1. Ein neues Leben beginnt

Der Freitag Morgen brach warm und hell an und ließ die Obstbäume in den Gärten der Häuser in einem leuchtenden Grün erstrahlen. Die Bewohner in der kleinen Stadt Bizza achteten besonders auf ihre grünen Rasenflächen, um jedes Jahr möglichst viele Touristen in die ruhige Kleinstadt zu locken, denn dies galt dann als ein gutes Omen. In dieser kleinen Stadt war mein Zuhause. Ich wohnte in der Lindenstraße 10, etwas abseits vom Stadtzentrum und lebte mit meiner Mutter und meinem Vater allein in dem Haus, was viel zu groß für uns war, denn Geschwister hatte ich keine. Deshalb war ich froh, dass ich so wunderbare Freunde hatte, die immer für mich da waren und mich niemals im Stich ließen: Fiona und Alex. Alex kannte ich schon seit dem Kindergarten, da er damals der einzige war, der immer mit mir gespielt hatte. Er war zur Zeit einer der besten Fußballspieler in unserem Jahrgang und brachte mich mit seiner Art immer zum Lachen. Er hatte kurze braune Haare und sah in diesen Fußballtrikots, meiner Meinung nach, sehr gut aus. Fiona hingegen lernte ich damals in der Grundschule kennen. Sie war wie ich, eher schüchtern und zurückhaltend, aber auch auf ihre Weise lustig und offen. Für mich war sie eine Art Schwesterersatz. Meine Eltern waren froh gewesen, als ich nach der ersten Schulwoche schon eine Freundin mit nach Hause brachte, denn genauso wie ich wollten sie, dass ich nicht nur Jungs als Freunde hatte, obwohl sie persönlich eigentlich nichts gegen Alex einzuwenden hatten. Für meine Eltern war ich alles, was ihr Leben lebenswert machte; so formulierten sie es immer, wenn sie sich Sorgen um etwas machten, damit ich auch ja auf mich aufpasste, denn sie könnten es nicht ertragen, wenn mir irgendwas zustoßen würde. Jedenfalls war ich mit meinem Leben, so wie ich es kannte, vollkommen zufrieden und ich würde um nichts in der Welt etwas daran ändern wollen.
Mein Wecker zeigte eine Minute vor sechs Uhr an und ich schlief noch tief und fest. Als er schließlich eine Minute später klingelte, schrak ich aus dem Schlaf und schaltete ihn aus. Ich rieb mir die Augen und warf einen ersten Blick aus dem Fenster; meine Miene hellte sich auf, als ich den strahlend blauen Himmel sah, da ich nach der Schule zu Fiona gehen wollte und mit ihr einen Film anschauen und anschließend das restliche Wochenende mit ihr verbringen durfte. Ich hatte meine Eltern dazu überredet, damit sie selbst auch mal etwas Zeit für sich hatten, denn sie gingen beide arbeiten und hatten oft nicht viel Zeit füreinander; Urlaub konnten wir auch nicht so oft nehmen, vor allem, da ich dieses Jahr meinen Anschluss feiern würde und daher noch für die Prüfungen lernen musste.
Schließlich stand ich auf und machte mich für die Schule fertig; ich zog mein rotes Lieblingstop und eine blaue Jeans an, dann stellte ich mich vor den Spiegel und begutachtete meinen Look. Nach einem kurzen Blick auf meine schwarzen Haare, nahm ich mir ein Haarband und band sie mir zu einem Pferdeschwanz zusammen. Als ich mit meinem Aussehen zufrieden war, machte ich mich auf den Weg zur Schule.
Fiona wartete schon an der Ecke auf mich; ihre Haare waren so hell, wie meine dunkel waren, aber im Gegensatz zu mir trug sie sie immer offen, obwohl ich mich schon so oft gefragt hatte, warum sie sich nicht traute mal etwas anderes auszuprobieren.
» Hi Jess. Und freust du dich schon auf heute Abend?«, fragte sie mich.
» Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue«, gestand ich.» Ich bin einfach nur froh, wenn die Schule heute zu Ende ist.«
» Geht mir genauso. Ach ja, hätte ich fast vergessen. Ich habe Alex auch eingeladen. Ich hoffe, dass ist OK für dich.« Sie sah mich unsicher an.
