Die zweite Sonne


Nun sitze ich also hier ... sehe ihr in die Augen. Wer sie ist? Sie ist einfach alles für mich. Doch lassen Sie mich von Anfang an erzählen, warum ich hier sitze ... und ihr in die Augen sehe. Es war Samstag Vormittag, als wir den Entschluss fassten, uns einen Platz zu suchen um ungestört zu sein.
Ich kenne sie inzwischen recht lang ... wir gehen schließlich zur selben Schule. Wir stellten schnell fest, dass wir viele Gemeinsamkeiten hatten. Wir hören die gleiche Musik, lesen dieselben Bücher und mögen die selben Lehrer. So eigenartig es auch klingen mag, sie ist ein Mädchen, mit dem man über alles reden kann. Es wird nie langweilig. Und sie ist keines der Mädchen, die darauf anspielten, dass man ihnen Komplimente machte.
"Ich glaub ich muss abnehmen!", oder so etwas wie: "Irgendwie fühle ich mich zu dick!" Es nervt, wenn Mädchen darauf anspielen und verlangen, dass man ihnen sagt wie toll sie doch aussehen.
"Nein, du siehst toll aus, wirklich!"
"Ach was, du bist wundervoll und ich liebe dich so wie du bist!"
Ich mochte diese Art noch nie, doch sie ist anders. Klar mag sie es auch, wenn man ihr Komplimente macht, ich meine, welches Mädchen würde das nicht mögen? Aber bei ihr kann man wirklich sagen was man denkt, ohne das ganze Süßholzraspeln und `Honig um den Mund` schmieren. Doch sie sieht wirklich gut aus. Ihr Gesicht, ihre schulterlangen Haare, eigentlich ihre ganze Figur. Alles an ihr ist perfekt. Wie auch ihr Charakter. Sie hat viel Humor, ist klug und immer ehrlich. Gerade auf die Ehrlichkeit lege ich besonderen Wert. Nichts ist schlimmer, als von den Menschen, die einem nahestehen, belogen zu werden. Doch leider hatte ich auch damit Erfahrungen ... aber egal, ich schweife wiedermal ab. Das soll nicht das Problem sein, denn ich habe viel Zeit ... aber trotzdem.
Ich möchte wieder beim Samstag Vormittag einsetzen. Wissen Sie, wir lesen momentan gemeinsam ein Buch, nicht nur dasselbe Buch, sondern wirklich auch aus einem Buch. Um der Frage vorzukommen, ob wir eine Beziehung haben, kann ich nur sagen 'Nein', auch wenn ich es mir wünschen würde.
"Ich liebe sie!"
Die Worte kommen mir plötzlich einfach so in den Sinn.
Vielleicht liegt es auch daran, dass ich ihr während all meiner Überlegungen tief in die Augen sehe.
Doch egal warum die Worte in meinem Kopf rumspucken ... sie sind nun einmal wahr.
Mist, ich schweife schon wieder ab.
Doch egal ... was macht das schon ... ich denke gerne über sie nach.
Jedenfalls ist da dieses Buch. Wie war noch gleich der Titel? Ach ja, `Kim Schepper - Die Kinder von Marubor` heißt der Roman. Es gefiel uns bisher sehr gut. Wir lesen uns meist gegenseitig daraus vor. Die Emotionalität und der Realitätsbezug waren verblüffend und rührten tief in den Gedanken des Lesers. Was das angeht hat der Autor ... Wie heißt er noch gleich? ... es will mir grade nicht einfallen ... egal, jedenfalls ein super Buch. Wir hatten uns vorgenommen, an diesem Samstag in den Park zu gehen. Der wolkenfreie Himmel versprach einen angenehmen Tag. Dort wollten wir gemeinsam lesen und unsere Zeit verbringen. Ich machte mir immer noch Hoffnung, dass mehr passieren könnte.
Am ehesten werden sie wohl verstehen was ich meine, wenn ich es ihnen von dem Zeitpunkt an erzähle, wo ich mit ihr aufgebrochen bin.




