Sechs Tische - voll besetzt mit alten Menschen.
Auf den Tischen Kaffee, Tee und Kuchen.
An einem Tisch werden Lieder gesungen.
Eine sehr alte Frau sitzt in einem fahrbaren Laufstall.
Im Hintergrund läuft ein Fernsehapparat - doch niemand schaut zu.
Die meisten Bewohner stieren still vor sich hin.
Andere sind dafür umso gesprächiger.
Eine alte Frau weint tonlos.
Vom Flur, aus einem der Zimmer, hört man regelmäßig lautes Rufen,
was aber von niemandem beachtet wird.
Ich trete ein in den Aufenthaltsraum:

"Bist du mein Sohn? Ich hab's vergessen." (fragt mich eine Schneeweiße)
"Schwester Inge, mich drückt der Sitz." (eine Gebrechliche im Rollstuhl)
"Ham' die Kühe was zu fressen?" (fragt mich eine Frau mit dicker Brille)
"Guten Tag, ich heiße Schmitz." (eine Grauhaarige gibt mir die Hand)

"Schon um fünfe ist hier Wecken,
ja, das ist doch ein KZ,
die lassen uns hier drin verrecken,
ich hab' genug, ich will ins Bett." (flüstert ein Verbitterter mir zu)

"Ich esse nur Rosinenbrot,
sonst hab' ich's mit dem Magen." (die Gebrechliche)
"Der Alte da, der stinkt nach Kot,
es ist nicht zu ertragen." (ihre Nachbarin)

"Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt?
Ha, ha, ha, ein guter Witz!" (eine lustige Alte)
"Verrecken, sag ich, wird gewollt!" (der Verbitterte)
"Guten Tag, ich heiße Schmitz." (sie gibt mir wieder die Hand)

"Mein Hut, der hat drei Ecken,
drei Ecken hat mein Hut..." (klingt es vom Nachbartisch)
"Hier kann man nur verrecken,
nein, mir geht's gar nicht gut." (der Verbitterte)

"Ich will jetzt eine Zigarette!" (einbeiniger Mann im Rollstuhl)
"Oh, mein Rücken, wie weh der tut!" (die Gebrechliche)
"... und wenn er die nicht hätte,
so wär es nicht mein Hut." (klingt's vom Nachbartisch)

"Mein lieber Sohn, erzähl mir was!" (die Schneeweiße zu mir)
"Au, mein Rücken tut so weh!" (die Gebrechliche)
"Schwester Inge, ich bin nass." (ihre Nachbarin)
"Ich will Zucker in den Tee!" (eine Dicke - ich gebe ihr Zucker)

"Hilfe! Hilfe! Ich muss sterben!" (Rufe aus dem Flur)
"Die klau'n hier wie die Raben." (ein hagerer alter Mann)
"Alles, alles liegt in Scherben." (der Verbitterte)
"Ich will 'ne Fluppe haben!" (der Einbeinige)

"Die ham' mir schon mein Geld gestohlen,
die klau'n mir auch das Gold." (der Hagere)
"Wann wirst du mich nach Hause holen?" (Frau im Laufstall)
"Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt?" (die Lustige)

"Jeden Tag wird man geschlagen,
und dann woll'n se, dass ich singe." (der Verbitterte)
"Es ist nicht länger zu ertragen,
Schwester Inge! Schwester Inge!" (die Gebrechliche)

"Mein ganzes Geld, das ist geklaut,
ich hab' mir was geborgt." (der Hagere)
"Ich sage dir, die Schwester haut." (der Verbitterte)
"Sind die Kühe schon versorgt?" (die Bebrillte)

"Ich will aus diesem Rollstuhl raus!" (die Gebrechliche)
"Und ich will auf der Stelle heim!
Wann endlich bringst du mich nach Haus?" (Frau im Laufstall)
"Mein Bauch ist hart wie Stein." (die Gebrechliche)

