Die Toten Hosen schmetterten donnernd aus der Box des kleinen Autos.

"Wo sind diese Tage
An denen wir glaubten
Wir hätten nichts zu verlieren
Wir machen alte Kisten auf
Holen unsere Geschichten raus
Ein großer, staubiger Haufen Altpapier
Wir hören Musik von früher
Schauen uns verblasste Fotos an
Erinnern uns, was mal gewesen war

Und immer wieder
Sind es dieselben Lieder
Die sich anfühlen
Als würde die Zeit stillstehen

Ich geh´ auf meine Straße
Lauf´ zu unserem Laden
Seh´ euch alle da sitzen
Weiß, dass ich richtig bin
In welchen Höhen und welchen Tiefen
Wir gemeinsam waren
Drei Kreuze, dass wir immer noch hier sind

Und immer wieder
Sind es dieselben Lieder
Die sich anfühlen
Als würde die Zeit stillstehen
Denn es geht nie vorüber
Dieses alte Fieber
Das immer dann hochkommt
Wenn wir zusammen sind"

Das Lied lief in den Charts auf und ab und wie immer kamen mit ihm die Erinnerungen und Gefühle hoch, die jedes Mal bei diesem Lied in ihr aufkamen. Generell bei Liedern, die sich auf die Vergangenheit bezogen, Liedern die sie durch eine Zeit ihres Lebens begleitet hatetn oder auf eine solchen Zeit anspielten. Sofort war sie im Melancholie Modus. Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. Diese Gefühle hatten immer zur Folge, dass Sie sich danach noch einsamer fühlte als sonst und noch unfähiger, das Leben zu leben, was für Sie bestimmt war und was sie sich ausgesucht hatte, aussuchen mußte um nicht allein zu bleiben.

Sie dachte an die alten Zeiten, die alten Geschichten, die Zeit ihres Lebens, auf die das Lied passte. Ihre Zeit kurz vor den 20ern. Eigentlich die beste Zeit Ihres Lebens. Der Beruf und das Engagement der auf diese Zeit folgte, hatte aus ihr schnell von der Partymaus eine viel beschäftigte Maus gemacht, die keine Zeit mehr hatte zum Feiern und Freunde treffen, und wie es oft so war, waren genau wie sie, viele der Freunde weg gezogen aus den elterlichen Häusern, aus dem Ort in dem sie alle gewohnt hatten, hatten sich auf ihre Ausbildung, Ihre Berufe konzentriert und die schöne Zeit hatte geendet. Alles hatte sich verlaufen und man hatte größtenteils keinen Kontakt mehr zu Menschen, die einem vorher sehr wichtig gewesen waren und die man fast täglich gesehen hatte. Sie passten nicht mehr in das Leben, das sich auf Beruf, Familiengründung und Niederlassung bezog. Von ihr aus hätte das Leben wie damals ewig weitergehen können. Sie hatte auch keine Verlustängste verspürt. Viel zu selbstverständlich hatte sie diese Zeit gelebt und erst gemerkt wie sehr sie sie geliebt hatte, als sie vorbei war.
Sie vermisste die Zeit, die Heftigkeit der Gefühle, nun mit fast 37 Jahren, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als noch einmal diese Zeit erleben zu dürfen, noch einmal die Freiheit zu genießen, noch einmal das wankelmütige Kind, das begehrte Mädchen, die Femme fatale zu sein. Sie schmunzelte. Sie war immer eine Frau gewesen, die nie Modelmaße gehabt hatte, immer einen Hang zum Pummelchen, und doch hatte Gott Sie mit Proportionen versorgt, die durchaus weiblich und anziehend auf Männer wirkten. Damals war sie recht knackig gewesen und hatte dies auch gern gezeigt und sich sexy gekleidet. In kurzen Röckchen einkaufen gefahren, bauchfrei herumgerannt und mit tiefen Dekolletees. Sie hatte es genossen, die Blicke der Menschen auf sich zu ziehen, ebenso hatte sie es genossen in der Schule immer hoch angesehen zu sein in den Randgruppencliquen, den coolen, den anderen. Sie hatte sich nie darüber beklagt, keine Freunde zu haben, oder einsam zu sein, es waren so viele, dass sie sie nicht zählen konnte, Vergnügungsjunkies, wie sie selbst, aber leider auch so unbeständig und oberflächlich, wie es bei Party- und Feierbekannten nun einmal war. Nur wenige Ausnahmen gab es damals und richtig Kontakt hatte sie mit niemandem mehr aus dieser Zeit. Was wahrscheinlich auch ein Grund war, dass es ihr irgendwie irreal vorkam, wie ein Traum.