» Ich hab‘ nichts dagegen, aber...«, ich stockte kurz und fuhr dann etwas besorgter fort,» er wird doch nicht auch bei uns schlafen, oder?«
Sie lachte.» Nee, da musst de dir keine Sorgen machen. Er wollte nur den Film mit uns anschauen.«
Ich stimmte in ihr Lachen ein.» Na dann ist ja gut.«
Schließlich kamen wir an der Schule an. Es war schon ein altes, sehr heruntergekommenes Backsteingebäude, an dem schon viel Geld für unnötige Reparaturen ausgegeben wurden. Außerdem waren die Klassenzimmer stickig und heiß, vor allem im Sommer, wenn die Sonne unaufhörlich gegen die Fenster knallte. Ich setzte mich an meinen üblichen Platz ganz hinten und ließ den Schultag über mich ergehen, ohne viel vom Unterricht mitzukriegen. Immer wieder ertappte ich mich dabei, wie ich gedankenverloren aus dem Fenster sah. An so einem schönen Tag müsste es verboten werden, in die Schule zu gehen, dachte ich und seufzte innerlich. Das Schlimmste war, dass unser Lehrer mich gerade aufgerufen hatte und ich es nicht bemerkte. Erst als Fiona mich anstieß, sah ich auf und spürte den wütenden Blick meines Lehrers. Da ich die Antwort nicht wusste, wandte er sich mit einem Schnauben meiner Erzfeindin Vanessa zu. Sie war der Liebling aller Lehrer und der größte Schleimer den ich je in meinem ganzen Leben kennenlernen musste. Ich konnte einfach nicht verstehen, was die Lehrer an ihr bewunderten. Sahen sie denn nicht, was für eine Zicke sie war?
Das Läuten der Schulklingel war eine Erlösung für mich und ich war einer der ersten die das Schulgebäude verließen. Auf dem Parkplatz warteten wir auf Alex. Als er jedoch nach zwanzig Minuten immer noch nicht erschienen war und ich ihn gerade anrufen wollte, kam einer seiner Kumpels zu uns und sagte:» Ihr braucht nicht auf Alex zu warten. Der muss Nachsitzen. Aber ich soll euch ausrichten, dass er heute Abend kommen wird.«
Fiona seufzte.» Er muss schon wieder Nachsitzen? Wie hat der das denn angestellt?«, fragte sie mich auf den Weg zu ihr.
» Das wird er uns heute Abend sicher erzählen«, meinte ich.
Während wir durch die heißen Straßen liefen, dachte ich gerade an das bevorstehende Wochenende und mir fiel ein, dass ich keine Zeit haben werde, um meiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: Joggen. Ich liebte es vor allem abends, wenn es nicht mehr ganz so heiß war, im Wald joggen zu gehen. Das gab mir immer einen freien Kopf und ich fühlte mich entspannter.
» Ähm... Fiona?«, fragte ich meine beste Freundin zögernd.» Denkst du, ich schaffe meine kleine Runde noch, bevor Alex kommt?«
» Du willst jetzt wirklich noch joggen gehen?«, fragte sie überrascht.
Ich nickte und sie seufzte.» OK, aber spätestens in drei Stunde bist du wieder da. Wenn du zu spät kommst, dann schläfst du draußen.«
» Abgemacht«, sagte ich, umarmte sie und lief zu mir nach Hause.
Als ich dort ankam, waren meine Eltern nicht da. Ich warf meine Schultasche aufs Bett, zog mich um, steckte meinen MP3- Player in meine Jackentasche und machte mich auf den Weg über den Hof, an dem ein Wald grenzte. Ein kleiner Pfad schlängelte sich durch ihn hindurch. Diesen Weg kannte ich schon seit meiner Kindheit und ich war ihn schon so oft gegangen, dass ich ihn sogar mit verbundenen Augen hätte laufen können. Meine Eltern hatten, als wir hierher gezogen waren, vorgehabt, einen Zaun um unser Grundstück zu ziehen, aber als sie mitbekamen, dass ich gerne in den Wald ging und dass es keine wilden Tiere gab, hatten sie sich umentschieden und ich durfte schon mit acht Jahren allein in den Wald gehen, wenn ich ihnen nur versprach, nie den Pfad zu verlassen.