11.00 Uhr am Samstag:
"Willst du noch etwas mitnehmen?"
Ich genoss jede Sekunde, in der ich ihre Stimme hören konnte. Sie war bereits bereit aufzubrechen, während ich mir noch die Schuhe schnürte.
"Falls du noch einen Moment auf mich warten würdest", sagte ich und grinste sie an. Sie hatte nichts bei sich, keinen Rucksack oder eine Tasche oder sowas. Nicht wie die Mädchen, die sich ohne ihre Schminktäschchen nirgendwo hinbewegen wollten. Von der Kommode nahm sie das Buch in die Hand. Endlich hatte ich mir die Schuhe fertig gebunden und lief schnell in die Küche. Ich hatte bereits gestern Abend, als wir uns verabredet haben, einen Rucksack mit ein paar belegten Broten, Obst, einer großen Decke und mehreren Flaschen Wasser vorbereitet. Alles sollte perfekt werden. Ich wollte nur, dass sie sich wohl fühlte. Ich sah auf die Uhr, die über der Küchentür hing. 11.28 Uhr. Das war das letzte mal, dass ich seitdem auf eine Uhr gesehen habe, daher verlasse ich mich von nun an auf mein Zeitgefühl. Ich kam wieder in den Flur, den Rucksack auf meinem Rücken.
"Bist du jetzt vielleicht soweit?"
Ich grummelte leise, doch sie wusste genau wie ich es meinte und musste lachen. Wir konnten nicht aufeinander böse sein. Wir kannten uns zu gut. Ich stimmte in ihr Lachen mit ein und öffnete ihr die Haustür. Immer noch lachend verließen wir das Haus.


12.00 Uhr am Samstag - Mittag:
Wir waren schon länger unterwegs, doch das machte gar nichts. Genauer gesagt gefiel es mir sogar. Es würde noch etwas dauern, bis wir den Park erreichten, doch wieso sollten wir uns beeilen? Wir schlenderten nebeneinander her und unterhielten uns über die Schule. Bald mussten wir unsere Leistungskurse wählen, wobei wir hier wohl nicht dieselben nehmen würden. Warum auch? Denken Sie bitte nicht, das hier wäre sowas wie kitschiger Film. Klar haben wir auch mal unterschiedliche Meinungen, doch das stört uns nicht wirklich. Wir respektieren den anderen und auch dessen Meinung. Wenn man das so hört, denkt man bestimmt wir wären das perfekte Paar ... ... das denke ich ehrlich gesagt auch.
'In der Ruhe liegt die Kraft!'
Das Lebensmotto meiner verstorbenen Urgroßmutter schwebte mir durch den Kopf, also warum etwas überstürzen?
Nachdem wir mit dem Thema Schule fertig waren, liefen wir schweigend nebeneinander her.
"Hättest du etwas dagegen, wenn du schon mal mit lesen anfängst?", fragte ich sie schließlich. Sie sah mich empört an.
"Hat man dir nicht beigebracht, dass man nicht liest, während man durch die Stadt läuft?" Ich zog meine Augenbrauen hoch. Sie musste kichern.
"Und wenn ich vor einen Baum oder sowas laufe?"
"Keine Sorge ... ich pass schon auf, dass dir nichts passiert.", sagte ich und sah sie ernst an. Sie lächelte und schlug das Buch auf. Ich achtete sorgsam darauf, dass sie nicht vom Fußgängerweg wich und lauschte dabei ihrer Stimme.