Das Leben war nun eingefahrener, in festen Bahnen. Für Wankelmütigkeit gab es keinen Platz mehr, auch nicht für Risiko oder Abenteuer, das passte jetzt alles nicht mehr, man war ja ein Routinemensch. Aufstehen, arbeiten, kochen, fernsehen, Bett. Dann fing alles von vorne an. Die Wochenenden waren ähnlich eingefahren und eigentlich sterbenslangweilig.

Doch die aufkommende Sehnsucht war so stark, dass sie nicht aufhören konnte, nachzudenken, an die mitternächtlichen Badetouren an den Eifler Rursee, an heimliche Berührungen auf der Rücksitzbank eines voll besetzten Autos, an Konzerte und Rollertreffen, an Lagerfeuer und Feten, an eine eisige Winternacht, in der man vor Liebe innerlich so warm war, dass man sich neben die geliebte Person in den Schnee legte, in die Sterne schaute und redete und danach 3 Wochen krank war, aber für diesen Moment, diese Nacht noch weitaus mehr Gesundheit geopfert hätte, einfach weil sie es wert war, weil das Gefühl es wert war, neben ihm zu liegen. Sie glaubte fest, dass sie für diesen Moment noch immer bereit wäre ihre Seele zu opfern, sofort aus dem Stand heraus. Jetzt.

Sie lächelte ihr Spiegelbild traurig an. Auch ihr Äußeres hatte sich mit der Zeit natürlich verändert. Ob er sie noch erkennen würde? Was er wohl denken würde? Ob auch er sich verändert hätte? Nach all den Jahren? Ob er noch das gleiche Gefühl in ihr hervorrufen würde, wie er es damals getan hatte? Er war in ihren Träumen gewesen, immer, in all ihren Fantasien und wenn er in der Realität auftauchte, war es für sie wie ein Rausch gewesen, die ganze Zeit, die er da war hatte sich dann all ihr Denken, all ihr Fühlen nur noch auf ihn gerichtet, alles andere um sie herum war verblasst, es gab nur noch ihn.

Sie strich sich leicht über die Lippen und konnte ihn nach all der Zeit immer noch fühlen, den ersten Kuss, damals, vor langer Zeit, doch jede Sekunde davon fest in ihr Herz gebrannt. Sie konnte noch seinen Atem spüren, die Luft draußen riechen. Den Regen und den Wind. Sie hatte noch alles, was sie damals mit ihm in Verbindung gebracht hatte. Einen Brief, ein Foto, ein Horoskop, das er ihr damals, kurz bevor er sie zum ersten Mal geküsst hatte vorgelesen hatte über ihre Zukunft und Ihre Erinnerungen. Und diese verdammte Sehnsucht, die sie von innen verbrennen ließ. Immer wieder, ohne Aufenthalt. Mal mehr und mal weniger.

Ob er es war, der sie zerstört hatte? Der sie nie wieder so lieben lassen hatte, wie sie damals geliebt hatte, als er ihre Liebe weg stieß? Ob er es war, der ihre Sicht auf die Liebe getrübt hatte, ihr genommen hatte, so stark für jemanden zu empfinden, wie sie für ihn empfunden hatte?
War er es schuld, dass sie niemanden so lieben konnte, wie ihn, nach ihm nie wieder diese Gefühle gefühlt hatte?
Wieder lächelte sie traurig. Jeder Tag nach diesem Kuss war wie ein Geschenk gewesen. Jeder Abend, jedes Einschlafen war wundervoll, einfach, weil sie wusste, sie würde am Morgen aufwachen und noch seine Freundin sein, jeder Tag, jede Sekunde hallte es damals in ihrem Kopf. Ich bin seine Freundin! Sie hatte nicht aufhören können zu lächeln, nie. Es war als würde man in seinem eigenen Traum erwachen. Sie hatte sich über ihn definiert. Ich bin seine Freundin, Menschen hatten sie anders behandelt, Jungs hatten sie anders angesehen. Sie war seine Freundin gewesen.
Durch viele verschiedene Umstände war es schnell vorbei gewesen. Zu schnell. Und es hatte sie für immer verändert. Ob er wusste, dass es so war, dass er sich für immer in ihrem Inneren vergraben hatte und dass selbst wenn sie gewollt hätte, er niemals aus ihrem Inneren verstoßen werden würde, solange sie lebte.

