fiel bäuchlings hin und verlor dabei die Taschenlampe, die weit über den Boden rollte. Irmi raffte sich so schnell sie konnte wieder auf und stürmte zur Dachluke. Die Taschenlampe ließ sie liegen wo sie war. Denn sie wollte so schnell wie möglich diesen gruseligen Ort verlassen.

Als Gerold am Abend müde von der Arbeit nach hause kam, erzählte sie ihm nichts vom heutigen Nachmittag.
Stattdessen versuchte sie ihm ein Leben mit ihr, in einem weit größeren Haus, schmackhaft zu machen. Eines, das gerade Wände hatte, doppelt verglaste Fenster und eine Zentralheizung.
Gerold aber verstand seine Irmi nicht. Er ließ nichts auf das Haus kommen und reagierte wütend und abweisend auf Irmis Vorschlag.
?Das Haus ist für uns alle zu klein.? Irmi versuchte es ein letztes Mal, bevor sie es vorerst aufgab. Sie mochte Gerold sehr. Sie mochte seine liebe und ruhige Art. Er verstand sie auch ohne Worte und verzieh ihr auch jede noch so kleine Unbeherrschtheit . Sie spürte dass er sie liebte und alleine schon aus diesem Grunde wollte sie nicht kampflos aufgeben.
Sie kochte und backte für ihn, machte ihm das Haus sauber und räumte auf. Nur auf den Dachboden ging sie nicht mehr. Auch die Taschenlampe hatte sie nicht mehr geholt. Keinen Fuß würde sie mehr dorthin setzen.
So ging der Herbst und der Winter ins Land.


Da Irmis Kinder den Silvesterabend bei ihrem Vater verbringen würden, hatte Gerold sich für diese Gelegenheit etwas Besonders einfallen lassen. Als Irmi am Abend zu ihm kam und dann unter ihm gekommen war fragte Gerold sie ?Zieh hier ein mit deinen Kindern. Ich möchte mit dir zusammen sein. Du warst immer die Eine für mich und jetzt möchte ich dich nicht mehr gehen lassen.?
Irmi sah Gerold an ?Das Haus ist zu klein für uns alle. Wie stellst du dir das vor? Sollen wir alle in einem Zimmer schlafen??
?Ich könnte doch anbauen? schlug Gerold vor, aber Irmi schüttelte müde den Kopf.
?Nein, Gerold. Wir brauchen ein größeres Haus. Das hier ist ja ganz nett aber nichts für vier Personen.? Und damit kuschelte sie sich an ihn und schlief ein.
Gerold aber lag wach und überlegte. Er war sich sicher gewesen, das er dieses Haus nicht freiwillig aufgeben würde. Und schon gar nicht für eine Frau. Aber Irmi war eine Konstante die er nicht berücksichtigt hatte bei dieser Überlegung. Für Irmi war er sogar bereit dieses Haus aufzugeben. Da hörte er ein leises Quietschen, das er erst nicht einordnen konnte. Und dann sah er es, ein kleiner Riss durchzog die Wand am Fußende. Erschocken wollte er sich aufsetzten, doch dann wurde ihm klar, das er in einem alten Haus wohnte, dessen Wände immer noch arbeiten. Er entspannte sich wieder und seine Gedanken trugen ihn weiter.
Das Haus aufgeben? Wehmütig dachte er an jeden einzelnen Blutstropfen den er hier vergossen hatte, an die Verlegung der Stromkabel, das Verputzen und Streichen von Decken und Wänden, an den Holzfußboden den er frei gelegt und restauriert hatte und die neu von ihm gebauten Fensterläden. Er dachte an die gemütlichen Abende vor dem Kaminofen und die Sommerabende in seinem Garten. Sein Blick fiel auf Irmis Gesicht. Ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht und automatisch musste er zurück lächeln. Sie machte ihn glücklich. Sie war seine große Liebe und endlich hatte sie ihn erhört. Er wusste, das er ihr nichts abschlagen konnte. Was sie wollte war Gesetz. Was auch immer sie von ihm verlangte, er würde es tun.
Dieses Mal war das Quietschen lauter und Gerold schien es, als käme ein tiefes und dunkles Grollen dazu.
Aber es verschwand wieder als er sich ruckartig aufsetzte und sich um sein Haus sorgte. Irmi wurde durch diese Bewegung wach und fragte ihn was denn los sei.
?Nichts, mein Schatz. Wahrscheinlich nur die Silvesterkracher. Schlaf weiter.? Er küsste sie auf die Stirn und war sich in diesem Moment sicher, dass er für sie auch das Haus verlassen konnte.
Als er überlegte wo er die Visitenkarte von Herrn Wunderlich hingelegt hatte, durchzog ein lautes Krachen und Knacken das Gebälk, das in ein ohrenbetäubendes Poltern überging.

Am Neujahrsmorgen war die Feuerwehr als erste zur Stelle. Die Leichen wurden geborgen und in dunklen Holzsägen abtransportiert. Der Gutachter kam nach Wochen der Untersuchungen zum Schluss, dass eine tragende Wand entfernt wurde, die letztendlich zum Einsturz des Hauses führte.


© A.Friedrich


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Beschreibung des Autors zu "Das alte Haus"

Endlich zuhause angekommen, beginnt Gerold damit sein neues Leben zu planen, doch oft kommt es anders.

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