13.30 Uhr am Samstag - noch Mittag:
Sie schlug das Buch zu und sah mich an. Der weiße Zettel, den sie als Lesezeichen ins Buch gelegt hatte, schaute oben heraus.
"Ich glaube wir hätten noch ein Buch mitnehmen sollen."
Ich sah sie an und wir lächelten. Wir lasen wirklich viel. Ich hatte ihr aufmerksam zugehört und sie nicht ein einziges mal unterbrochen. Sie hatte Recht, dass Buch hatte nicht mehr allzu viele Kapitel.
"Mach dir darüber mal keine Gedanken, ich habe an alles gedacht!"
Ich zwinkerte ihr geheimnisvoll zu. Sie legte ihren Kopf schief, doch mehr würde ich ihr noch nicht verraten. Ich sah stur nach vorne und versuchte mir nichts anmerken zu lassen, wusste aber genau, dass sie mich von der Seite noch immer beobachtete. Ich habe heute morgen nach dem Duschen absichtlich darauf geachtet, dass meine Haare gut lagen und habe mein bestes T-Shirt angezogen. Den Rucksack trug ich lässig über meine rechte Schulter geworfen. Ich habe wirklich alles darangesetzt, um ihr zu gefallen. Schließlich drehte ich mich doch zu ihr um.
"Was ist?"
"Ach weißt du, du siehst heute wirklich gut aus, hast du irgendwas an dir verändert?" Ich schüttelte lächelnd den Kopf.
"Nein, ich bin einfach nur froh den heutigen Tag mit dir zu verbringen! Du siehst übrigens auch sehr gut aus.", sagte ich ihr. "Wie immer eigentlich.", fügte ich noch hinzu. Sie lachte. Wusste sie vielleicht nicht wie ernst ich meine Worte meinte?
"Ich danke dir.", sagte sie und fiel mir um den Hals, sodass der Rucksack beinah zu Boden fiel. Nun stimmte ich wieder einmal in ihr Lachen mit ein. Sie wusste genau wie ich meine Worte meinte ... eben auch wie immer.



14.00 Uhr am Samstag - fast schon Nachmittag:
Wir hatten den Park erreicht. Es waren nicht viele Leute hier. Manche Eltern nutzten das gute Wetter, um mit ihren Kindern zu spielen, andere besuchten Samstags wohl eher ihre Familien oder mussten sogar noch arbeiten.
Wir suchten uns einen Hügel auf dem keine Bäume standen. Erstens brauchten wir keinen Schatten, denn so heiß war es nun auch wieder nicht. Zweitens lagen keine Nüsse, Äpfel oder sonstiges auf der Wiese. Und dann war da natürlich noch der Sonnenschein. Ich holte die Decke aus meinem Rucksack und bereitete sie aus. Wie ließen uns nieder und ich reichte ihr eine Flasche mit Mineralwasser. Sie schenkte mir eines ihrer Lächeln, bei dem ich wie immer Schmetterlinge im Bauch bekam. Das Wasser war trotz den angenehmen Temperaturen noch erstaunlich kühl.
"Danke sehr. Darf ich vielleicht sehen, was du sonst noch so dabei hast?"
Ich verstaute die Flasche wieder im Rucksack und schloss schnell wieder den Reißverschluss. Sie machte einen Schmollmund.
"Nicht traurig sein, doch noch behalt ich es eben für mich!"
Ich zwinkerte ihr wieder zu. Sie sah mich skeptisch an, doch ich wusste, dass sie Überraschungen mochte und weder schmollte, noch böse auf mich war oder sonstiges. Sie legte sich auf den Rücken und ich nahm den Roman in die Hand. Ich schlug ihn an der markierten Stelle auf, machte es mir gemütlich und begann, ihr aus dem Buch vorzulesen. Sie rührte sich nicht und lauschte entspannt meiner Stimme. Ich genoss ihre Aufmerksamkeit.