Es gab so viele Momente und Situationen an die sie sich so genau erinnern konnte, als wären sie erst gestern gewesen, sie konnte noch fühlen, wie sie damals gefühlt hatte, doch danach hatte sie nie wieder so gefühlt. Nicht in der Intensität, nicht in dieser Deutlichkeit.

Das Leben war weiter gegangen, ganz klar und es hatte auch ohne seine Anwesenheit in ihrem Leben unglaublich schöne Zeiten gegeben, Momente des Glücks, doch sein Bild war immer da, immer irgendwo bei Ihr, in ihrem Herzen, in ihrem Kopf. So wie jetzt, auf der Fahrt zu Arbeit. Sie wusste, er würde den ganzen Tag bei ihr sein, ihr innere Unruhe bescheren, Unzufriedenheit, weil sie das Kribbeln in ihrem Bauch nicht abstellen konnte, nichts dagegen tun konnte und es sich trotzdem so sehr wünschte. Sie wusste, dass sie einschlafen würde mit seinem Bild in ihrem Kopf, mit Wünschen und Phantasien über ihn, wie sie schon unzählige Nächte eingeschlafen war.

Wie oft hatte Sie in den letzten 10 Jahren an ihn gedacht? Wie oft hatte sie gehofft, ihn zu treffen, an ihm vorbei zu laufen, so zufällig, wie es damals immer passiert war, doch es war nie wieder passiert. 15 verdammte Jahre waren vergangen, ohne dass sie ihn je wieder gesehen hatte. Es gab eine Situation bei einem Einkaufsladen in ihrer beider Heimatort. Ein Mann hatte hinter ihr gestanden, aber sie hatte ihn nicht wirklich erkannt, es war wie ein Hauch des Erkennens, der sie gelähmt hatte. Da er aber direkt hinter ihr stand, hatte sie sich nicht getraut sich direkt umzudrehen und ihn anzusehen. Aber auch er hatte nichts gesagt. War er es gewesen? War er geschockt darüber, wie sie nun aussah? Hatte er sich vielleicht sogar erschrocken? Sie wusste es nicht, wusste nicht, ob er es gewesen war. Sie hatte nur fluchtartig den Laden verlassen und nicht zurückgeblickt. Dies tat ihr bis heute leid. Wenn er es gewesen war, dann wüsste sie jetzt, wie es um ihn stand, wie er aussah, vielleicht hätte sie mit ihm geredet, fragen können, erfahren können, dass es ihm gut ging, doch alles was ihr wie immer blieb waren die quälende Fragen. Was wenn das die letzte Chance gewesen war, ein Wink des Schicksals? Wie es ihm wohl ging? Was er machte? Ob er glücklich war? Kinder hatte? Eine Frau? Sie wünschte es ihm. Hatte ihm immer gewünscht, glücklich zu sein. Es erfüllte sie mit einem Gefühl von Ruhe und Frieden, zu wissen, dass es ihm gut ging, aber genauso auch mit blanker Panik zu denken, dass es ihm schlecht ging.