Nach einer Stunde kam ich schließlich an einer Gabelung heraus und ich wandte mich nach links, da ich ganz genau wusste, dass ich nach einer weiteren halben Stunde an der Straße herauskommen würde, die nur zehn Minuten von meinem Haus entfernt war. Leider hielt der Akku meines MP3- Players nicht mehr durch und ich steckte ihn leicht genervt zurück in meine Tasche.
Nun achtete ich zum ersten Mal genauer auf meine Umgebung. Die Musik hatte mich so abgelenkt, dass ich gar nicht bemerkt hatte, dass es schon anfing zu Dämmern und das Wetter umschlug. Ich zog den Reißverschluss meiner Jacke ganz zu und beschleunigte meinen Schritt. Plötzlich hörte ich einen Zweig ganz in meiner Nähe knacken. Ich schrak zusammen, drehte mich um und versuchte in der Dunkelheit etwas zu erspähen. Erst jetzt merkte ich, wie schnell es dunkel geworden war, obwohl ich mir sicher gewesen war, dass erst vor nicht allzu langer Zeit die Sonne geschien hatte.
» Hallo?«, rief ich in die Nacht.
Niemand antwortete, aber das hatte ich auch nicht erwartet und ich war auch froh, dass es so war, aber auf der anderen Seite machte mir diese Stille Angst. Hinter mir raschelte es.
» Wer ist da?«
Panik stieg in mir auf und mein Herzschlag beschleunigte sich; ich atmete hektischer und sah mich weiterhin in meiner Umgebung um. Als ich wieder ein Knacken hörte, drehte ich mich um und rannte Hals über Kopf in das Dickicht des Waldes hinein, obwohl ich wusste, dass, wenn ich aus dem Wald wollte, in die andere Richtung hätte gehen müssen, oder besser gesagt, den Pfad hätte nicht verlassen dürfen. Zurück gehen konnte ich jedoch nicht, denn mein Verfolger, wer auch immer es war, kam aus dieser Richtung. Ich hörte über mir ein Rascheln, als würde jemand durch die Baumkronen springen und in meinem verzweifelten Wunsch so schnell wie möglich aus dem Wald zu kommen, sprang ich über einen riesigen Ast und landete mit meinen Füßen in einer riesigen Schlammpfütze. Ich spürte wie meine Socken durchweichten. Ohne Vorwarnung stolperte ich über einen weiteren Ast und schlug mir den Kopf an einem spitz herausragenden Stein auf. Ich blieb auf der feuchten Erde liegen und betastete meinen Kopf. Meine Hand berührte die Stelle, die mir so schmerzte und ich spürte, wie mir das feuchte warme Blut übers Gesicht strömte. Mir wurde gerade bewusst, dass niemand wusste, wo ich mich befand. Niemand.
Wie aus dem Nichts erschien eine Hand, die mich packte und mich hochhob. Ich war zu schwach um meine Augen zu öffnen und so blieb ich reglos liegen. Dann spürte ich einen scharfen stechenden Schmerz an meiner Kehle und verlor das Bewusstsein.

Als ich die Augen öffnete, fand ich mich auf dem Waldboden liegend wieder. Automatisch griff ich mir an den Hals und spürte einen leichten Schmerz an meiner Kehle. Ich schaute zum Himmel und merkte, dass er sich bereits rosarot färbte. Die Sonne würde bald aufgehen. Plötzlich fiel mir wieder ein, dass ich eigentlich bei Fiona hätte sein sollen und setzte mich rasch auf. Neben mir nahm ich eine Bewegung wahr und ich drehte den Kopf. Ein junger Mann, nicht älter als zwanzig, saß neben mir auf der Erde und beobachtete mich. Er trug ausschließlich schwarze Sachen, selbst seine Augen waren tiefschwarz. Ich war mir sogar sicher, einen rötlichen Schimmer in ihnen wahrzunehmen. Als ich ihn ansah, kam die Erinnerung an gestern Abend wieder hoch und ich griff mir automatisch an den Kopf und merkte erleichtert, dass ich nicht mehr blutete, aber dafür hatte ich einen seltsamen Schmerz in meinen Eckzähnen, den ich mir nicht erklären konnte. Ich sah wieder zu dem Jungen, der mich interessiert beobachtete und fragte:
» Wer bist du?«
Der Junge reichte mir seine Hand, um mir aufzuhelfen und antwortete:» Mein Name ist Tim. Und wer bist du?«
Ich nahm seine Hand und ließ mich von ihm hochziehen.» Jessica«, erwiderte ich.» Weißt du zufällig, wer mich gestern verfolgt hat?«
Er sah mich entschuldigend an.» Ja, das war ich. Es tut mir Leid, falls ich dich verschreckt habe. Ich hatte dich gestern in den Wald laufen sehen und bin dir gefolgt.«
» Hättest du nicht irgendwas rufen können?«, fragte ich ernst.» Dann wäre ich sicher nicht vor dir weggerannt. Du hast mir einen höllischen Schrecken eingejagt.«
Er lachte.» Ehrlich? Na wenn das...«, fing er an, aber er sah zum Himmel und stockte.» Komm, wir müssen in den Wald.«
» Was?«, fragte ich verwirrt.» Wir können doch hier reden, wieso...«
» Keine Widerrede. Los«, sagte er scharf, packte mich am Arm und zog mich mit sich.
