Fernsehkameras
am Friedhofstor
ein Blumenmeer
vor der Kapelle
hunderte Menschen
vor fünfzehn Särgen
während im Schatten
ein Grab liegt
auf dem keine Blume
wächst
auf das nie ein Name
scheint
in dem sie einen Jungen
heimlich eingegraben
auf seinem Grabstein
steht keine Sonne
an die man sich
erinnern wird
sie nennen ihn
Monster oder so

Gestorben ist er
in der siebten Klasse
seit der ersten Ohrfeige
sein Fehler war wohl
das er nicht schrie
als sie begannen
ihn zu maltretieren
jeden Tag
Tritte und Schläge
jeden Tag
wie immer
wenn es weit geht
ging es auch weiter
weil sie sich beweisen
müssen er ist Dreck
um sich nicht
schämen zu müssen
vor sich selbst
den ersten Liebesbrief
nie geschrieben
seinen besten Freund
wählten die Peiniger
zum Klassensprecher
weil sie wussten
und von nun an
geht er alleine Heim
schließlich kam er
auch irgendwie
mit ihnen
ganz gut klar
und irgendwann
war es ein Ritual
ein Befehl
seine Augen geschlossen
tat er nichts
mehr Widerstand
war nicht drin
ein Schlag ins Gesicht
und er tat
was sie sagten und er
schloss die Augen
während er in der Ecke
der Dusche saß
und sie ihm in
die Fresse pissten
und was er machte
mit diesem Ding
hinter seinem Rücken
als er die Hose runterziehen
und sich über die Bank lehnen
sollte weiß er nicht mehr
so genau
nur das sie lachten
und sagten
guck dir die
schwule Sau an
und jeden Tag
Angst morgens um acht
lief er vorbei
an Papas Tresor
der Lösung
und jeden Tag um eins
lief er vorbei
an Papas Tresor
der Lösung
die Polizei
kam ihm nie in den Sinn
war wohl keine Lösung
irgendwie
im Gegenteil

Seine Peiniger waren
klug sie misshandelten ihn
nur noch nackt
als es anfing zu bluten
und Wunden hinterließ
seine Eltern waren
sehr, sehr enttäuscht
das seine Noten in
den Keller gingen
und bis in Klasse zehn
hatte er noch Hoffnung
auch wenn er nicht
genau wusste auf was

Endlich war es
vorbei
nur der Junge
saß daheim
und tat keinen Schritt mehr
in die Welt davor
auch wenn er nicht genau
wusste warum
und er fing an Call of Dury
zu spielen
und die Welt war plötzlich
in Ordnung
denn diese Welt
war fair
und er war der Beste
das erste Mal
im Leben Respekt
ein Gefühl das er längst
verloren hatte zu haben
und er spielte
weil er glaubte
Freunde zu haben
und er spielte und spielte
bis der zweite Teil erschien
und das Kartenhaus zusammenbrach
doch er spielte weiter
Tag und Nacht
selbst als niemand mehr
Online kam
er lief alleine durch
die leeren Levels
und erinnerte sich
an seine einzigen Freunde
die er vergass
als er bemerkte
das er sie nicht kannte
jeden Tag ging die Sonne unter
auch wenn er nicht genau
wusste warum
und jeden Nacht
ging der Mond auf
auch wenn er nicht genau
wusste warum
und irgendwann erinnerte er
sich an den ersten Liebesbrief
den er nie schrieb
an dieses Mädchen
und für einen Moment
hatte er das gute Gefühl
es wagen zu sollen
doch er saß wochenlang bloß
vor einem leeren Blatt
jeder Gedanken
endete in Fetzen
bei seinen Peinigern
nichts fiel ihm ein
außer die Nachrichten
aus Amerika
Blaulicht
und das sie ihre Tat ankündigten
und so kündigte er
seine Tat an
eigentlich wollte er
von ihr aufgehalten werden
und er freute sich
auf die vielen Menschen
doch niemand kam
selbst bei Facebook
blieb das Postfach leer
als er es auf
seiner Pinwand
postete
und es gab auch nur
ein einziges Like

Und so ging er
in Gedanken auf seine
eigene Beerdigung
als ihm klar wurde
wie ernst sie
ihn wirklich nahmen
auf der niemand erschien
nur seine Peiniger
nachts
besoffen
wie damals in der Dusche
als er die Augen schloss
und sie ihm in die
und plötzlich wusste
er wieder
was er mit sich machte
über die Bank gebeugt
hinter seinem Rücken
und plöztlich spürte er
die Schmerzen
als sie lachten und sagten
guck ihn dir an
die schwule Sau
und sie pissen
auf sein Grab
und er erinnert sich
an die Lösung
und wie sie ihnen
ins Gesicht grinsten
und mit ihnen lachten
als wäre nie
etwas geschehen
und er sah sie
an ihm vorbei laufen
Hand in Hand
und sie wie sie ihre
Nase rümpfte
sie alle rümpften die Nase
als wäre es seine Schuld gewesen
und manchmal drehte sich einer
der grinsenden Peiniger
zu ihm um und grinste über
die Schulter und sagte
und er erinnerte sich
an die Lösung
und zog in den Krieg
wie ein Soldat
vielleicht erwischt er einen
von ihnen oder
einen von denen
aber eigentlich war es
ihm egal
sie sind alle gleich
denn sie wusste es
und er und
da war dieses Ding
in ihm drin
und niemand und
alle und wenigstens