Alle Männer nach ihm waren für sie nie das gewesen, was er war. Alle anderen waren quasi ein Engagement mit sich selbst, eine Flucht vor dem Alleinsein gewesen, ein Versuch ihre innere Lehre zu füllen, die er hinterlassen hatte. Sie hatte allen immer im Geiste sein Gesicht aufgesetzt, seinen Charakter aber dies ging leider nie lange gut. Wie es immer so ist mit Wolkenschlössern. Sie fallen schnell in sich zusammen. Irreparabel. Meist hatte es also nicht geklappt, und wenn, dann nur für kurze Zeit und was kam war der verzweifelte Versuch jemand neuen zu finden, der es vielleicht schaffte. Eine Rastlosigkeit, die sie nie losließ, sie immer dazu verdammte, weiter zu ziehen, nie zu bleiben, immer weiter, suchend, hungernd, ziellos.
Verdammt, aber es schaffte keiner, so hart sie es auch versuchte und so sehr sie sich auch bemühte. Irgendwann war dann wie immer der Moment da, in dem sie es wusste. Es war vorbei, denn alles was dann noch in ihr übrig war, war die Sehnsucht, die Verzweiflung und die Aussichtslosigkeit ihres Lebens, denn alles was sie wollte war nicht zu erreichen, viel zu weit weg und unerreichbar. Der Moment wo sie aufhörte zu kämpfen, um den anderen Mann um Glück mit ihm. Und dann verlor sie sich, in der Vergangenheit und hatte es oft schwer, die Realität zu sehen.
Als sie ihn damals für sich hatte, war sie in einer Phase des Lebens gewesen in der ein Umbruch stattfand. Sie war von einem stillen, zu dunkel gekleideten, dicken Teenager zur Frau erblüht. Genau in ihrem Knospenstadium war sie mit ihm zusammen gewesen. Noch nicht fertig, noch nicht die Blüte die er verdient gehabt hätte, noch nicht. Sie war sie definitiv gewesen. Später. Das schlimmste war, dass sie wusste, dass sie die Frau hätte sein können, die ihn glücklich hätte machen können, sein Leben lang, aber die Wirrungen des Schicksals hatten sie auseinander getrieben, keine Möglichkeiten mehr gebracht, einander später noch einmal näher zu kommen. Zusammen das Glück zu finden. Es zumindest noch einmal zu versuchen.
Nach der Trennung war der Kontakt abgebrochen, sofort. Das Leben war trüb und leer gewesen. Hoffnungslosigkeit. Leere. Bis zu einem Abend, an dem sie wie so oft durch den Regen gelaufen war um nicht in ihrem kleinen Zimmer zu sitzen und in der Trostlosigkeit des Ohne ihn seins zu ertrinken. Sie war wie so oft an seinem Haus vorbei gegangen. Oft hatte sie einfach nur durch den Lichtschein aus seinem Fenster ein bisschen Trost finden können. Allein der Gedanke, dass er in diesem Licht in diesem Zimmer saß hatte sie aufgebaut.
An diesem Abend war das Licht aus gewesen, der Regen mit ihren Tränen vermischt. Sie war nur wenige Schritte von seinem Haus entfernt, als sie hörte wie jemand ihren Namen rief. Sie hatte gedacht, es wäre Wunschdenken, doch beim erneuten, vertrauten Klang der geliebten Stimme hatte sie sich umgedreht. Er war es. Seinen Hund an der Leine.
Sie hatten kein Wort über die Trennung verloren und waren redend durch den regnerischen Abend gelaufen. Hatten geredet, über alles, nur nicht über das was ihr auf den Lippen brannte, und doch war es wie ein stillschweigendes Einvernehmen gewesen. Wie alles was zwischen ihnen ablief. Es war irgendwie immer richtig, letztendlich. Auch dieser Abend, das Gefühl der Richtigkeit an seiner Seite zu sein, blieb für immer in ihrem Herzen. Die Themen der Gespräche verblassten mit der Zeit, die Gefühle aber nicht.