16.00 Uhr am Samstag - Nachmittag:
Ich atmete tief durch. Noch zwei, höchstens drei Kapitel, dann wäre das Buch zu Ende. Sie sah mich an, die Tränen standen ihr noch in den Augen, weil im letzten Kapitel eine Mutter ihren totgeglaubten Sohn wiedergesehen hatte. Es war wirklich eine tolle Szene. Sie lächelte wischte sich verlegen die Tränen aus den Augen.
"Schön nicht wahr?", fragte ich. Sie nickte nur und schluchzte leise. Ich gab ihr aus dem Rucksack eine Packung Taschentücher. Sie schien sich gefasst zu haben und nahm das Buch an sich.
"Ich übernehm den Rest!"
"Da habe ich kein Problem mit. Ich höre dir gerne zu.", sagte ich. Ich hätte zu gerne ihren Gesichtsausdruck gesehen, hing jedoch mit dem Kopf im Rucksack. Sie ging nicht weiter auf meine Worte ein, sondern linste über meine Schulter.
"Du kannst ruhig gucken. Die Überraschung ist noch nicht dran. Ich suche gerade einen kleinen Snack, denn so langsam bekomme ich ein bisschen Hunger."
Ich steckte mir einen Apfel zwischen die Zähne und fand auch bald den zweiten, den ich ihr dann gab. Wir aßen und warfen die Reste so weit wir konnten in Richtung eines Blumenbeetes. Keiner von uns traf das Ziel, doch bei Äpfeln störte uns das nicht. Schlimmer waren die `Möchtegern Coolen`, die einfach jeden Schrott am Boden liegen ließen. Wir lachten uns kaputt, da unsere Versuche der Müllentsorgung so kläglich gescheitert waren.
"Na wenn ich sowieso noch nicht erfahre, was die Überraschung ist, dann können wir das Buch jetzt ja auch zu Ende lesen."
"Wegen mir gerne.", stimmte ich ihr zu. Sie wollte gerade das Buch aufschlagen, als eine Gruppe von diesen `Möchtegern Coolen` zu uns kam. Ich schätzte sie auf unser Alter. So wie ich diese Typen kenne waren sie bestimmt nicht die klügsten. Diese Leute versuchten nur, durch ihre Überzahl Eindruck zu machen und sich so genügend Respekt zu verschaffen. Wer legte sich schon gerne allein mit einer Gruppe hohler, aber stämmiger Jugendlichen an? Je nachdem was sie wollten, würde ich es tun. Der Tag bisher war so wie er werden sollte, da sollten mir diese Idioten nicht dazwischenkommen.
Sie beachteten mich gar nicht, sondern wandten sich gleich an meine Begleitung.
"Na wen haben wir den hier? Na du hübsches Mädchen? Was machst du denn hier so allein mit solch einem Versager?"
Er machte eine kurze Bewegung mit dem Kopf in meine Richtung.
"Lasst uns in Ruhe und verpisst euch gleich wieder!"
Ich stand auf ... 1, 2, 3, 4 ... 5, zählte ich im Kopf schnell durch ... sie waren zu fünft. Doch das machte auch keinen Unterschied, wenn sie es wagen würden, ihr etwas zu tun was auch nur entfernt gegen ihren Willen sprach, konnte ich für nichts mehr garantieren. Ich war vielleicht nicht gerade der kräftigste und konnte auch kein Karate oder sonst irgendeine Kampfsportart, aber ich hatte meine eigene Technik. Ich kämpfe mit Logik statt Kraft. Ich kannte die Schwachstellen des menschlichen Körpers. Jedenfalls stellte ich mich vor sie ... ich hatte ein mulmiges Gefühl im Bauch, als diese Typen mich verwirrt ansahen ... anscheinend rechnen sie für gewöhnlich nicht mit Widerstand.
"Lass uns einfach gehen! Die Typen sind es doch nicht wert!"
Ihre Stimme klang ernst ... doch selbst wenn diese Typen eine mögliche Schlägerei nicht wert waren ... sie war es auf jedenfalls wert, zu kämpfen. "Hey du Zwerg! Was glaubst du, was du da machst? Dir sollte mal jemand die Fresse polieren, weißt du?"
