Liebes Tagebuch

heute hat sich eine merkwürdige Begebenheit zugetragen. Noch immer bin ich vollkommen aufgelöst und nervös. Es hat mir Angst gemacht und dennoch versuche ich gar nicht erst es vergessen zu wollen.
Ich war, wie täglich, allein auf meinem Spaziergang. Seit ich 15 bin darf ich allein ins Kloster um zu beten, und seit nunmehr zwei Jahren höre ich mir Tag täglich denselben Satz von meinem Vater an.
?Verlasse nie, aber auch wirklich nie den Weg. Nicht einen Schritt darfst du im Wald vom Wege abweichen. So ist es Sicher und Gut. Hast du das verstanden mein Kind!?
Natürlich verstand ich ?Nicht einen winzigen Schritt in den Wald.?
Auch wenn ich seine Angst nie verstanden habe, so machte mir die Art wie er es sagte, es nicht schwer seinem Befehl nachzukommen. Täglich höre ich seit damals diesen apathisch, ängstlichen Tonfall. Zudem kommt noch meine überführsorgliche Amme. Immer wenn ich zum aufbrechen bereit bin und sich das Tor öffnet, vernehme ich ein stilles Stoßgebet von ihr.
Einmal hatte ich sie gefragt, wofür sie ein so eiliges Gebet spricht, sie antwortete mit einem Schluchzen und einem ?Damit sie sicher Heimkehren.? Dabei beließ ich es auch, sie war schon nicht mehr die jüngste, was man ihrem schmalen Gesicht, der schlanken Statur und der dünnen Stimme nicht sonderlich anmerkte.
Aber konnte sie nach drei Jahren immer noch nicht darauf vertrauen, dass ich den Weg allein finden würde?
Am späten Nachmittag war ich wieder auf dem Heimweg, als ich wenige Schritte vom Weg ab ein paar blau blühende Blumen entdeckte. Sie sind das wohl schönste was ich je gesehen habe und der Geruch konnte sich richtig erahnen lassen. Die Vorstellung des Duftes wehte die Bitte meines Vaters ins Irgendwo. Einige wenige kleine Sprünge über den Efeu und ich bin angekommen. Mitten im hochgewachsenen Wald stand dieses kleine Feld. Das blau sah bei näherer Betrachtung noch intensiver aus. Es schien förmlich zu glänzen und zu funkeln. ?Wie im Traum.?, kam mir in den Sinn.
Der Kontrast vom grellgrünen Wald mit seinem erdigen Geruch zu dem kräftigen blau und dem süßen Geruch konnte nicht größer sein als der Vergleich eines Bettlers mit einem Adelsmann.
?Adelsmann! Mein Vater!? rief ich vor mir selbst erschreckt.
Schnell pflückte ich eine Hand voll und drehte mich rasch herum, um wieder zurück auf den Weg zu hüpfen.
Entsetz blickte ich um mich. ?Wo ist der Pfad? Ich bin doch nicht weit weg gegangen. Er muss doch irgendwo sein.?
Ich versuchte Ruhe und Haltung zu bewahren, probierte mich zu orientieren. Die Blumen in meiner Hand rochen so angenehm, dass ich noch einmal ganz tief diesen süßen Duft einatmete.
?Dieser Fels, war er schon immer da??
Er sah vollkommen friedlich aus, von oben bis unter überwuchert mit Efeu. Der Efeu war dunkler als der auf dem Waldboden, oder schien es nur so?
Ich drehte mich wieder in die Richtung wo ich den Weg vermutete. Doch statt den Pfad zu sehen, vernahm ich eine Melodie.
Diese Melodie war fesselnd und unbekannt zugleich. Sie schien von einer anderen Welt zu kommen und zog mich förmlich in ihre Richtung. Fast ohne es zu merken setzte ich nun einen Fuß vor den anderen. Von Geisterhand gezogen ging ich in Richtung des Felsens.
Ich fühlte mich merkwürdig, meine ängstlichen Gedanken wurden ausgeblendet und die Musik schien wie die Blumen so süß.
Aus der Melodie wurde Gesang, Gesang von dem ich kein Wort verstand und er trotzdem verführerisch in der Luft lag. Deutlich hörte ich diesen betörenden Klang aus einer merkwürdigen Richtung kommen. Es waren Treppenstufen die im dämmerlicht des Waldes in die Tiefe führten. Sie sahen rutschig aus, doch irgendwie konnte ich nicht anders als ihnen zu folgen. Ohne mich nochmals umzusehen ging ich, mit immer weicher werdenden Knien, die Stufen hinab. Auf diesem schier unendlichen Weg in die Tiefe vernahm ich die ersten deutlichen Worte des Gesangs.
?Ich tu was du verlangst?, säuselte es mit einer warmen, tiefen Stimme.
Meine Gefühle waren schlagartig wieder eingeschalten worden und verbreiteten nur Angst in meinem ganzen Körper. Ohne Gefühle hätte dieser betörende Gesang aus der Tiefe eine angenehmere Erfahrung werden können, doch jetzt spürte ich mit jeder einzelnen Faser eine Panik in mir aufsteigen. Mit jedem Schritt kam ein Bruchteil der Spannung hinzu, welche sich in meinem Körper aufzustauen begann.