Seit diesem Abend, ohne darüber gesprochen zu haben, entwickelte sich eine Art Freundschaft. Sie jedoch hatte sich nie getraut, diese zu leben, sie hatte immer nur gewartet. Auf ihn. Er war in uregelmäßigen Abständen bei ihr aufgeschlagen, hatte sie besucht, stundenlang geredet und war wieder verschwunden. Ihr Leid war erst vorbei, wenn er das nächste Mal vor ihrer Türe stand, auch wenn sie sich das damals noch nicht eingestand. Bei jedem Klingeln an der Haustür war ihr Blick aus dem Fenster geflogen. Wenn sein Auto vor der Türe stand jubilierte sie, wenn nicht, trauerte sie. Sie konnte sich noch an das erste Mal erinnern, als er vor ihrer Türe stand, die Hände in den Hosentaschen seiner Diesel Jeans, die schwarze Lederjacke über den breiten Schultern. Sie hatte die Tür geöffnet. Er hatte einfach davor gestanden und sie angelächelt, als wäre es das selbstverständlichste der Welt. Sie hatte ihn herein gebeten und er war herein gekommen und stundenlang geblieben. Sie hatten geraucht, gelacht, gescherzt, geredet. Eigentlich hatte meist er geredet und sie hatte ihn angesehen und ihm zugehört, einfach nur genossen. So war es dann öfter gekommen, nicht oft, aber hin und wieder, dass er sie besuchte. Es nahm ein Ende, als sie auszog. Sie verließ ihr Elternhaus und nahm ihm die Chance, sie zu besuchen.
So oft hatten Sie sich dann auch zufällig parallel in ihrem Heimatort getroffen. Nach dem Einkaufen, beim Einkaufen und dann stundenlang auf dem Parkplatz gestanden und geredet. Jedes Mal war die Welt für diese wenigen Stunden in Ordnung gewesen um danach wieder die Welt zu sein, in der nichts passte und nichts stimmte.
Immer wieder hatte sie sich vorgenommen, alte Wunden heilen zu lassen, doch es geschah nicht. Sie lernte einfach, mit dem Schmerz zu leben, aus der Erinnerung zu zehren. Eine Welt in der nichts in Ordnung war als Tatsache, Normalzustand zu akzeptieren, aber ebenso, nie zufrieden zu sein, die Leere im Inneren, ein stiller Begleiter. Sie war nie böse gewesen auf ihn, war sich noch nicht mal im Klaren, wie er in all der Zeit über sie gedacht hatte. Es hatte sie nie interessiert, denn es hätte nichts an ihr geändert. Leider, würde nie etwas an ihr ändern. Es waren viele Männer gewesen, die sie benutzt hatte, um den Schmerz zu töten, zu betäuben, viele Erfahrungen, doch es hatte nichts gebracht. Sie war nicht einen kleinen Schritt weiter, als damals, als er ihr vor einer Turnhalle mit einem bunten, aufgemalten Hahn gesagt hatte, dass es vorbei ist, inmitten von parkenden Autos und ihr das Herz heraus gerissen hatte und ihre Leben für immer verändert. Er würde dies nie erfahren, nie verstehen. Niemand würde das. Und doch war immer noch die Hoffnung da, wie in einem solchen Moment, auf dem Weg zur Arbeit. Die Hoffnung, dass noch einmal ein Moment kommen würde, wie im dunklen Treppenhaus im Haus ihrer Eltern, in dem er nach einem Besuch bei ihr die Haustür geöffnet hatte um zu gehen und sie neben ihn geschlüpft war, um diese hinter ihm zu schließen. Unvermittelt hatte er sich zu ihr umgedreht, ihr tief in die Augen geschaut.
„Du hast da was im Haar“. Wie in Zeitlupe hatte seine Hand nach ihr gegriffen, war in ihren Haaren eingetaucht und zu ihrem Nacken geglitten um ihren Kopf zu umfassen. Dann hatte er sie geküsst. Noch heute stiegen ihr beim Gedanken daran Tränen in die Augen, denn es hatte nur einen Moment gegeben, bis dato, der sich so richtig angefühlt hatte, der so unumstößlich perfekt war wie dieser Moment. Sie fühlte noch heute diese Perfektion und gleichzeitig die Angst, dass etwas so perfektes nicht wahr sein könne. „Du verarschst mich doch“ hatte sie atemlos geflüstert. Er hatte nur den Kopf geschüttelt und sie noch einmal geküsst und war dann gegangen. Nie wieder in ihrem Leben war sie so glücklich gewesen und nie wieder würde sie so glücklich sein.