Der Typ hielt sich wohl echt für den größten. Ich hörte wie seine Kumpels die Knöchel knacken ließen. Ich schluckte.
"Ohne deine Freunde wärst du doch total aufgeschmissen. Ihr haut immer mit fünf bis zehn Leuten auf einzelne Kinder und Jugendliche und fühlt euch dann ganz cool, stimmts?"
"Ich würde es auch jederzeit allein mit dir aufnehmen!", knurrte der Kerl, schien jedoch leicht verunsichert.
"Dann los, schick deine Freunde weg. Wollen doch mal sehen, was du ohne deine Freunde noch drauf hast, einverstanden?"
Ich konnte fast schon hören, wie sein Gehirn arbeitete ... es fehlten nur noch kleine Rauschwaden, die aus den Ohren aufstiegen, während er darüber nachdachte.
"Wie du willst ... nur wir zwei ... du und ich ... verstanden? Keine Waffen. Aber keine Sorge, es wird für dich nicht lang dauern."
Er hielt mir die Faust hin und entfernte sich mit seinen Kumpels etwas ... vielleicht waren sie auch nervös, weil noch keiner von ihnen jemals allein kämpfen musste. Ich sah rüber zu den Kerlen, wollte das erste mal seit langer Zeit nicht mehr in ihre Augen schauen. Ich hörte sie in meinem Kopf lachen ... ihre Stimme ... und dachte an all die Sachen, die wir zusammen unternommen haben. Doch wir sind nie mehr als Freunde gewesen ... ach warum lief mein Leben so an mir vorbei? Ich würde doch jetzt nicht sterben ... oder? Die Kerle nickten alle und der eine Typ, der sie angesprochen hatte zog sein Oberteil aus und kam allein zu mir rüber. Einige Meter entfernt von unserem Platz blieb er stehen. Ich sah seine muskelbepackten Arme und schluckte erneut ... worauf hab ich mich nur eingelassen? Ich zog mein T-Shirt aus. Ich war recht schmal und daher sah man mich meist nur lächelnd an und traute meinem Körper nicht viel zu. Ach was rede ich denn da. Ich ließ mein Oberteil einfach zu Boden fallen und ging vorsichtig auf den Kerl zu.
"Der Gewinner von uns kriegt das Weib, okay? Oder willst du mir sie gleich überlassen?"
'Wenn du sie noch einmal `Weib` nennst, dann bist du tot.'
Ich sprach meine Gedanken nicht aus.
"Willst du noch ein paar letzte Worte loswerden?"
Ich dachte nach.
"Naja, eigentlich nur, dass wenn du sie noch ein zweites mal Weib nennst, ich dich eigenhändig ins Koma befördern werde!"
Ich konnte in seinen Augen einen Funken Angst erkennen, wunderte mich sogar selbst über meinen Mut und meine ruhige, aber bedrohliche Stimme.
Plötzlich wurde mein Hals sehr trocken.
Seine Freunde beobachten ihn, dass wusste er. Sein Image stand auf dem Spiel ... wieder konnte ich hören wie sein Kopf arbeitete.
"Also wie du meinst ... denkst wohl ich hätte Schiss, wie? Na gut! Der Sieger bekommt das Weib! Was sagst du jetzt?"
Er lachte und seine Freunde jubelten ihm zu, ich war mir meiner Sache plötzlich unsicher. Was tat ich da eigentlich? Im nachhinein hätte ich die Situation doch wohl besser anders gelöst, aber naja. Ich dachte kurz nach. Ich musste eigentlich nur sein Ego niedermachen, dass war seine einzige Stärke.
Ich spürte ihren Blick in meinem Nacken. Ich wusste genau, das sie nicht wollte das ich das hier tat.
"Na dann los, du wirst schon sehen, was du davon hast!"
Ich lachte. Er wurde sicherlich noch nie bedroht. Das sah man ihm an. Nachdem er endlich begriffen hatte, was meine Worte bedeuteten, rannte er auf mich zu. Doch ich habe bereits meine Entscheidung getroffen ... ich würde nicht ohne sie den Park verlassen ... niemals.