Je tiefer ich kam, desto lauter wurde die Musik, ich spürte wie ich meinem Ziel immer näher kam. Auf eine seltsame Art und Weise begann sich Freude in mir zu entwickeln, eine Euphorie wie ich sie vorher nie gekannt hatte. Ich wollte auf jeden Fall sehen, wer diese unvergessliche Melodie hervorbrachte.
?Sagt doch, wohin ihr mich zieht!?, rief ich sehnsüchtig in die Finsternis, welche nur mit wenigen Fackeln erleuchtet wurde.
?In die Tiefe, in die Tiefe.?, hörte ich nun von mehreren Stimmen. Sie ergaben einen perfekten Chor, welcher mich nur noch fester in den Bann zog und mich schneller die Treppen hinunter rennen lies.
Schlagartig, Stille.
Kein Gesang, keine Melodie, nur die klickenden Laute meiner Schuhe auf der steinernen Treppe. Das Echo, was der Gang um mich herum zurück warf, war schwach. Ich merkte wie sich die Feuchtigkeit auf meine Haut legte und eine unangenehme Kühle von außen in mich eindrang.
Die Treppe schien nicht mehr nach unten zu führen. Ich ging ohne jeglichen Übergang nach oben, doch konnte ich nichts sehen und war vollkommen Orientierungslos. Panik erfasste mich und ich begann immer zwei Stufen auf einmal zu nehmen. Ich bekam das Gefühl nicht mehr allein zu sein. ?Ein Verfolger!?, schrie ich panisch in mich hinein. In dieser Dunkelheit, ohne Ausweg. Er muss hinter mir sein, es gab keinen anderen Weg. Doch wohin führt der Weg? Ich möchte am liebsten Schreien, doch würde das meinem Verfolger nur eine Bestätigung sein. Ein Mädchen allein in den Kellergewölben. Zu allem anderen fehlt mir inzwischen auch die Luft zum schreien.
Ich erreiche eine Halle, spärlich beleuchtet mit Fackeln. Meine Schritte scheinen jetzt nur noch lauter und ich versuchte einen Ausgang zu finden. Dabei scheinen die Wände immer näher zu kommen und ich finde keinen Ausweg. Ich habe angst nachzusehen, wer oder was hinter mir kommt. Mit jedem Schritt werde ich schneller und oft genug falle ich auf den kalten, harten Boden. Ich kann kaum noch atmen, so lang lauf ich schon und im Augenwinkel sehe ich einen Schatten der mich ständig verfolgt. Dieser Schatten folgt mir wie ein Alptraum, er kommt nicht näher, er ist aber auch nicht mein Schatten. Er ist steht?s hinter mir. Der Gang wird immer enger und Panik erfasst mich erneut. Schlagartig bleibe ich aus mir bis jetzt noch unbekannten Grund stehen. Ich holte tief Luft, schmeckte dabei die modrige kühle des Ganges und Schrie. Ich schrie einfach und ohne es zu merken brach ich in mich zusammen.
Ich bin in Ohnmacht gefallen. Als ich zu mir kam war ich verwirrt, ängstlich und deutlich unterkühlt. Ich verspürte keinen Schmerz, aber meine Angst war größer als zuvor; bevor ich ohnmächtig wurde.
Diese schreckliche Flucht vor dem Schatten trat mir wie reell vor die Augen. Ich sah merkwürdig gekleidete Menschen, ich kannte sie nicht, doch schienen sie mir sehr vertraut. Ich hörte einen schrecklich langgezogenen Schrei eines Mannes.
Ein Traum! Ich hoffte zu träumen. Mit diesem Gedanken kam der schrecklichste, reellste Traum den ich je erlebte. Ich sah mich selber in einem langen Gang sitzen. Um mich herum schwere Türen aus Eisen. Sie waren überwuchert von Schleim und an den freien stellen sah man deutlich den Rost. War ich vorher so verwirrt, dass ich die Türen bei meiner Flucht nicht sah? Jetzt sind sie da und sie machen mir Angst, alle, außer eine. Ohne darüber nachzudenken ging ich auf diese eine Tür zu. Sie scheint nicht verschlossen zu sein und ich greife nach der Klinke. Mit der Berührung des kalten und spröden Eisens schlug mir ein Gefühl Blitzartig in den ganzen Körper. ?Ich bin nicht allein.?
Mein Gesicht lag auf dem Boden, meine Hände waren kalt und steif. Ich kam langsam zu mir, öffnete die Augen und kauerte mich an die Wand. Kein Schimmer der Fackeln schien bis zu mir, nur einen leichten kalten Wind konnte ich spüren. Kein Tageslicht, war ich in einen Kerker gerannt? In eine Gruft? Hat meinen Schrei keiner gehört?
