Das Gedicht „Die Lorelei“ von Heinrich Heine ist eine Volksliedstrophe und erschien
1824 in der Epoche der Romantik. Es handelt von der Erzählung eines Schiffers, der
abgelenkt von der Lorelei, einen Schiffsbruch erleidet.
Nach dem ersten Lesen, ist meine Deutungshypothese, dass das lyrische Ich die
Geschichte erzählt, weil es jemanden bei einem Schiffsunglück verloren hat und es
durch die Erzählung eine/n Schuldige/n bekommt.
Das lyrische Ich tritt direkt in Strophe eins und sechs auf. Es nimmt die Position eines
Erzählers ein und schildert dabei auch seine eigenen Gefühle. Die Geschichte, die es
in melancholischer Stimmung erzählt, ist die eines Schifffahrers auf dem Rhein, der
eine Frau auf einem Berggipfel sieht, die ihr goldenes Haar kämmt und singt. Dadurch,
dass der Schiffer die Frau beobachtet, fährt er gegen die Felsenriffe und erleidet einen
Schiffsbruch. Das lyrische Ich gibt klar in der letzten Strophe der Frau, nämlich der
Lorelei, die Schuld dafür. Nach ihr ist auch der Titel benannt.
Das Gedicht besteht aus sechs Strophen mit jeweils vier Versen und ist somit der
Strophenform der Volksliedstrophe zuzuordnen. Passend dazu handelt es sich um ein
durchgängiges Kreuzreimschema und ein drei-hebiges Versmaß. Die Kadenzen sind
abwechselnd weiblich im ersten und dritten Vers und männlich im zweiten und vierten
Vers. Demnach ist der Versfuß nicht durchgängig gleich. Es sieht zuerst nach einem
Jambus aus, doch dadurch, dass es immer drei Hebungen sind, aber abwechselnde
Kadenzen, ist der Versfuß zwischendurch im Vers häufig hypokatalektisch mit zwei
Senkungen zwischen den Hebungen.
Die sechs Strophen bilden eine Klimax. Jeweils zwei Strophen gehören inhaltlich
zusammen. Zuerst stellt sich das lyrische Ich vor, sagt, dass ihm das Märchen nicht
aus dem Kopf geht und schildert die Ausgangssituation des Märchens. Im zweiten
Schritt geht es um die verführende Lorelei und im dritten Schritt um das Unglück,
welches der Höhepunkt der Handlung ist.
Sprachliche Auffälligkeiten gibt es ebenfalls viele. Das lyrische Ich benutzt viele
gegensätzliche Wörter wie „traurig“ (V.2), „verschlingen“ (V.21) und „wunderbar“
(V.10), „blitzet“ (V.11), um den Kontrast zwischen dem Schein und dem wahren
Resultat zu verdeutlichen. Durch Adjektive wie „kühl“ (V.5), „ruhig“ (V.6), „wunderbar“
(V.10) und „schön[…]“ (V.9) gelingt es Heine dem Leser ein deutliches Bild von der
Landschaft, der Situation und auch der Frau zu verschaffen. Es gibt außerdem
sprachliche Bilder wie die Alliteration „goldnes Geschmeide“ (V.11), welche das Wort
„goldenes“ betont und den Vers sanft und verspielt lesen lässt, was man auf die
Darstellung der Lorelei beziehen kann. Das Bild von dem Gold kommt auch in den
beiden folgenden Versen vor und vermittelt das Bild von wunderschönen Haaren, einer
edlen Dame und generell Schönheit. Die Alliteration „wildem Weh“ (V.18) hingegen
kündigt bereits die Katastrophe an. Genauso wird mit der Anapher „Er schaut […] Er
schaut […]“ (V. 19-20) verdeutlicht, was genau passiert, nämlich, dass er die Frau
anschaut, anstelle der Felsenriffe.
Die Enjambements, die sich durch das gesamte Gedicht erstrecken (vgl. V. 7-12, 15-
18, 21-24) heben die Wörter am Versende hervor, wenn man sich für das Lesen nach
der Versstruktur entscheidet, da so die Satzstruktur missachtet wird. Die
hervorgehobenen Wörter betonen das Reimschema und die sprachlichen Mittel, die
diese Wörter beinhalten.