Er holte mit der Faust aus und wollte mir offenbar direkt mitten ins Gesicht schlagen ... wie dumm von ihm. Ich war zwar kleiner als er, dafür jedoch auch sehr viel schneller. Kurz bevor er mich erreicht hatte, ging ich in die Hocke und rammte ihm meine Schulter in die Magengegend.
Er hustete und starrte mich verwirrt an ... wie konnte ein Zwerg wie ich ihm Schmerzen bereiten? Ich konnte ihr kurz ins Gesicht sehen, doch sie zeigte keine Reaktion. Was hatte sie? Sie sah nur bei dem zu, was ich und der andere Kerl taten ... doch was taten wir hier eigentlich? Wir hätten auch einfach gehen können, oder zumindest vernünftig reden ... ich wusste, dass sie die Art von den meisten Jungen, ihre Konflikte mit Gewalt zu lösen, missachtete. Aber nun war es für solche Überlegungen zu spät.
"Komm her und bezahl, du kleiner Scheißkerl..."
Ich hörte ihn zu spät, war zu lange damit beschäftigt, über sie nachzudenken. Er warf sich mit seinem gesamten Körper auf mich und wir stürzten zu Boden. Als ich auf der Wiese aufschlug, presste such die Luft aus meinen Lungen und ich röchelte. Er lag auf mir drauf. Ich konnte mich kaum bewegen. Ich rollte mich etwas zur Seite und ... bekam mein rechtes Bein frei. Ich stieß ihm mein Knie in seine wertvollsten Teile. Er hielt sich die Hände in den Schritt und rollte wimmernd von mir weg. Ich rollte mich ebenfalls etwas zur Seite, um eine größere Entfernung zwischen uns zu bringen. Ich stand auf und wankte noch etwas, stand dann aber recht sicher. Ich sah wie mein Gegenüber auch wieder aufstand. Er rannte erneut auf mich zu. Er holte wie vorhin mit seiner rechten Faust aus ... lernte er denn nicht dazu? Diesmal wich ich nicht aus, sondern blieb stehen wo ich war. Ich lehnte mich leicht nach vorne und bewegte meinen Kopf ruckartig zur Seite. Er schlug an meinem Gesicht vorbei, und ich nutzte seinen Schwung, leitete ihn über meine Schulter und warf den Mistkerl der Länge nach auf den Boden. Er stöhnte schmerzhaft auf, als er auf dem Rücken aufschlug. Er versuchte sich auf den Bauch zu drehen. Er wollte aufstehen, schaffte es aber nicht. Nun kniete er da und stützte sich mit den Armen vom Boden ab. Ich stellte mich vor ihn und sah auf ihn nieder. Langsam hob er den Kopf und sah mich verängstigt an. In solch einer Situation war er bestimmt nicht allzu oft, ich natürlich genauso selten in meiner, aber das ist momentan nicht wichtig.
"Waffenstillstand?", fragte er. Ich glaubte ihm kein Wort. Solche Typen geben nicht einfach so auf. Mühsam stand er auf ... ... ... und schlug mir in den Magen. Der Schmerz kam viel zu schnell. Ich bekam noch mit wie er davonrennen wollte. Stellte ihm jedoch ein Bein und wieder fielen wir beide auf den Boden. Mein Kopf schlug hart auf und nach seinem Wimmern zu urteilen erging es ihm bei seiner Bruchlandung nicht besser. Ich stöhnte. Langsam ließ der Schmerz nach. Ich kam auf die Beine und humpelte zu ihm rüber. Ich schmeckte Blut in meinem Mund. Ich wollte mir nichts vor ihr anmerken lassen, also schluckte ich einfach ... ... das machte mir zu dem Zeitpunkt auch nichts mehr aus. Der Typ lag auf dem Bauch und ich ging neben ihm in die Hocke. Ich stützte meinen Arm auf seinen Rücken, um ihn am aufstehen zu hindern.
"Was bitteschön sollte das denn eben werden?"
"Ich werde dich umbringen, du kleines Stück ..." Ich drückte ihn weiter in den Rasen, sein Gesicht lag in dem Grün und er konnte nicht sprechen, ohne den Mund voller Gras zu bekommen.
"Wie war das? Hat dir denn keiner beigebracht, das man nicht so viel fluchen soll? Ich mach dir einen Vorschlag. Du verschwindest jetzt ganz schnell und wirst in nächster Zeit etwas braver sein, sonst bist du nämlich so gut wie tot. Und glaub mir, ich finde das schon raus. Dafür wäre es wohl das Beste, wenn du deine Gruppe dahinten erst einmal nach Hause schickst."
Ich sah die anderen Kerle an, die angestrengt miteinander flüsterten.
Sie sahen das ihre Chancen nicht sonderlich gut standen. Als sie bemerkten das ich sie beobachtete, ergriffen sie einfach die Flucht.
"Also, deine ach so mutigen Kumpels sind jetzt alle weg ... es wird dir also keiner zu Hilfe kommen. Also was ist nun?" Sein Körper zuckte und er versuchte sich zu befreien. Er murmelte etwas und ich ließ ihm etwas Platz um seinen Kopf anzuheben.
"Wie auch immer, du hast gewonnen. Kannst das Weib haben, aber lass mich endlich los du Penner."
Ich ließ ihn los. Er würde mich nicht wieder angreifen, nicht wenn ihm notfalls niemand zur Hilfe kommen konnte. Er stand auf und sah sich nach seinen Kumpels um, von denen bereits jede Spur fehlte. Ich stellte mich hinter ihn.
"Wenn ich noch einmal mitbekommen sollte, dass du ein Mädchen Weib nennst, oder mit deinen Freunden auf andere grundlos einschlägst, werde ich nicht mehr so nett zu dir sein!"
"Klappe! Arschloch!" Noch bevor ich ihm etwas sagen konnte, humpelte er so schnell er konnte davon. Ich musste wieder Blut schlucken, dann ging ich zu ihr und legte mich auf die Decke. Ich schwitzte noch von dem Kampf, wollte aber nichts trinken. Sie sagte immer noch nichts. Ich habe sie seitdem der Kerl verschwunden war nicht angesehen, warum weiß ich nicht. Ich hatte mich einfach auf den Rücken gelegt und die Augen geschlossen. Sie beobachtete mich ... ich spürte ihren Blick auf mir. Ich hatte mein T-Shirt unter meinem Kopf liegen, mir war sowieso zu warm. Sie sagte nichts. Ich lauschte um zu hören was sie tat. Sie nahm sich das Buch und begann, die letzten Kapitel vorzulesen. Ich fragte mich, was sie sich dabei dachte. Wollte sie etwa so tun, als wäre nichts gewesen? Ich schluckte wieder Blut. Ich verlagerte etwas mein Gewicht, bereute es aber sofort, weil mir ein scharfer Schmerz durch den Körper fuhr. Ich ertrug die Schmerzen einfach ... doch wieso sagte sie nichts dazu? Ich hatte es schließlich für sie getan. Ob sie das wusste weiß ich nicht, aber irgendeine Reaktion wäre ein Anfang gewesen, aber drängen wollte ich sie auch nicht. Es war eines der wenigen Male, wo ich nicht schlau aus ihrem Verhalten wurde. Ich wollte den Kopf schütteln, ließ es aber besser. Ich begann wieder ihrer Stimme zu lauschen.



