Es schmerzt zu wissen: Die Heimat ist fern.
Statt hier im Ruhrgebiet wäre ich gern
in des Nordens herber Frische und Luft.
Hier Kohle, dort Nordsee – welch' eine Kluft !
Die Menschen hier sagen, die Gegend sei herrlich.
Ich bin mir ganz sicher, sie meinen es ehrlich.
Fabriken und Schlote und Städtegewirr,
ich fühl's immer wieder: Das lieben sie hier.
Eckkneipe, Schalke und Taubenschlag
sind Dinge, die hier fast jeder mag.
Ich denke an Zeiten, wo ich Nordseeluft sog.
Hier bin ich gefangen im Ruhrgebiets-Smog.
Stratmann und Knebel, hier fühlt man anders.
Ich fühle mich wohl beim Drama „Nis Randers“.
So wohn ich hier seit -zig, -zig Jahren,
muss deshalb ständig zur Nordsee fahren.
Hier hält mein Blick nach zehn Meter inne,
ich brauche Weitsicht in doppeltem Sinne !
Im Ruhrgebiet bleibt mir mein Herz furchtbar schwer.
Ich brauche Ostfriesland, die Küste, das Meer !
Deiche mit Blumen und Klee und den Schafen,
so war meine Kindheit in Wilhelmshaven.
Zwischen Schlengen das Wermutskraut,
über mir kreischten die Möwen laut.
Überall Menschen mit freundlichen Mienen,
Strandhafer, Brise und summende Bienen.
Ein Klönschnack dort unten an Rüstersiels Maade,
hier Bootswerft Iken, entfernt fließt die Jade.
Auf der Gökerstraße ging's Richtung Stadt,
gesprochen wurden Hochdeutsch und Platt.
KW-Brücke und Fliegerdeich,
Aquarium nebenan gleich.
Samstagabends fuhr man stets schneller
zum legendären Strandhallen-Keller.
Rock und Beat tönten vom Plattenteller;
man „hottete“ bis morgens stets schneller.
Raeder-Schleuse und besonders Dock 7
sind mir in Erinnerung geblieben.
Der Nassau-Hafen war mir vertraut,
von dort zur „Bademole“ geschaut.
Im Süden der Südstrand lud ein zum Baden,
am Geniusstrand lief man weit, bis die Waden
endlich bei Ebbe im Wasser standen,
wir Krebse und Muscheln und Bernstein (!) fanden.
Links von uns der Voslapper Leuchtturm,
unter uns nur Wattwurm an Wattwurm,
Sandburgen, Strandgut, Geruch nach Teer,
das war die Grüne Stadt am Meer.
Im Norden auch der Heppenser Groden,
kämpfend dem Meer abgerungener Boden.
Im Süden die Häfen, mit Schiffen, so vielen.
Darin und daran schuften Männer mit Schwielen.
Und am Bismarckplatz inmitten der Stadt
Schlicktown sein einmaliges Rathaus hat.
Erbaut von Herrn Höger mit Wellensymbol
steht es dort seit Jahrzehnten schon.
Doch immer zieht's mich zurück zur Jugend,
als ich – so oft aus dem Fenster lugend -
sah diese fremde Mischung aus Trümmern
von Bunkern, Stahlbeton und – noch schlimmer -
zerbombten Häusern, zerborstenen Brücken
und zwischendurch als Nachkriegslücken
grasende Kühe auf wenigen Weiden,
die nichts verraten vom Nachkriegsleiden.
Auch heute, im Ruhrpott, ist weiter mein Ziel
zu fahren zur Heimat, nach Rüstersiel,
wo '62 die Nordsee bebte
und ich die große Sturmflut erlebte,
als auch der letzte Schutzdeich brach
und Wasser sich mit Gewalt, Macht und Krach
wie ein urtümlicher Koloss
im Ort sich ergoss.
Die „Schöne Aussicht“ hat mehrfach gelitten,
man sieht es an den Sturmflut-Abschnitten.
Doch überlebte sie jeden Schaden,
wird weiterhin Gäste ans Siel einladen.
Die Heimat war und bleibt das Ziel:
Hochschuldorf und Rüstersiel !
Immer action, immer raus,
vor Abend war ich nie zu Haus.
Kniphauser Deich und dann das Fort:
Wallgraben, Kanonenrohr,
Eishockey und Handgranaten,
nach Schrott tief buddeln mit dem Spaten...
Mit Bollerwagen Sand geklaut,
damit den Gartenweg gebaut.
Naturstein bot das Fort uns auch.
Ihn zu stehlen war ein Schlauch.
Das Fort war vielen nicht geheuer,
für mich war es ein Abenteuer !
„Vogelwarte Helgoland“
man dort Jahre später fand.
Adele Tießler nebenan,
Bier und Korn für jedermann.
Für Kinder hatte sie – kein Witz -
Bonbons. Kluntjes und Lakritz.
Ach, wie oft gehe ich schlafen
und träum' von meinem Wilhelmshaven,
von Aurich, Wiesmoor und Hooksiel,
auch von Dangast, Tossens viel...
Von „Wilkenjohanns“ / Zetel auch,
wo es später war der Brauch,
Beat-Bands auf das Land zu holen:
rocken, sehen, hören, johlen !
Ob Dornum, Esens, Bensersiel -
ich kenn' fast alles, kenne viel
an Ostfrieslands Nordseestrand,
auch die Inseln allesamt.
Jeden Tag vermisse ich
diesen schönen Küstenstrich !
Vielleicht jedoch habe ich Glück
und kehre irgendwann zurück.