Blaulicht zum Abschied
fünfzehn tote Kinder
und ein totes Monster
Blumen und
ein Interview mit einem
seiner Peiniger und
sie sagten irgendwie war
er wohl ein Außenseiter
genauso wie alle
anderen es immer waren
der Rest ist vergessen
und dieses Grab im Schatten
und die Ankündigung
und eine Diskussion bei youtube
ob Computerspiele Schuld seien
zehntausend Menschen sagen
zur Hälfte ja
und zur Hälfte
nein und das wars
was geblieben ist von
seinem Tod
der sechnzehn Menschleben
kostete in einer Welt
ausnahmslos charakterloser
Toren
zu hohl
zu feige
zu scheinheilig
eingekerkert im eigenen
Seelengefängnis
nichts als Tapetenwechsel
und das Anzünden
ihres eigenen, kleinen Lichts
keine Antwort
auf irgendwas
und ein Monster
für fast alles

Mein Junge
ich wünschte ich könnte
dir sagen einer
hat auch um dich geweint
um den jungen Menschen
der bereits starb
lange bevor
er sein Leben
beendete
und so zum
Mörder wurde

doch selbst wenn
sie ihre Nasen
bis in den Himmel rümpfen
und mir nachsagen
was auch immer
sie für anständig halten
genauso wie ich
weiß du
bist nicht
böse geboren
mein Kind
glaube ich
wohl als einziger
wirlich für sie
ist noch nicht
jede Hoffnung
verloren
denn eines Tages
vielleicht nicht heute
oder morgen
werden sie vielleicht
vor deinem
Grab stehen
und verstehen was Liebe
zum Leben wirklich ist
wenn sie verstehen

in deinen Stein
ist gemeißelt

Ein Wesen
namens
Mensch


© Sebastian Deya


0 Lesern gefällt dieser Text.


Beschreibung des Autors zu "Der Startschuss ist GEFALLEN (und ihr habt den Knall nicht gehört)"

Dieser Text stammt aus dem Jahr zweitausendvierzehn, bezieht sich allerdings auf einen Amoklauf, der sich in Erfurt zutrug an meinem 17. Geb., also vor vierzehn Jahren.

Bis dahin ging er mir immer mal wieder durch den Kopf, warum auch immer, wahrscheinlich hat eine Ratlosigkeit, die keine kleine war, auf Antworten gewartet, die sich nicht zufrieden geben wollten mit Oberflächlichkeit und Selbstverleumdung, die als Antwort auf diese tragödien stets und ständig präsentiert wird.
War ehrlich gesagt auch mehr ein Anfall als wirkliches Dichten, diese Worte haben mich im Verlauf ihres Geschehens einfach nur fertig gemacht.

Wohl aktueller denn je, streitbarer auf jeden Fall. Und mir persönlich irgendwie wichtiger denn je, denn alles das, was mich in diese Perspektive bewegt hat, sich in der Realität 1. bestätigtund 2. GERADE DESHALB immer weiter verdrängt wird.

Falls jemand glaubt, diese Worte sollen irgend etwas entschuldigen, Gewalt verherrlichen oder gar rechtfertigen. Oder falls jemand glaubt, ich selber sei Mobbinggestörterweise zur Solidarität hingerissen.
Eben nicht. Vielleicht ist ja diese Begrenztheit viel eher teil des Problems, weil die Grenze, die wir ziehen, kein Akt der Menschlichkeit, Überzeung und des Anstandes ist, sondern viel eher verzweifelter Selbstzweck. Weil wir uns eigentlich nur noch dann wirklich gut fühlen, wenn wir uns mit dem vergleichen, was wir böse nennen.

Das mag irgendwie verständlich sein, bei alldem was passiert. Und vor allem auch eben alldem, was nicht passiert. Aber es macht uns eben nur schlau. Nicht klug.

Diesen Text als PDF downloaden




Kommentare zu "Der Startschuss ist GEFALLEN (und ihr habt den Knall nicht gehört)"

Es sind noch keine Kommentare vorhanden

Kommentar schreiben zu "Der Startschuss ist GEFALLEN (und ihr habt den Knall nicht gehört)"

Möchten Sie dem Autor einen Kommentar hinterlassen? Dann Loggen Sie sich ein oder Registrieren Sie sich in unserem Netzwerk.