Küsse - Flüsse
aus Wasser, Fett und Protein.
Zungenspitzen umkreisen sich,
kriechen zueinander, aneinander hin,
wie Schnecken - vereint
zusammengeschleimt.
Austausch von Saft und Gefühl.
Verwegen scharfes Zungenspiel.
Verlangen und Rausch,
Bakterientausch.
Karies und Mandelstein
hauchen uns die Liebe ein.
Befeuern das Verlangen
aufeinander und die Zahnspangen
und goldene Kronen
werden überglitten.
Zwei Zungen baden,
plätschern gemeinsam
im Speichelpool.
Hundertachtzig Grad,
vollkommen überhitzt.
Mit Schlucken bei zu viel Produktion,

Erektion
Lubrikation
in tieferen Regionen.

Lass uns
ineinander einwachsen!
Fische machen uns das vor,
auch wir - sind Wirbeltiere!

Unsere Zungen werden länger,
umwinden sich gegenseitig,
schlängeln sich übereinander.
Zungen - Muskelpakete,
dehnen sich, werden weich,
unglaublich beweglich.
Und hinunter gehts!
Sie spalten sich
wie Schlangenzungen auf
ein Spitze fließt am Kehlkopf vorbei,
weiter, tiefer, die muskulöse
Speiseröhre hinab
drängt sich zwischen den Sphinktern durch,
hinein in den Magen.

Die andere Spitze
zwängt sich durch den Larynx
in die obere Bronchie,
fächert sich dann weiter auf,
den Seitenästen der Bronchien folgend.
Wächst tief in die Lunge ein,
verpilzt sie.
Mykorrhiza,
ein zu verzweigten Fäden ausgewalztes
Geflecht der Zunge
in der Lunge,
das Gefäße verdrängt
und abdrückt.

Gemeinsame Hustenkrämpfe,
Enge. Luft!
Mangel, Ohnmacht, tot!

Gefahren eines Kusses.


© Thomas Nill


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Beschreibung des Autors zu "Kussgefahren"

Gefühl und Realität
Ausspinnen eines Wunsches ins Verrückte.

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Kommentare zu "Kussgefahren"

Re: Kussgefahren

Autor: IchWillKeinenNamen   Datum: 01.08.2020 13:37 Uhr

Kommentar: Hallo Thomas,

ich weiß natürlich nicht was dir das Gedicht persönlich bedeutet, aber mir ging es nah. Diese Gratwanderung zwischen Ekel und Lust, so zwischen Uhh und Uäähh.
Finde vieles schön. Einmal wie nichts verschwiegen wird, wie die unansehnlichen Teile dieses Spiels, und auch wie dieser Wunsch des Verschmelzens beschrieben ist - besonders das mit dem Pilzgeflecht in der Lunge.
Hat viele Erinnerungen in mir geweckt. Dankeschön

Grüße,

Re: Kussgefahren

Autor: ThomasNill   Datum: 01.08.2020 19:15 Uhr

Kommentar: Vielen Dank für Deinen Kommentar.

Vielleicht enttäuscht es etwas. aber es bedeutet nichts
in meinem Leben. Es ist aus keinem Anlass, oder einem Gefühl heraus entstanden, dass ich damit ausdrücken will.

Ich reime gern.
Ausgangspunkt war lediglich dieser Reim
Küsse - Flüsse.
Da dachte ich natürlich an Speichel und dann waren die
ersten beiden Zeile da.

Küsse - Flüsse
aus Wasser, Fett und Protein.

Dann fiel mir ziemlich lange nichts mehr passendes dazu ein.
Ein, zwei Tage vielleicht, da kam mir die Idee einen Kuss zu beschreiben, gerade mit diesem Gegensatz der nicht unbedingt
schönen Verhältnisse im Mund ;-) und den intensiven Gefühlen
beim Kuss. Aussagen wollte ich aber nichts weiter, außer diese Gegensätze zu beschreiben.

Mir war das aber irgendwann nicht mehr genug. Es musste noch weiter gehen, schlimmer werden. Ich hatte dabei Spass.
Ich wollte ein wenig schockieren.

Das

Lass uns
ineinander einwachsen!
Fische machen uns das vor,
auch wir - sind Wirbeltiere!

kam erst spät rein, habe gewusst, das es bestimmte Fische mit Zwergmännchen gibt, die sich an Weibchen anhängen und tatsächlich mit ihnen im Mundbereich verwachsen.
Habe dann in Wikipedia nachgesehen.
https://de.wikipedia.org/wiki/Tiefsee-Anglerfische
Davon habe ich aber nichts benutzt, da war ich mit den beiden Seitenlinien in Lunge und Magen schon fertig ;-).

Ich bin fasziniert davon, wie in unserem Körper, an jeder Stelle,
ganz in der Nähe kleine Arterien, Venen, Nervenfasern, Lymphgefäße liegen. Wir sind von solchen Röhren und fein verästelten Nervenfasern richtig durchwachsen.