Auch die Wörter „kleine[s] Schiffe“ (V.17) und „[g]ewaltige Melodei“ (V.16) werden in
der letzten Strophe zu „Kahn“ (V.22) und „Singen“ (V.23) herabgestuft, was die
Verschlechterung der Dinge betont und wie Prosa klingt. Auch der unreine Reim „Weh“
(V.18) auf „Höh“ (V.20) und das schwankende Metrum könnten Hinweise auf die
Unruhe des Wassers und das bevorstehende Unglück sein.
Der Kontrast der Katastrophe in der letzten Strophe zu der schönen Frau in der
schönen Landschaft wird auch durch die Personifikation „die Wellen verschlingen“
(V.21) deutlich, indem sie das Bild des vom Wasser verschlungenen und qualvoll
untergehenden Schiffes und Schiffers verdeutlicht. Auch die Wiederholung zum Titel
„Die Lorelei“ (V.24) macht den Apell, sich zu hüten und die eindeutige
Schuldzuweisung deutlich.
Das lyrische Ich vermittelt, dass es ein „Märchen aus alten Zeiten“ (V.3) vortrage.
„Märchen“ ist hier ein Hinweis auf die Epoche der Romantik, die Märchen gaben den
Romantikern die Möglichkeit einer Alternative zur Realität, es geht um etwas
mysteriöses oder magisches, was in diesem Gedicht die mysteriöse Lorelei ist, von
der der Schiffer seinen Blick nicht abwenden kann. Heine führt den Leser außerdem
noch indirekt in die Märchenwelt, indem er einen alten Sprachgebrauch verwendet bei
den Wörtern „sitzet“ (V.9), „blitzet“ (V.11) und „Melodei“ (V. 16) und indem er mit Hilfe
der Anaphern „Sie kämmt…“ (V.12, 13) und „Er schaut…“ (V.19,20) das Formelhafte
alter Märchen imitiert.
In der Schlussstrophe kommt dazu der Bruch: „Ich glaube die Wellen verschlingen“
(V.21). Heine verwendet auf einmal den eher umgangssprachlichen Ausdruck „ich
glaube“, der weder zum märchenhaften noch dazu, dass dem lyrischen Ich das
Märchen „nicht aus dem Sinn“ (V.4) komme, passt. An dieser Stelle könnte man
vermuten, dass Heine zwar die Stilmittel der Romantik verwendet, so wie er es erlernt
hatte, aber er der Romantik eigentlich kritisch gegenübersteht und er die Stilmittel bloß
ironisch zur Parodie verwendet.
In die Richtung kann man auch den Begriff Märchen interpretieren. Heine könnte
nämlich mit der Verwendung des Wortes „Märchen“ darauf anspielen, dass die
Gefühle Trauer und Liebe in diesem und anderen Gedichten bloß Fiktion, eben ein
Märchen seien. Auch bei der Verwendung des Bildes „Gold“ in drei
aufeinanderfolgenden Versen, könnte man ihm das Stilmittel Übertreibung
unterstellen, welches ebenfalls für Ironie sprechen würde.
Die Hypothese der Ironie lässt sich auch mit anderen Werken Heines stützen.
Beispielsweise parodieren „Das Fräulein stand am Meere“ und „Ein Jüngling liebt ein
Mädchen“ ebenfalls die großen Gefühle der Romantiker. Heine gilt heutzutage als
„entlaufener“ Romantiker, weil er das Liebesschmachten, Sehnen und den
Märchenzauber nicht mehr ernst nahm.
Abschließend würde ich festhalten, dass sich meine Deutungshypothese bestätigt
hätte, wenn man das Gedicht bloß als ein Gedicht der Romantik betrachten würde.
Betrachtet man das Gedicht allerdings als eines von Heinrich Heine, mit dem
Hintergrundwissen seiner Biographie, so kann eine mögliche Interpretation des
lyrischen Ichs immer noch sein, dass es eine/n Schuldige/n für ein Schiffsunglück
sucht, jedoch ist Heines Intention vermutlich gewesen, die Epoche und Gedichte der
Romantik zu parodieren.
Zusammenfassend verwendet er die klassische Strophenform einer Volksliedstrophe
und die Stilmittel der Romantiker mit einem passenden Thema der Romantik und dem
typisch romantischen Märchencharakter, um sich unterschwellig und ironisch über die
Flucht vor der Realität und den Fokus der Romantiker auf Gefühle, lustig zu machen.


© Linda


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