Konnte es sein, dass man Glück dosieren musste? Hatte sie durch diesen einen Moment all ihr Glück verbraucht? Hätte sie, wäre dieser Moment nicht gewesen vielleicht irgendwann im Leben mehr Zufriedenheit und Glück empfunden? Wäre es das wert gewesen, auf diesen Moment zu verzichten? Nein. Denn wenn es etwas gab, was als Ziel in ihrem Leben gelten könnte, dann war es dieser Kuss oder die Rückfahrt von einer Fete, die sie mit ihm auf der Rücksitzbank eines Autos verbracht hatte, den Kopf in seinem Schoß, seine Hände auf ihr, ihre Hände auf ihm, leise Musik, die Welt ausgeblendet, bis auf seinen Schoß unter ihrem Kopf, das Gefühl seiner Hände auf ihr, sein Geruch, der kratzige Stoff seiner Hose an ihrer Wange, seine heisere Stimme, die auf Fragen aus dem vorderen Teil des Autos antwortete. Auch dieser Moment war perfekt gewesen. Das einzig ansatzweise sexuelle, was sie mit ihm erlebt hatte, doch in ihrer Phantasie war er der Erste, der Letzte, der Einzige gewesen, immer, bis heute.
Sie wusste immer noch, nach 15 Jahren, wie er aussah wenn er lachte, wenn er zu viel getrunken hatte, konnte sich immer noch an seine leicht schiefen Zähne erinnern, an seine Augen, an den Klang seiner Stimme und an sein sehr aufbrausendes Temperament, und auch die Angst die sie um ihn hatte, immer, wegen den Drogen, den Schlägereien, wegen seinem Vater.
Ob er sie geliebt hatte? Sie wusste es nicht, würde es nie wissen. Es spielte auch keine Rolle, denn selbst hätte er sie nie geliebt hätte sie die gleichen Gefühle, heute und immer, denn sie liebte ihn, wie niemanden auf dieser Welt, würde nie aufhören ihn zu lieben.
Sie fuhr auf den Parkplatz ihres Arbeitgebers, der Kies knirschte unter den Reifen. Sie fühlte sich schlecht. Schlecht, alleine und total aufgedreht, belebt von all den Gedanken an ihn.
Sie hörte immer noch seine Stimme, leise an ihrem Ohr, fühlte immer noch das überwältigende Glücksgefühl, die tiefe reine Gewissheit am Ziel ihrer Träume zu sein, als er vor langer Zeit „ich liebe Dich“ in den Hörer geflüstert hatte, der ihr danach fast aus der Hand gerutscht wäre. Ihr Herz hatte sich 80 mal überschlagen. Es war perfekt gewesen. Einfach nur schön.
Ihr fiel wieder der kleine Dinosaurier ein, den sie ihm geschenkt hatte. Er war damals das einzig weibliche in seinem relativ kargen Zimmer gewesen, der einzige Farbklecks in seinem Zimmer. Aber auch dieser hatte nicht geholfen. Er war nicht mehr da, nicht mehr bei ihm, genau wie sie. Das kleine Stofftier wäre wahrscheinlich längst auf einer Mülldeponie, in seine kleinen Plastikteile verfallen, doch sie war noch da, seelisch aber scheinbar im gleichen Zustand. Shredded into peaces!
Das war doch verrückt. Wie immer folgte die Wut auf das Einsehen. Ärgerlich schüttelte sie erneut den Kopf. Nicht alle Latten am Zaun, schimpfte sie dann immer mit sich selbst. In den Phasen der Wut hatte sie schon so oft versucht, ihn zu finden. In Kontakt zu treten, doch immer erfolglos. Er war nirgends. Nicht auf Facebook, nicht im Study VZ, nirgendwo ein Hinweis.
Was sie getan hätte, hätte sie ihn gefunden? Eine unverfängliche Freundschaftsanfrage, ein kleines Hallo, ein Fragen wie es denn geht. Mehr nicht. Einfach nur zu wissen, dass es ihm gut geht, zu wissen, dass er glücklich ist. Vielleicht wäre das genug. Weiter heimlich von ihm träumen bei seinem Lied von Maria Carey.
Warum bist Du nicht bei Facebook, warum kann ich Dich nirgendwo sehen, kann ab und zu teil haben an dem, was Du tust, was Du lebst, wenn ich Dich schon nicht haben kann, nicht an Deiner Seite sein kann? Warum bist Du wie ein Phantom in der realen Welt als auch in meinem Kopf? Wieso gibt es Dich nicht, wieso kann ich nicht Dein Freund sein, kann ab und zu mit Dir reden? Wieso kann ich nicht wenigstens für solch einen kleinen Moment glücklich sein?
Das Leben vor ihm war gut gewesen. Wie gesagt, sie war gerade in der Phase in der man die ersten Male mit Freunden feiern geht, die Nächte durchtanzt, die ersten ernsthaften Flirts, Party. Wundervoll. Die einzigen Probleme, wie lange darf man weg, wann muss man zu Hause sein.
Die ersten Angebote von Männern, das erste suchen nach einem Freund, die erste Beziehung.
