Wenn Gedichte sterben,
atmen sie nur noch aus.

Alles vergessen:
den Höhenrausch,
das erstickte Schlucken
bei zwei, vielleicht drei Versen.
Kein Funke mehr
unter der Asche,
die Lungen vom Feinstaub
verschattet,
die Spiegel geblendet.

HERR! Noch ist´s nicht Zeit,
der Sommer ist noch klein,
doch die Autopsie hat schon begonnen.
Auf dem Seziertisch zerschnittenes Brot und
stilles Wasser –
keine Aster, kein ersoffener Bierfahrer.
Halte mich! Du, ich falle!
Ich bin im Nacken so müde ...“

Das ist doch wohl klar,
da darf man nicht anknüpfen.
Nur keinen Reim!
Nur keine trockene Kehle!
Nur kein Leuchten im Auge!
Selbst das Zittern des Lides könnte schuldig machen.

Verse, die durch Jahrhunderte flogen –
jeder ein Paria jetzt, für uns unberührbar.
Wir wählen das Stroh und entsorgen das Korn.
Wir sind Individualisten,
wir sind eines Stils,
wir sind emsige Beamte des Wörterverknüpfens.
Wir erfinden das Rad neu – immer und immer wieder,
flechten Verse auf Ganzjahresreifen,
keiner davon
jemals gefahren,
doch alle schon
ohne Profil.

Entropie ringsum, das kriecht sich breit wie
Mehltau. Angenehm laues
Bad im Gemenge.
Nach unten
offene Dichterskala.
Noch nicht einmal Cover-Versionen
von römischen Brunnen oder blauen Klavieren.

Pssst!

Wenn einer liest –
brechen die anderen
den Blickkontakt ab.
Jeder schaut in den Schoß,
doch dort
wird niemals gezeugt und empfangen.

Jeder drückt aus,
was ihn ins
Aus drückt (mein Gedicht
ist mein Pickel).
Hautdünn gepanzert jeder
übersät mit Druck-
malen,
so blutig,
so fremd,
(so durchaus vertraut).

Kein Lachen. Kein Seufzen. Keine Träne herab.

Unsichere Rundgänge durch
sterile, dürre Wortgebilde.
Raschelnde Blindtexte.
Vorsicht, nicht auf die Buchenstäbe treten!
Das Knacken könnte missdeutet werden.
Und bitte kein Umblättern!
Mehr als eine Seite ist unzumutbar.

Und immer wieder
kollektives, betretenes Schweigen –
leider auch diesmal
vergeblich vor dem Kreißsaal gewartet,
wieder fand keine Geburt statt.

Da kommt nichts zur Welt, das man lieben könnte.
(Richtig gehört, ich sagte: lieben.
Dieses peinliche Wort!)
Da blutet keine Nabelschnur,
da füllt sich keine Lunge,
da schreit nichts;
selbst die Nachgeburt bleibt aus.

Ihr habt ja recht!
Die Notwendigkeit neuen Lebens ergibt sich nicht.

Kein Bedarf an klirrenden Fahnen,
an Schwalben, die Fahrt und Nacht trinken,
an der Stille von Steinen, über die
der Bach sein Murmeln zieht,
an dunklem Wein,
der am Boden rollt, weil zwei Liebende zittern.

Lasst uns all das vergessen und
lieber bleiche Knöchlein sammeln,
vielleicht faules Bruchholz,
vertrocknete Käfer oder
den wimmelnden Vogelkadaver
unterm duftenden Flieder …

Unseren fahlen Fund dann wollen
wir betten in Särge.
Die steh´n schon gefaltet
aus blütenweißem
Papier. 80 g/m2.


© Peter Heinrichs


1 Lesern gefällt dieser Text.


Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Aschermittwoch (Bericht aus einem mittwochs stattfindenden Lyrikseminar)"

Re: Aschermittwoch (Bericht aus einem mittwochs stattfindenden Lyrikseminar)

Autor: possum   Datum: 05.02.2018 5:38 Uhr

Kommentar: Ein tolles Werk lieber Peter, gerne angehalten, glG!

Re: Aschermittwoch (Bericht aus einem mittwochs stattfindenden Lyrikseminar)

Autor: Verdichter   Datum: 05.02.2018 18:20 Uhr

Kommentar: Und doch gebiert auch der unfruchtbarste Schoß seine eigenen Gedanken und auf dem unfruchtbarsten Boden gedeit ab und an ein Saatkorn...

Re: Aschermittwoch (Bericht aus einem mittwochs stattfindenden Lyrikseminar)

Autor: mychrissie   Datum: 09.02.2018 10:02 Uhr

Kommentar: Wenn man bedenkt, dass dieses lustlose, knöcherne Seminar vom ehemaligen Lektor von Paul Celan gehalten wurde...

Der Schwung der früh zum höchsten Himmel drängt,
vergeht, bis dass die Schaukel stille niederhängt.
Wann kommt ein Kind und lässt sie wieder schwingen,
damit wir jauchzend durch die Wolken dringen?!

Kommentar schreiben zu "Aschermittwoch (Bericht aus einem mittwochs stattfindenden Lyrikseminar)"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.