Rasch lief er auf die Bäume zu, die wesentlich mehr Schatten boten, als die Büsche auf der kleinen Lichtung, auf der wir uns eben noch aufgehalten hatten.
Ich blickte zum Himmel und sah, wie die Sonne hinter den Wolken hervor kam. Ein Sonnenstrahl streifte meine Haut und ich genoss zuerst die vertraute Wärme; aber nach gewisser Zeit wurde die Wärme so unangenehm, dass es schmerzte und ich keuchte auf. Meine Haut fühlte sich an, als hätte sie jemand mit einem Ofen beheizt, so sehr brannte die Sonne auf meiner Haut.
» Tim«, sagte ich mit schmerzverzerrter Stimme.» Mein Arm.«
» Ich weiß«, sagte er und lief schneller.
Endlich kamen wir im Schutz der Bäume an und kaum hatten wir den Schatten erreicht, hörte das Brennen schlagartig auf, aber ich spürte trotzdem noch die wunde Stelle an meinem Oberarm. Ich ließ mich auf einem Baumstamm nieder und betrachtete ihn. Meine linke Schulter war blutrot, als hätte ich einen sehr schlimmen Sonnenbrand.
» Zeig mal her«, verlangte Tim und strich mit seinen Fingern sanft über meine verbrannte Haut. Seine kühle Haut war sehr angenehm.» Ist nicht so schlimm, das heilt schnell wieder.« Er setzte sich neben mich und ich musterte ihn mit leichter Sorge.
» Was hat das zu bedeuten?«, fragte ich ihn verunsichert.» Was war da los?«
Tim sah mir in die Augen und sagte:» Am besten, du siehst es dir selbst an.« Er zog einen kleinen Taschenspiegel aus seiner Jackentasche und gab ihn mir.» Sieh, deine Augen«, sagte er nur.
Verwirrt blickte ich in den Spiegel und schnappte scharf nach Luft. Meine Augen hatten den selben tiefschwarzen Farbton, wie seine und auch in ihnen nahm ich einen rötlichen Schimmer wahr. Was ist mit mir geschehen?, dachte ich verängstigt. Meine Augen waren doch sonst immer braun.
» Würdest du mir glauben, wenn ich dir sage, dass es in dieser Welt Vampire gibt?«, fragte Tim plötzlich und ich zuckte zusammen.
» Vampire?«, piepste ich und sah ihn mit großen Augen an.» Was... meinst du damit?«
Er nahm mir den Spiegel wieder ab und antwortete ruhig:» Hast du dich nicht gefragt, wieso ich dich nicht ins Krankenhaus geschafft habe, als du schwer verletzt am Boden lagst?«
Jetzt wo er es sagte, musste ich zustimmen, dass ich es schon komisch fand, warum ich auf dieser Lichtung aufgewacht war und nicht in einem weichen Krankenhausbett. Ich war mir ziemlich sicher gewesen, dass ich eine schlimme Kopfverletzung gehabt hatte, als ich ausgerutscht war, aber als ich noch einmal meinen Kopf betastete, fand ich keine Spur von einer Verletzung.