Zurück, wo – einfach wunderbar -
die Wurzel meiner Kindheit war.
Irgendwann, so hoff' ich sehr,
gibt es eine Wiederkehr !
Dies zumindest ist mein Ziel:
Wilhlelmshaven, Rüstersiel !!
Beschreibung des Autors zu "Sehnsucht nach meiner Heimat"
"Früher" schrieb ich Gedichte "am Fließband"; das vorliegende ist mein vorerst letztes. - Lange hatte ich überlegt, es hier überhaupt zu veröffentlichen, denn es enthält soviel Lokalkolorit, dass eigentlich nur alteingesessene Wilhelmshavener, noch genauer: Rüstersieler (Rüstersiel = nördlicher Vorort von WHV, mein Heimat-Dorf), die beschriebenen lokalen Bereiche sowie meine Stimmung(en) nachvollziehen können. - Nun denn, vielleicht kann der Leser / die Leserin dennoch die Melancholie, in der ich mich während des Schreibens befand, nachempfinden.
Ich wuchs nach dem Kriege auf in den Trümmern des einst größten Kriegshafens Deutschlands; nachdrücklich in Erinnerung ist mir die Februar-Sturmflut '62 geblieben, die keineswegs nur Teile von Hamburg überschwemmte....
Kommentar:Lieber Kleist-Fan. Auch mich hat das Leben vom Strande ins Binnenland geführt und bin regelmäßig wieder dort um ,,Heimatluft" einzusaugen. Ich weiß, wovon du schreibst, mit einer sehnsuchtsvollen Träne im Auge. Sehr viel Text, für mich nachvollziehbar. Alles Gute für dein Ziel
Kommentar:Lieber Kleist-Fan
ein sehr schönes Werk, die Sehnsucht nach der Heimat.
Ich kenne sie auch diese Sehnsucht, sie wird immer bleiben und das ist auch gut so. Ich wünsche dir alles gute und Gesundheit.
dein Gedicht hat mich sehr angesprochen, obwohl ich Österreicherin bin und nur einem einen Städteurlaub in Hamburg verbracht habe.
Die Stimmung und die Sehnsucht nach deiner Heimat hast du gekonnt beschrieben und den Lesern toll vermittelt.
Kommentar:Ich bedanke mich bei den Leser/innen für ihre freundlichen, wohl gesonnenen Kommentare, über die ich mich aufrichtig gefreut habe !
Zur Erklärung meiner "Entwurzelung": Ich studierte in den "wilden" End-60ern Germanistik und Sport - und es zog mich zu der besten, physisch anspruchsvollsten Sport-Uni Deutschlands, die - angeblich vor der Sporthochschule Köln - die WWU Münster / NRW war. Wer in NRW studierte, musste damals, was ich nicht wusste, dort vorerst seinen Beruf auch ausüben. Letztendlich blieb ich im "Pott" hängen, zumal mir mehrere Versuche des Planstellen-Tauschs - NRW gegen Nordseeküste - nicht gelangen. - Als ich in den 80ern eine (zur Zeit brexit-geschädigte) Engländerin aus und in der schönsten, ältesten Stadt GBs, YORK, heiratete und sie meinetwegen Heimat, Verwandte, Freunde, Sprache und Kultur hinter sich ließ, war klar, dass wir hier, im Ruhrgebiet, bleiben mussten, nachdem sie hier Fuß gefasst und Freundinnen gefunden hatte.
Natürlich sind wir hin und wieder in WHV, doch deutlich öfter in Yorkshire / Nordostengland (abgesehen von diesem Corona-Jahr).....
Kommentar:Lieber Kleist-Fan,
ich bin zwar von der anderen Seite des Nordens, aber wer jemals am Meer gelebt hat, trägt es im Herzen,
Dass du Nis Randers erwähnst, freut mich besonders, es ist eines meiner Lieblingsgedichte.
Sagt Mutter, es ist Uwe!
Natürlich mussten wir als Schüler der Küste derartige Gedichte auswendig lernen, in diesem Falle von Otto Ernst "Nis Randers --->>> Sag's Mutter, 's ist Uwe !" Das Kuriose ist, dass ich Werke, die mich in irgendeiner Form faszinierten, freiwillig (!!) auswendig lernte, so z.B. Theodor Storms "Die Stadt" (bin Mitglied der Storm-Gesellschaft Husum), so den Eingangs-Monolog des Faust, so ebenfalls die gesamte geniale Schüler-Szene (Mephisto - Schüler), die ich nur allzu gern frei vor meinen Kursen rezitierte - unterlegt mit entsprechender Mimik.
"Nis Randers" bewog mich, bereits im knabenhaften Alter von 13 Jahren selbst (!) Mitglied der DGzRS (Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger) zu werden, was ich heute noch - mit über 70 Jahren auf dem Buckel - bin, so wie es meine Eltern zeit ihres Lebens waren.
Tage eilen in grauen Kleidern
an mir vorbei, doch ich
glaube zu schweben, eingehüllt
in einem Mantel aus Licht.
Ich habe noch viel vor
und halte die Uhren an,
doch das Leben läuft [ ... ]
Strahlend wärmt der Sonnenschein nach dürstend, finsterer Zeit.
Licht und Wärme streichelt alle Sinne, die wir haben.
Ein Märchen scheint erwacht zu sein, in einem bunten Kleid.
Des Lebens [ ... ]
Gevatter Tod, -unsichtbarer Geselle,
verbreitest bisweilen Angst und Schrecken,
stehst von Anbeginn schon vor der Tür,
gehst neben mir, trittst an des Lebens Stelle.