"Mein Stück Kuchen ist aber kleiner." (die Dicke)
"Bist du denn nicht mein Sohn, der Fritz?" (die Schneeweiße)
"Hilfe! Hilfe! Kommt denn keiner?" (Rufe aus dem Flur)
"Guten Tag, ich heiße Schmitz." (sie gibt mir wieder die Hand)

"Alle doof hier, ich bin klüger,
weil ich hier ja gar nicht wohn'." (die Lustige)
"Schwester Inge! Ein Betrüger!
Das da ist gar nicht mein Sohn!" (die Schneeweiße)

"Schwester Inge! Mich juckt der Zeh!" (die Gebrechliche)
"Die klau'n hier, jede Wette!" (der Hagere)
"Ich will Zucker in den Tee!" (die Dicke)
"Und ich 'ne Zigarette!" (der Einbeinige)

Ich wend' mich ab, kann's nicht mehr seh'n,
ertrag' nicht den Geruch.
Gott sei Dank, gleich kann ich geh'n,
Ich bin nur zu Besuch.


P.S.
Zum großen Teil eine wahre Begebenheit. Schon ca. 30 Minuten im Pflegeheim sind anstrengend. Ich bin zumeist nur knapp zwei Stunden zu Besuch und dann schon total geschafft. Meine Hochachtung vor den Pflegekräften, die 8-10 Stunden dort arbeiten und meist für wenig Geld. Ein schwerer Beruf!


© Pedda/gog 08.11.2012


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Beschreibung des Autors zu "Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten"

Etwas pointierte Erlebnisse während meines wöchentlichen Besuchs im Pflegeheim. JUBILÄUM! Mein 100. Eintrag - daher etwas Längeres!

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Kommentare zu "Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten"

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: Alex Anders   Datum: 08.11.2012 22:03 Uhr

Kommentar: Hi Pedda, genau so ist es! Treffend eingefangen. Habe selbst zwei Jahre auf der Pflegestation (Endstation - hauseigener Spitzname) eines Altenheimes gearbeitet und könnte dir haarsträubende Geschichten erzählen. Jetzt, da mein Vater einer der Pflegefälle ist, fällt es mir viel schwerer zu Besuch zu sein, als früher dort zu arbeiten. Dabei musste ich damals alles (Un-)Denkbare erledigen! Es hat mir nicht geschadet und war mir für die Pflege meiner schwerkranken Frau eine große Hilfe. Diese Sozialarbeit wenn jeder hinter sich bringen müsste, wäre die Welt vielleicht etwas anders beinander! Gruß, Alex Ps: Bin auch grad kein Uhu mehr §;-)>

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: Angélique Duvier   Datum: 08.11.2012 22:15 Uhr

Kommentar: Lieber Pedda, Dein Gedicht berührt mich sehr! Ich mache häufig Lesungen in Pflegeheimen, es ist genauso wie Du es beschreibst! Auch dem Kommentar von Alex kann ich nur zustimmen, ich habe bis zu seinem Tod, einen alten Freund dort besucht, es ist sehr schwer. Ich hoffe das viele Dein Gedicht lesen werden!
Liebe Grüße, Angélique

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: Pedda   Datum: 08.11.2012 22:21 Uhr

Kommentar: Hallo Angelique und Alex, Danke für eure Anteilnahme. Bei mir ist es der demente Vater, den ich leider nur einmal wöchentlich besuchen kann, weil 70 km zwischen uns liegen. Habe versucht, das Thema auch etwas von der lustigen Seite zu betrachten. Stören die Personenangaben in den Klammern den Lesefluss nicht sehr? Aber ich wusste mir technisch nicht anders zu helfen, um zu verdeutlichen, wer da jeweils spricht. Oder habt ihr eine bessere Idee? Gruß Pedda

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: Angélique Duvier   Datum: 08.11.2012 22:29 Uhr

Kommentar: Es ist sehr gut! Es ist ehrlich, daher berührt es! Wenn ich es laut lese bekomme ich weiche Knie, es soll berühren und das ist Dir gelungen! Lass es so wie es ist, so ist es richtig, es kommt aus Deinem Herzen, es ist völlig unverfälscht.
L.G. Angélique