Mitten in meinem Gedankengang fiel mir wieder ein, dass er mir eine Frage gestellt hatte und ich beschloss zu antworten:» Ja-... Ja, das habe ich mich gefragt.«
» Ich habe dich nicht ins Krankenhaus gebracht, weil... ich dich verwandelt habe«, versuchte er mir zu erklären.» Du warst so schwer verletzt und ich nahm an, dass ich es nicht bis ins Krankenhaus schaffen würde,...dass du sterben würdest, bis wir dort angekommen wären..., also habe ich... dich verwandelt... Das ist auch der Grund, warum du vorhin solche Schmerzen hattest, als wir noch in der Sonne waren...«
Automatisch blickte ich auf meine Schulter und stellte verblüfft fest, dass meine Haut nicht mehr verbrannt aussah, sondern so wie immer.
» Ich habe keine Verbrennungen mehr«, sagte ich überrascht.
Tim lächelte.» Nein. Das ist eines der positiven Dinge, die man in seinem neuen Leben bekommt. Die Wunden heilen schnell.«
Ich schaute ihn neugierig an, denn ich hatte keinen Zweifel, dass er die Wahrheit sagte. Hätte ich ihn zufällig getroffen und hätte er dann angefangen von Vampiren zu reden, dann hätte ich ihn für bescheuert gehalten, aber unter diesen Umständen, fand ich das, was er sagte logisch. Ich wusste nicht, was mich da so sicher werden ließ, aber irgend etwas sagte mir, dass er die Wahrheit sprach.
» Du sagst die Wahrheit«, sagte ich fest.» Du... bist wirklich ein Vampir.«
» Du nimmst das besser auf, als ich gedacht habe«, sagte er erleichtert und lächelte dabei.» Ich hatte schon Angst, dass du einfach wegrennst und du dich dann der Sonne aussetzt.«
» Nein, auf diese Erfahrung kann ich verzichten«, sagte ich, denn einmal am lebendigen Leib verbrannt zu werden, reichte mir vollkommen.
Wieder schwiegen wir. Während jeder von uns seinen eigenen Gedanken nachhing, spürte ich wieder den stechenden Schmerz in meinen Zähnen, der mich aufstöhnen ließ.
» Was ist los?«, fragte Tim besorgt.
» Meine Zähne tun nur so weh«, sagte ich.» Ist das auch normal für einen Vampir oder bin ich krank?«
» Keine Sorge, du bist nicht krank. Das ist alles ganz normal. Dieser Schmerz bedeutet, dass du Durst hast«, erklärte er und strich mir übers Haar.
Ich schauderte.» Heißt das... ich muss... Menschen...?«
» Nein«, sagte er sofort.» Keine Menschen. Einige unserer Art, ernähren sich von Tierblut. Soll ich dir welches holen?«
» Keine Menschen?«, sagte ich zweifelnd.
» Keine Menschen«, bestätigte er lächelnd.
» OK«, sagte ich zuversichtlicher.
» Dann warte hier, ich komme gleich wieder«, antwortete er, sprang auf und rannte mit einer atemberaubenden Geschwindigkeit davon. Keine zwei Minuten später kam er mit zwei toten Kaninchen wieder und legte sie mir vor die Füße.
Ich hob eins auf und sagte:» Wow, du bist echt schnell.«
» Das bist du auch«, sagte er.
Argwöhnisch musterte ich das tote Tier, welches ich in den Händen hielt und spürte, wie das warme Blut unter seiner Haut pulsierte. Mir lief das Wasser im Mund zusammen und ohne einen weiteren Gedanken daran zu verschwenden, dass ich das womöglich als Mensch als abstoßend empfunden hätte, stieß ich meine Zähne durch die Haut des Tieres und trank gierig das warme Blut. Kaum berührte es meine Zunge spürte ich den intensiven Geschmack. Es schmeckte süß und löschte meinen Durst. Erleichtert merkte ich, dass auch der Schmerz in meinen Zähnen nachließ. Als ich fertig war, ließ ich die beiden Kaninchen zu Boden gleiten und sah Tim an.
» Besser?«, fragte er und als ich nickte, schien er erleichtert.