17.30 Uhr am Samstag - später Nachmittag:
Ich habe zwar das Gefühl, dass es später sein musste, doch durch den Kampf ist mein Zeitgefühl vermutlich komplett durcheinander geraten. Was solls. Der Roman war zu Ende. Sie hatte das Buch zugeschlagen und seitdem geschwiegen ... warum auch immer. Normalerweise sprachen wir nach einem Buch mehrere Stunden über das Ende, eine mögliche Fortsetzung und vieles mehr ... doch wir schwiegen ... nun schon einige Zeit. Ich setzte mich auf und bemerkte jetzt erst die Schrammen, das Gras und die Erde an meinem Körper und wischte mich grob sauber. Ich habe ihr bisher immer noch nicht wieder in die Augen gesehen ... Wieso eigentlich? Hatte ich Angst? Ich griff nach dem Rucksack und öffnete ihn. Ich zog ein neues Buch hervor. Der Transport hatte den Einband nicht beschädigt. Es war nicht irgendein Buch. Es war von dem gleichen Autor wie der Roman, den wir soeben beendet haben. Ich sah auf das glänzende Titelbild. `Cryptanus ? Der Geruch des Todes` stand darauf ... dann sah ich auf den Namen des Autors: Wolfgang Brunner. Wir kannten bis jetzt erst das eine Buch von ihm, `Kim Schepper - Die Kinder von Marubor`, doch seine Art zu schreiben faszinierte uns beide. Ich wusste dass sie sich freuen würde und reichte ihr den neuen Roman. Sie nahm ihn an sich und schenkte mir ein Lächeln. Ich lächelte zurück und wir sahen uns in die Augen. Ich setzte mich ihr gegenüber. Sie setzte sich ebenfalls vor mich, legte die beiden Bücher zwischen uns und ... schwieg. Ich wollte ihr kein Gespräch aufdrängen, wieso auch? Sie war hier und wir hatten Zeit, so konnte es meinetwegen bleiben, also sahen wir uns nur an ... und sahen uns weiter an ... und weiter.