Da liegt die Vorstellung nicht weit, das sich auch
die Zungen wie in einem Wurzelsystem immer weiter verästeln.
Es ist natürlich verrückt und soll es auch sein.

Aber dann kam irgendwann wieder der Gedanke an die Realität.
Das kann nicht gehen, die Lungen können so nicht mehr funktionieren und irgendwann muss ich auch das Gedicht beenden.

So entstand dieses etwas seltsame Gedicht.

In erotische Gedichte kann man es nicht stellen, denn
erregen wird das wohl kaum jemand. In sonstige Gedichte wollte ich es auch nicht stellen. Sonstige will ich vermeiden.
Fantasiegedichte wäre es vielleicht gewesen.

Nachträglich erst habe ich dann folgende Eigeninterpretation
entdeckt, ja, man befriedigt sich nicht nur selbst ;-) man interpretiert sich auch selbst ;-)

Wenn sich ein Paar zu sehr vereint sein und miteinander verschmelzen will, dann nehmen sie alles voneinander auf.
Es gibt nichts mehr, was sie getrennt haben. Sie wollen alles voneinander. Alles miteinander machen. Sie nehmen sich irgendwann gegenseitig die Luft weg. Das bemerken sie, sie fühlen sich eingeengt. Sie husten erst Mal (streiten) und dann sterben sie ab, trennen sich also.

Aber das ist mir erst nachträglich eingefallen. Deshalb setzte ich es in "Gedichte zum Nachdenken".

Hoffe, dass ich nun nicht zu sehr, lang und breit, entmystifiziert
habe. Vielleicht kommt jemand noch auf andere Interpretation.
Würde mich sehr freuen.

Re: Kussgefahren

Autor: IchWillKeinenNamen   Datum: 01.08.2020 19:52 Uhr

Kommentar: Für mich sind Ekel und Erotik stark verschränkt und kommen quasi nur Hand in Hand daher.
Dein Gedicht hat bei mir beides geweckt und da es keine Kategorie Ekelgedichte gitb, finde ich jetzt Erotische Gedichte nicht abwegig.
Es muss ja nicht ungedingt jeden Menschen ~lubrizieren~, dass es als ein solches gilt.
Nicht immer lache ich über "Lustige Gedichte", nicht immer trauere ich bei "Gedichte über den Tod" und nicht immer bin ich erregt von "Erotische Gedichte" - aber manchmal eben schon.
Und wenn nicht ich dann wer anders.
So wichtig sind ja Schubladen letztendlich auch nicht...
Ich denke aber es gibt eigentlich in etwa so viele Kategorien für Gedichte, wie es Menschen auf der Welt gibt... wahrscheinlich könnte man alle paar Verse einer anderen Kategorie zuordnen.

Dein Gedicht jedenfalls hat für mich beschrieben, dass man in der Lust Dinge tut und schön findet, die in jedem anderen Kontext abartig wahrgenommen werden können - also wenn die Lust Überhand nimmt, über allem anderen.

Da werden Körperstellen beschnuppert, geküsst, gerieben und liebkost, welche im Alltag nichtmal das Tageslicht sehen, oder wenn doch, dann jedenfalls nicht in Verbindung mit etwas erotischem stehen.

Die Dinge, die man in solchen Momenten mit lüstern funkelnden Augen sagt, sind ja teilweise auch ziemlich heftig.

Das Ende ist für mich eine Warnung: Verliert euch nicht in diesen Momenten. Wenn die Zungen ständig mit Küssen beschäftigt sind, dann kommen sie nicht mehr zum Reden.

Naja.. genug "Nachdenken" über dein Gedicht fürs Erste.

Liebe Grüße,



P.S.: Eigentinterpretation von etwas im Affekt geschriebenen kann schon witzig sein und einen zum Schmunzeln bringen.
'Huch, was hat mich denn da geritten..'

Re: Kussgefahren

Autor: ThomasNill   Datum: 02.08.2020 13:35 Uhr

Kommentar: Danke für Dein Nachdenken!

Gerade in Corona Zeiten kann man vielleicht folgende Überlegung nachvollziehen (sie stammt nicht von mir und deckt sich mit Deiner Verbindung zwischen Ekel und Erotik):
Vor Infektionsrankheiten ist man als Tier am besten geschützt, wenn man sich voneinander fern hält. Zur Vermehrung muss man sich aber näher kommen. Damit das passiert, muss es etwas Positives geben, was den Ekel als normale Schutzfunktionen hemmt. Das ist die Lust, das gute Gefühl dabei.
Die ganze Natur ist voller Tricks! Lust ... und beim Menschen Liebesgedichte! sind versteckte Zuckerstückchen, um Partner anzulocken, die vernünftigerweise normal besser eigene Wege gehen.
Lust soll Partner unvorsichtig machen.
Positiv daran finde ich aber, dass deshalb auch sehr wahrscheinlich ALLE Tiere beim Sex und der Werbung darum Lust empfinden. Das finde ich schön.

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