Ohne einen Funken Hoffnung etwas zu finden, geschweige denn, etwas Nützliches zu finden, tastete ich die Wand und den Boden ab. Außer feuchtem Moos und noch mehr Kälte war nichts zu finden. Der Korridor erstreckt sich, so machte es den Anschein, in beide Seiten ohne Ende. Wie ein Messer schnitt eine freche, kindliche Stimme die Stille. Eine neue Melodie, ein neues Lied. Doch zog mich eben diese Melodie nicht an, es machte mir Angst. Diese Mädchenstimme machte mir Angst. Und die klaren Worte, dessen Sinn mir verborgen blieb, machte mir nur noch mehr Angst. Der Gesang wurde immer mit einem Kichern unterbrochen? ?Schmetterling du kleines Ding, such dir eine Tänzerin?, freudiges Kinderlachen: ?Schmetterling du kleines Ding, such dir eine Tänzerin?. Voller Panik schaute ich mich um, wo dieses Mädchen sein könnte. ?Schmetterling du kleines Ding, such dir eine Tänzerin, Schmetterling du kleines Ding, such dir eine Tänzerin??, immer und immer schneller sang das Mädchen. Je schneller es wurde desto weiter weg schien sie zu sein. Und immer dieses grausige Kichern. Plötzlich, totenstille.
Ein letzter Versuch meine Gedanken zu ordnen scheiterte. Geschwächt und voller Angst resignierte ich. Einen Moment nur, wollte ich meine Augen schließen, für einen ganz kurzen Augenblick.
An die Wand gekauert, ängstlich und umschlossen von Kälte fielen meine Augen langsam zu. Sie flatterten förmlich, ?Bleib Wach!?, vor Angst etwas um mich herum zu verpassen und ?Schlaf ruhig!? vor Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit.
Kurz bevor meine Lider sich schlossen fiel ein weißer Lichtschimmer in den Gang.
Zu schwach mich zu bewegen blieb ich sitzen. Die Knie angezogen, die Arme darum geschlossen und meinen Kopf schläfrig draufgelegt. Aufgeben schien mir sicherer als irgendeine Art von Gegenwehr. Einfach hier raus, wie ist mir egal.
?Zeig mir dein Gesicht.?, sprach es beruhigend aus dem Licht.
Erst jetzt merkte ich, dass ich im Schatten saß. Zögerlich blickte ich auf, um ins Licht zu schauen. Mehr als einen schwarzen Umriss nahm ich nicht war.
?Zeig mir dein Gesicht und wische die Tränen ab.?, diese sanfte Stimme hatte ich vorher noch nie gehört. Konnte er es gewesen sein, welcher dieses verlockende Lied sang, welches mich hier in diese Tiefe zog? Seine Stimme zog mich wieder zurück in diese sonderbare Welt.
?Nun komm und lass deine Ängste sitzen. Komm zu mir. Vertrau mir.?
Ich weis nicht genau wie mein Blick gewesen sein muss. Scheinbar leer, kalt und tot. Im Umriss seines Schattens sah ich, wie er seine Hand nach mir ausstreckte.
Mit schmerzenden Knochen stand ich auf. Am leben war ich also noch, dies ist nicht die Himmelspforte. ?Wo bin ich hier?? klang meine Stimme, dünner als gewöhnlich und mit einem sonderbaren Hall durch den Gang.
?Spielt das wirklich eine Rolle? Komm zu mir, dann kommen wir noch heute hier fort.?
Seine Stimme klang nicht fordernd oder ungeduldig. Er wollte mir wirklich helfen.
?Oder hast du etwa Angst vorm schwarzen Mann??
Diese Frage kam mit weniger humorvollem Unterton, als ich diese Worte eigentlich gewohnt war, dennoch schien er dabei zu lächeln, dass hörte ich aus seiner Stimme. Und irgendwie störte mich eben diese Ernsthaftigkeit in keiner Weise.
Schwach machte ich nun einen Schritt vor den anderen. Zu meinem Entsetzen drehte er sich ab und ging einfach in dieses grelle, weiße Licht. Träumte ich etwa schon wieder?
?Abygail! Abygail! Kind wo bist du? Abygail!?, schrie eine mir sehr gut bekannte Stimme. ?Abygail!?
Aus allen Richtungen vernahm ich es: ?Abygail!?
Warum? Ich war doch hier. Alles ist gleich, kalt, feucht, modriger Geruch und meine Knochen taten weh, als wenn ich von einem Pferd getreten wurde.
?Hier ist sie!?, schrie eine Burschenstimme neben mir. ?Sie ist hier drüben! Sie ist Ohnmächtig! Herr! Hier drüben!?
Ich merkte wie warme Hände mich im Genick packten und unter meine Beine fuhren. Er hob mich mühelos an. Langsam und unter Schmerzen öffnete ich meine Augen. Es war Jahwe. Mein guter Freund Jahwe. Wie kam er hier her? Hier in die Dunkelheit?
Mit meiner kalten Hand strich ich ihm zärtlich über die Wange, er sah so ängstlich aus. Hatte er auch die Melodie gehört, oder ist er von diesem schrecklichen Schatten gejagt worden?
Meine Gedanken fingen an sich zu drehen und mir wurde schwindlig.