» Du sagtest doch vorhin, dass die meisten unserer Art... Tierblut bevorzugen«, erinnerte ich ihn und versuchte unser Gespräch von vorhin fortzuführen.» Wie viele von uns gibt es denn hier?«
» Also hier in der Nähe bin eigentlich nur ich«, erwiderte er, jetzt da er wusste, dass ich nicht sauer auf ihn war, weil er mich verwandelt hatte, ruhiger.» Aber auf der ganzen Welt leben schon einige. Wie viele es genau sind, weiß ich nicht. Derjenige, der mich verwandelt hat, ist gleich danach abgehauen, da er offensichtlich dachte, ich würde sterben bevor die Verwandlung ganz abgeschlossen war. Alles was ich weiß, habe ich selbst herausgefunden, aber ich werde es dir nicht so schwer machen. Ich werde dich nie allein lassen.«
Ich wusste nicht, ob ich ihm dankbar sein sollte, dass er mich verwandelt hatte, aber auf der anderen Seite hatte er sich hier sicher einsam gefühlt und da konnte ich sehr gut verstehen, warum er mich nicht hat sterben lassen.
» Danke, dass du mir helfen willst«, sagte ich.
» Bist du nicht sauer?«, fragte er und musterte mich besorgt.
Ich schüttelte den Kopf.» Nicht wirklich. Eigentlich finde ich das ja cool, aber... es wird sich sicher viel in meinem Leben ändern, nicht wahr?«
Er nickte.» Ich wollte dir dein Leben nicht stehlen«, sagte er und offensichtlich schien er es ernst zu meinen, denn er ließ den Kopf hängen und wandte sich ab.
» Hey«, sagte ich und hob seinen Kopf so an, dass ich ihn ansehen konnte.» Ich weiß, dass du nicht so gehandelt hättest, wenn du gewusst hättest, dass ich das überleben würde.«
» Danke«, murmelte er und brachte sogar ein kleines Lächeln zustande.
» Aber du musst mir noch einiges beibringen«, sagte ich vorwurfsvoll.
» Ich werde dir alles beibringen, was ich kann«, versprach er und legte seine Hand über meine.» Wenn du mir vertraust.«
» Ich vertraue dir«, sagte ich wahrheitsgemäß und sah ihm fest in die Augen.» Ähm..., aber wie soll ich das hier«, ich deutete auf meinen Körper,» meinen Eltern erklären?«
Er schwieg und mir kam ein schrecklicher Verdacht.
» Ich... darf sie nie wieder sehen, oder?«, fragte ich und versuchte verzweifelt meine Tränen zurückzuhalten.
» Nein..., aber dafür gibt es einen guten Grund«, sagte er hastig und legte mir einen Arm um die Schultern, als ich anfing zu schluchzen.» Auf den Weg hierher bin ich einigen Vampiren begegnet. Sie waren auf der Flucht, da die Einwohner ihres Dorfes herausgefunden hatten, dass es uns gibt und sie wollten Versuche an ihnen durchführen. Du weißt schon, wie solche Laborratten. Na ja jedenfalls haben sie sich geweigert da mitzumachen und daraufhin haben sie angefangen, sie zu jagen. Du musst wissen, dass wir zwar unsterblich sind, aber das heißt nicht unverwundbar. Man kann uns töten in dem man uns der Sonne aussetzt, oder auch in dem man uns einen Holzpflock durchs Herz treibt.« Er nahm mich fest in den Arm, als ich schauderte und fügte hinzu:» Das hat mir gezeigt, dass wir uns nicht den Menschen offenbaren sollten. Deshalb halte ich mich normalerweise von ihnen fern, verstehst du?«
Auch wenn es für mich alles logisch klang, was er sagte, konnte ich nicht glauben, dass ich meine Eltern nie mehr wiedersehen durfte. Ich hatte so viel mit ihnen erlebt und sie waren immer für mich da gewesen. Aber ich wusste auch, dass ich es ihnen nicht erzählen durfte. Was wäre, wenn sie mich zwar unterstützen, ich aber die Beherrschung verlieren und sie angreifen würde? Das könnte ich mir niemals verzeihen. Die schlauste Lösung wäre, mich von ihnen fern zu halten, um sie nicht in Gefahr zu bringen.
