Jürgen K. Hultenreich Langsam rückwärts ist eine kräftige Gangart.
Basis Verlag, Berlin 1985
Grafiken von Ralf Klement ( Bildhauer und Maler aus dem Eichsfeld)


Die Gedichte sind geprägt vom Erfurter und Berliner Leben des Verfassers zwischen 1948 und 1985. Ein empfindsamer, freiheitsliebender und lebenslustiger Mann erlebte die Wirklichkeiten der sowjetischen Besatzungszone- also ihre wechselnden
Herrschafts- und Unterdrückungsstile.
Die politische Unterdrückung der Mehrheit der Bewohner war von Anfang an da und sollte in politischen und künstlerischen Äußerungen
beurteilt werden als der bisherige Höhepunkt der Menschheitsgeschichte in Ostelbien. Dies war eine hegelianisch-marxistische Geschichtshypothese, die sehr viele Menschen gewohnheitsmäßig nachplapperten, denn ein öffentlicher Widerspruch
konnte drakonisch bestraft werden.
Die Verhaftungen aus politischen Gründen setzten in der sowjetischen
Besatungszone im Mai 1945 ein und endeten 1989 im Herbst. Die Grenzanlagen wurden im Laufe der Zeit fast unüberwindlich und die
Herrschaftszone weitete sich tatsächlich bis in das Innere der Menschen aus. Empfindungen, Gefühle und das Innere Sprechen unterlagen wie das restliche Erleben und Leben dem Zugriff der dafür
geschaffenen Sicherheitsdienste.
In diesem, hier versuchsweise beschriebenen Staat lebte der Dichter und bearbeitete seine Erfahrungen mit Worten.
Der Künstler schreibt Texte häufig in lyrischer Prosa, in der jede Zeile durchgearbeitet klingt. Der Verfasser konnte seine Gedichte fast nur privat vortragen. Mir ist soviel literarischer Knappheit, Witz, Verachtung der Herrschaft, Mitleid mit den Beherrschten bisher in der Dichtung aus der sowjetischen Besatzungszonenach nicht bekannt geworden. Die meisten Arbeiten sind ja auch in dem besprochenen Band 1985 erstmalig erschienen.
Der Dichter fand seine Öffentlichkeit als Kneipenpoet, mit seinen
Freundinnin und Freunden, emsig beschrieben von den anwesenden Mitarbeitern des Sicherheitsdienste. ( Die Stasiakte des Verfassers ist darum wahrscheinlich von literarischer Bedeutung).
Die Sprache ist auch dadaistisch, mit der Kneipenbesäufnisse, erotische Fantasien und Beleidigungen überrealistisch und verfremdet
beschrieben werden. Erinnerungen an Kneipenverse, Galgenlieder und Studentenlieder werden geweckt.
Die lyrischen Zeilen sind auch surrealitische Traumdarstellungen. Die Träume sind ein bedichteter Ausweg.
In seinen Berlinischen Untersuchungen beschreibt er Bürgergräber
auf dem Brechtfriedhof und vergisst den Brecht beinahe dabei.
Kneipengedichte verhöhnen die herkömmliche Mutterliebe.
Teufel und Dutschke tauchen als Rebellen auf und werden zu Gegenspielern von Ulbricht und MOskau im Jahre 1968, dem Jahr, in dem der junge Mann sich seiner sozialistischen Wünsche entledigt.
Paare werden beschrieben, ihr Leben mit Hoffnungslosigkeit, Alkohol,
sexuellen Abenteuern.
Der Dichter begleitet eine Selbstmörderin bei ihrer letzten Zugfahrt.
Zwei Vierzeiler beschreiben einen Mann, der sein Leben verlor.
Er fiel zuerst in das Schweigen, gab dann das Denken auf, ergab
sich dem Schnapstrinken. Er bekommt Streit, vergeht sich an Tieren
und wird schließlich erwürgt. Ein verrauschtes Leben, ein Galgenvogellied ist ihm gewidmet.



Kommentare zu "Über einen frühen Lyrikband von Jürgen K. Hultenreich"

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