Als ich wieder erwachte lag ich in meinem Zimmer. Meine Amme schlief im Sessel neben mir, mein Vater stand an meinem Fester mit dem Rücken zu mir. Er stand da, ohne sich zu regen.
Ich versuchte mich leise aufzusetzen. Schmerz durchfuhr meinen Körper und ich merkte, dass meine Hände noch immer kalt waren.
?Du hast den Weg verlassen.?, kam es traurig und vorwurfsvoll vom Gegenüber des Raumes.
?Kind wieso? Wie konntest du es nur tun??, mein Vater drehte sich zu mir und ich konnte im schwachen Kaminfeuer sein Gesicht sehen. Nie zuvor sah ich diesen ausdruckslosen Blick an ihm. Es machte mir Sorge ihn so stehen zu sehen.
?Verzeih mir Vater.? Meine Kehle fühlte sich an, als ob ich Kerzenwachs getrunken hätte. Es schmerzte und klang nicht nach mir selbst.
?Verzeih mir!?, flehte ich ihn an und begann zu weinen. Ich verspürte Erleichterung wieder in Sicherheit zu sein, hier bei meinem geliebten Vater.


© timere libertati


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Beschreibung des Autors zu "Vadum anima - Untiefe der Seele"

Dies ist ein Ansatz einer Geschichte, deren fortführung mir die Ideen und Musen fehlen...

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Kommentare zu "Vadum anima - Untiefe der Seele"

Re: Vadum anima - Untiefe der Seele

Autor: arwen   Datum: 06.10.2010 5:50 Uhr

Kommentar: Ich finde den Text sehr ergreifend, und wollte einmal wissen, ob er frei erfunden ist? LG Arwen

Re: Vadum anima - Untiefe der Seele

Autor: TimereLibertati   Datum: 12.10.2010 23:55 Uhr

Kommentar: Teils teils, mich hat die Musik von ASP sehr inspiriert. Und sicher werden einige, welche ihn auch hören, diverse Vergleiche ziehen können.

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