» Aber... wie soll ich... ihnen m- mein Verschwinden erklären?«, brachte ich hervor.» Wenn ich am Montag nicht von der Schule nach Hause komme, dann... machen sie sich Sorgen und rufen die Polizei.«
» Ich werde mir etwas einfallen lassen, das verspreche ich dir«, sagte er ernst und strich mir beruhigend über den Rücken.» Wir müssen uns aber zuerst überlegen, was du deinen Freunden sagst.«
Als er das sagte, fiel mir wieder ein, dass ich gestern Abend mit meinen Freunden verabredet gewesen war.
» Ach ja, das habe ich ja ganz vergessen«, sagte ich und wischte mir über die Augen.» Was soll...?«, setzte ich an, aber ich wurde von dem Klingeln meines Handys unterbrochen. Ich schaute aufs Display und merkte mit leichter Besorgnis, dass Fiona mir eine SMS geschrieben hatte.
» He Jess. Wo steckst du? Wir haben den ganzen Abend auf dich gewartet und sogar bei dir zu Hause angerufen, aber es ist niemand ans Telefon gegangen. Bitte melde dich, wenn es dir gut geht. Ich habe das gestern nicht so gemeint, als ich sagte, dass du draußen schlafen musst, wenn du zu spät kommst. Fiona«
Ich stöhnte.» Toll und was soll ich ihr jetzt sagen?«
Tim sah mich nachdenklich an und sagte schließlich:» Schreibe, dass du mit deinen Eltern kurzfristig weg musstest, aber versichere ihr, dass du am Montag wieder in die Schule kommst.«
Ich schaute ihn leicht verwirrt an.» Aber... ich kann doch nicht in die Schule gehen.«
» Ich habe mir schon was ausgedacht, das sage ich dir aber jetzt noch nicht. Zuerst müssen wir ein paar Vorbereitungen treffen«, erklärte er ernst und ich fing an eine Antwort zu tippen:
» Mach dir keine Sorgen um mich, ich musste nur sofort mit meinen Eltern weg. Es tut mir Leid, dass ich euch nicht bescheid gesagt habe, aber ich hatte so viel Stress, dass mir das ganz missfallen war. Ich wusste, dass du das nicht ernst gemeint hattest, also hör bitte auf dir Vorwürfe zu machen. Genieße dein Wochenende, wir sehen uns Montag in der Schule. Jess«
Als ich sie abgeschickt hatte, sah ich Tim neugierig an.» Also, was ist das für ein Plan?«
Er grinste hinterhältig und sagte:» Sei nicht so neugierig. Zuerst müssen wir dir andere Kleidung besorgen. Mit den Sachen, die du anhast, fällst du zu sehr auf.«
Ich schaute an mir herunter und wusste sofort wovon er sprach. Dunkle Sachen wären angebrachter.
» Ich kann mich bei mir zu Hause umziehen, aber ich weiß nicht, ob meine Eltern da sind«, sagte ich vorsichtig.» Das könnte etwas problematisch werden.«
» Hey, um deine Eltern brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Wir sind so leise, sie werden überhaupt nicht merken, dass wir oben sind.« Er klang so zuversichtlich, dass ich ihm zustimmte. Wir warteten bis es anfing zu Dämmern und machten uns langsam auf den Weg zu mir.
Schweigend liefen wir durch die verlassenen, dunklen Straßen. Das einzig spärliche Licht, spendeten ein paar Straßenlaternen, die sich in regelmäßigen Abständen durch die Straßen zogen und unsere Schatten länglich erscheinen ließen. Ich fühlte mich wohler, als die Sonne ganz am Horizont verschwand; das Tageslicht hatte mich etwas geblendet und war mir sehr unangenehm erschienen, während mir die Dunkelheit überhaupt nichts ausmachte; meine Augen brauchten sich nicht mehr an sie gewöhnen, sie waren dafür geschaffen.
» Gefällt dir die neue Sicht?«, durchbrach Tim nach einer Weile die Stille.
» Es ist viel angenehmer, als die Sonne«, gestand ich und lächelte.