20.00 Uhr am Samstag - fast Sonnenuntergang:
Deshalb also sitze ich hier ... und sehe ihr noch immer in die Augen. Mir kommt es vor als säßen wir hier seit Tagen, doch es stört mich nicht. Ich habe keinen Hunger, keinen Durst und auch keine Langeweile. Ich genieße es richtig, hier vor ihr zu sitzen. Hinter mir geht schon langsam die Sonne unter. Mein Schatten liegt auf der Decke und wird immer größer. Außerdem wärmt sich mein Nacken immer weiter auf. Keiner von uns hat sich seit dem Moment bewegt, in dem sie die Bücher zwischen uns gelegt hat. Jedenfalls sitze ich nun hier und habe mir mehrmals durch den Kopf gehen lassen, wie es dazu kam. Ob ich etwas bereue? Ganz sicher nicht. Wenn dieser Mistkerl jetzt mit seinen Freunden zurückkommen würde ... soll er doch ... ich würde für sie das alles noch einmal auf mich nehmen.

IMMER UND IMMER WIEDER.

JEDERZEIT.










21.30 am Samstag - Sonnenuntergang:
Es ist wundervoll. Ich sitze hier und schaue noch immer in ihre Augen. Wie lange jetzt schon? 3 Stunden, 4 Stunden, den ganzen Tag? Ich weiß es nicht. Es macht auch keinen Unterschied. Die Sonne steht genau hinter mir. Ich blinzle einmal. Ich habe solange in ihre braunen Augen gesehen, in denen sich plötzlich die Sonne spiegelt. Ihre Augen erstrahlen hell und voller Licht. Es ist traumhaft ... wie eine zweite Sonne ... meine Sonne ... soll ich ihr das sagen? Sie wird mich für kitschig halten, wenn ich ihr sage was ich gerade denke, doch was soll ich sonst tun?
Mein Mund fühlt sich taub an und ich schmecke getrocknetes Blut. Ein Versuch jetzt zu reden könnte ohne weiteres nach hinten losgehen. Hmm ... ich wollte immer mehr als nur ihr Kumpel sein, mehr als nur ein gewöhnlicher Freund. Dann öffnen sich plötzlich ihre Lippen.
"So etwas hat noch nie jemand für mich getan."
Was meint sie? Spricht sie von dem Vorfall mit dem anderen Typen? Oder von dem Buch? Keine Ahnung, besser ich fange langsam an.
"Wenn du das Buch meinst, dass ist doch wirklich nicht..."
Sie lässt mich nicht aussprechen.
"Ach was, lenk nicht ab. Du weißt was ich meine. Wir hätten auch einfach gehen können, dann hättest du dich nicht so zurichten lassen müssen."
Was soll ich darauf erwidern? Meine Gefühle? Ich will sie keinesfalls als Freundin verlieren, das ist mir das Risiko nicht wert.
"Naja, weißt du, ich könnte es mir einfach nicht verzeihen, wenn dir etwas zustoßen würde..."
Sie lächelt mich an. Die Sonne scheint noch immer in ihren Augen. Ich für meinen Teil bin schon froh, dass meine Stimme okay ist. Soll ich ihr noch mehr über meine Gefühle sagen? Das scheint ja wohl der richtige Augenblick zu sein. Ich lehne mich leicht nach vorne. Mein Rücken schmerzt und ich habe das Gefühl, er würde aufreißen. Sie hat Tränen in den Augen. Die Sonne ist bereits untergegangen, doch ihre Augen leuchteten noch immer ... sie ist meine Sonne. Und sie würde nie untergehen. Und das soll sie wissen.
"Ich liebe dich."
Sie lächelt. Das ist gut. Oder? Sie sagt nichts ... muss ich mir Sorgen machen? Hat sie mich überhaupt verstanden?
"Ich dich auch."
Sie nähert sich meinem Gesicht ... Ich sehe ihr tiefer als je zuvor in die Augen ... spüre ihre Liebe ... meine Sonne ... und dann küsst sie mich.




Was der Sonnenschein für die Natur ist, bedeutet für einen selbst das Lachen einer Person, die man mag.
- Philipp Gallus


© Philipp Gallus


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Kommentare zu "Die zweite Sonne"

Re: Die zweite Sonne

Autor: FrankOlafPaucker   Datum: 22.03.2011 8:54 Uhr

Kommentar: Hat mir wirklich gut gefallen. Erinnerte mich auch ein bisschen an meine ach so fern liegende Jugend. Frank

Re: Die zweite Sonne

Autor: Philipp Hegmann   Datum: 22.03.2011 14:52 Uhr

Kommentar: Ich danke dir =)

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