Der Tag hatte relativ harmlos angefangen. Es gab einen wunderschönen Jahrmarkt in der Nähe, der einmal im Jahr stattfand. Hier trafen sich alle, unter freiem Himmel, life Musik usw. Es war ein großes Sehen und gesehen werden. Durch eine Freundin war sie plötzlich in seiner Clique. Man traf sich bei einem Freund. Zuerst hatte sie ihn zwar bemerkt, aber nicht wirklich wahr genommen. Das pure Äußerliche war nicht der Grund, definitiv nicht. Aber dann, im weiteren Verlauf des Tages/Nachmittags musste sie unendlich oft über ihn lachen. Oft trafen seine Blicke die Ihren und dann, aus heiterem Himmel war es passiert. Er hatte die Jacke ausgezogen. Trug zu seiner Diesel Jeans ein rotes T-Shirt. Eng. Er war auf einen Tisch geklettert und versuchte etwas an einer Lampe zu reparieren und drehte sich, mit den Armen über dem Kopf herum und rief jemandem etwas zu. Ihre Augen trafen sich für einen sekundenbruchteil und er sah weg.
Sie musste damals nach Luft schnappen, denn es schoß in sie hinein, unausweichlich, fast schmerzhaft. Ein einziger Blitz, der in ihrem Magen Schmetterlinge zum Leben erweckte und die Welt in ihrem Kopf auf ein Zentrum zusammenschmelzen ließ. Ihn. Seit diesem einen Moment, diesem Tag, diesem Jahrmarkt war es geschehen, sie war für ihr ganzes Leben geprägt, für immer gezeichnet von ihm. Es hätte nicht geholfen, ihn nicht mehr zu sehen, oder ihn völlig aus dem Blick zu verlieren. Es hatte nur diese eine Sekunde gebraucht, diesen einen Blick, der ihm völlig bedeutungslos erschienen war, um sie für ihr Leben lang mit seinem Stempel zu brandmarken. Für immer.
Weißt Du eigentlich, was Du mit mir gemacht hast? Weißt Du es? Wie gerne würde ich es Dir sagen, wie gerne würde ich jetzt einfach den Telefonhörer in die Hand nehmen und Dich anrufen und Dich anschreien, dass Du dafür sorgst, dass ich Dich nie mehr liebe, dass meine Liebe stirbt, dass ich endlich ohne Dich sein kann, dass ich Dich endlich zu all den anderen Kisten packen kann Einer von denen, ein Ex, ein Freund, ein Kumpel. Ich möchte Dich nicht mehr in meinem Kopf, als den Ex, den Freund, den Kumpel. Bitte, bitte geh weg, geh aus meinem Kopf und lass mich mein Leben leben. Bitte. Bitte komm her, rette mich, renn mit mir weg befreie mich!!!!!!
Das schlimme ist, dass ich jederzeit mit Dir gehen würde, alles zurücklassen würde. Ohne Rücksicht auf Verluste. Und das ist es auch was mir Angst macht. Ich will nicht diese Frau sein, will nicht an Dich denken, und ich kann es nicht ändern, aber Du kannst es auch nicht ändern. Wie gerne würde ich das alles mit Dir teilen, dir das sagen und hoffen Du lachst mich aus, sagst ich wäre nicht ganz dicht, sagst, ich solle mal zum Arzt gehen, verletzt mich so, dass ich aufhöre Dich zu lieben. Ich will, dass Du mir sagst, dass Du nie wieder an mich gedacht hast, dass du nie wieder mit mir zusammen sein könntest, dass Du mich nie geliebt hast, dass Du mich nie lieben könntest, dass ich nicht Dein Typ bin, dass Du ich völlig vergessen hast und die Zeit damals. Ich will, dass Du sagst, dass Du mit der Frau Deiner Träume zusammen lebst, Kinder hast, liebst, so wie ich Dich liebe und Dein Glück gefunden hast.
Ich will, dass es ein zweites Leben gibt, eine Chance all das mit Dir zu tun, was ich in meinen Gedanken mit Dir getan habe. Ich will einen Mann treffen, der Dich übertrumpft, der all das, was Du für mich bist, zu Nicht macht. Ich will endlich leben. Frei sein von Dir, aber ich schaffe es nicht.
Lass mich gehen Michael. Lass mich einfach gehen!


© MaJa37


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Beschreibung des Autors zu "Altes Fieber"

Für immer bestraft, weil man zu sehr geliebt hat, immer noch liebt, nie aufhören kann?




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