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: Pedda   Datum: 09.11.2012 8:40 Uhr

Kommentar: Danke Angélique. Na, dann lass ich es so wie es ist. LG Peter

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: Anita Heiden   Datum: 09.11.2012 10:36 Uhr

Kommentar: Lieber Pedda, ich kann mit dir ganz gut mitfühlen und es ist so anstrengend, wenn man dort ist. Nicht weil man das alles ansehen muss. Nein, weil es einem das Herz schmerzt und zu zerreißen droht, weil man zusehen muss, was mit einem lieben Menschen passiert. Ich habe das mit meinem lieben Großvater durch und mir wird das Herz schwer, wenn ich diese Zeilen lese. Ich spüre noch heute die flehende, hilflose, verzweifelte Hand von ihm, auf meiner und man ist so machtlos, man will und kann nicht helfen. Sehr schön geschrieben. Liebe Grüße Anita

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: sissy   Datum: 09.11.2012 11:05 Uhr

Kommentar: Hallo Pedda, es ist erschreckend und erschütternd wie so manches lange und efüllte Leben endet. Und besonders schlimm ist es, wenn dieses Leiden noch, wie bei meiner Tante, die zum Schluß nur noch im Bett lag, mit einer Magensonde verlängert wird. Liebe Grüße Sigrid

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: Pedda   Datum: 09.11.2012 12:43 Uhr

Kommentar: Hallo Anita und Sissy,
Danke für eure lieben Kommentare. Man rückt dieses Thema immer weit weg, weil man denkt, dass hat noch lange Zeit oder es wird einen schon nicht treffen, aber plötzlich geht das ganz schnell. Mein Vater war vor 2 Jahren noch ein großer, starker, stattlicher Mann und jetzt sehe ich nur noch ein Häuflein Elend und könnte jedesmal heulen, denn in der Tat, man ist machtlos. Man kann nur hoffen, dass es einem erspart bleibt, aber wer hat das schon in der Hand. Gesellschaftlich sehe ich ein Riesenproblem auf uns zu kommen, denn die Menschen werden zum Glück/leider immer älter und die Kassen, die sind leer. LG Peter

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: Karwatzki,Wolfgang   Datum: 09.11.2012 19:29 Uhr

Kommentar: Hallo Pedda,ich habe länger darüber gegrübelt, was ich denn den lebhaften Kommentaren noch hinzugefügen könnte.Da bleibt nur wenig.
Die simplen Zitate aus deinem "Aufenthaltsraum" gehen gerade wegen ihrer je eigenbrödlerischen Ausage, die fast immer störrisch ,herrisch oder anklagend daherkommt,verdammt unter die Haut.
Ist denn aber auch dein Vater in seiner Situation ünglücklich,ähnlich störrisch, herrisch oder anklagend ?
Ich habe Alzheimerpatienten und demente Menschen erlebt, denen man ein tiefes Glücksgefühl ,einfach persönlich lieb angesprochen zu werden, aus den Augen und einem lächelnden Gesicht ablesen kann.

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: Pedda   Datum: 12.11.2012 8:50 Uhr

Kommentar: Hallo Wolfgang, mein Vater ist ein stückweit der Verbitterte. Jedenfalls war er das die ersten Monate im Heim. Inzwischen starrt er nur noch vor sich hin und das ist noch schlimmer. Es gibt auch diese dankbaren Blicke, du hast recht, aber selten. Viele sind eben wieder wie Kinder. Danke für deinen lieben Kommentar. Gruß Pedda

Re: Aufenthaltsraum - ca. 30 Minuten

Autor: bernhard.valta   Datum: 29.11.2012 18:20 Uhr

Kommentar: Kenne das auch so ähnlich, wenn ich meine Tante besuche. Die Atmosphäre ist aber insgesamt sehr freundlich.

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