» Das dachte ich mir.«
Ich sah ihn überrascht an, aber er wandte den Blick ab. Da ich ihn nicht nerven wollte, ließ ich das Thema fallen und wir liefen weiter. Zehn Minuten später kamen wir an meinem Haus an; im Untergeschoss brannte Licht, daher nahm ich an, dass meine Eltern zu Hause waren. Leicht besorgt sah ich Tim an und fragte:» Und, was machen wir jetzt?«
» Hast du zufällig dein Fenster offen gelassen, als du gestern Abend das Haus verlassen hast?«, fragte er, schaute mich aber nicht an, sondern ließ den Blick über die umliegenden Häuser schweifen.
» Ich weiß nicht, aber normalerweise schließe ich es immer, wenn ich aus dem Haus gehe«, sagte ich.» Aber wir haben eine Verandatür aus Glas. Die ist immer offen. Aber sie führt in die Küche und wenn meine Eltern da drin sind, dann... könnte es schwierig werden«, schloss ich schließlich.
» Schauen wir erst mal nach, dann sehen wir weiter«, sagte Tim, nahm mich an der Hand und ging mit mir zum Hinterhof.
Automatisch schaute ich hoch, aber wie ich es schon befürchtet hatte, war mein Zimmerfenster geschlossen. Ich sah ihn an und als er nickte, schlichen wir uns zur Verandatür. Wenigstens da hatten wir Glück: meine Eltern waren nicht in der Küche, also konnten wir uns ohne Probleme reinschleichen.
Mit einem letzten Blick auf mich schob Tim leise die Tür auf und wir huschten ins Zimmer. Ohne lange in der Küche herumzustehen, schlichen wir uns in den Flur und dann die Treppe hoch. Oben angekommen öffnete ich leise die Tür meines Zimmers und schlüpfte hinein. Als ich noch mal den Kopf rausstreckte, um zu schauen, wo Tim abgeblieben war, sagte er:» Geh allein, ich pass auf, dass niemand hoch kommt. Ach, und nimm dir noch einen Rucksack und ein paar Sachen mehr mit«, fügte er heiser flüsternd hinzu.
Verwirrt, was er wohl mit den Sachen vorhatte, schloss ich die Tür und zog mich um; dann durchwühlte ich meine Schränke nach weiteren dunklen Kleidungsstücken, die ich mitnehmen konnte. Mein Rucksack lag noch auf dem Bett; ich schüttelte ihn aus, sodass meine ganzen Schulsachen sich kreuz und quer über meinem Bett verteilten und stopfte so viele Sachen hinein, dass er sich gerade noch schließen ließ. Ein letztes Mal ließ ich meinen Blick durchs Zimmer schweifen, da ich wusste, dass ich nie wieder hierher zurückkehren würde und als ich der Meinung war, alles zusammengepackt zu haben, schulterte ich den Rucksack und wandte mich zur Tür. Ich wollte schon zu Tim zurückkehren, als er ins Zimmer gestürzt kam und sie hastig hinter sich schloss.
» Was ist denn los?«, fragte ich bestürtzt.
» Da kommt jemand«, erklärte er und machte das Fenster auf.» Hast du alles?«, fragte er und blickte auf den Rucksack, den ich mir gerade auf den Rücken geschnallt hatte.» OK, dann... spring aufs Dach.«
Ohne zu Zögern hockte ich mich auf den Fenstersims und schwang mich aufs Dach. Keine zwei Sekunden später war Tim an meiner Seite und schaute gebannt nach unten. Ich sah überrascht, dass in meinem Zimmer das Licht anging und war erleichtert, dass Tim so schnell reagiert hatte.
» Mann, das war echt knapp«, sagte er erleichtert.
» Ähm, kannst du mir vielleicht erklären, warum ich das ganze Zeug mitnehmen sollte?«, unterbrach ich ihn. Ich wollte mich von meiner wahnwitzigen Idee abbringen, zurück in mein Zimmer zu klettern, um meine Eltern noch einmal zu sehen.
» Mmh?«, fragte er und sah mich erst fragend an, bis er endlich begriff.» Oh, ja... Das sage ich dir dann im Park.«
» Im Park? Aber was wollen wir denn im Park?«, erwiderte ich verwirrt.
Er schüttelte nur den Kopf und starrte weiter in die Dunkelheit. Da er offensichtlich sehr in Gedanken war, wollte ich ihn nicht stören. So setzte ich mich neben ihn und ließ ebenfalls meine Gedanken schweifen.


© Fantasiegeschichte


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