Dann kamen sie in Deutschland an, dem Land ihrer Vorfahren. Sie waren schockiert vom Ausmaß der Zerstörung, vom Bild, das sich von ihrem "Gelobten Land" darbot.
Alliierte Truppen wiesen den Flüchtlingen ihre neue Heimat zu. Das Mädchen, das auf der Flucht ihren 14. ten Geburtstag "feierte", verschlug es samt ihrer ganzen Sippschaft ins Remstal in der Nähe von Stuttgart. Die Nazis hatten glücklicherweise ihre Herrschaft verloren, und obwohl Deutschland noch nicht offiziell kapituliert hatte, war das Land bereits besetzt und die hohen Herren der Naziführung saßen in Hitlers Kehlsteinhaus und warteten auf ihr nahes Ende.
Am 9. Mai 1945 brach der ersehnte neue Morgen schließlich an. Der zweite Weltkrieg war vorbei, jedoch konnte die aufgehende Sonne längst nicht alle Schatten vertreiben. Sie beschien ein zerstörtes Land, von Hunger und Elend gebeutelt, das Ende des Krieges war überschattet von hungernden Menschen, die in den Trümmern nach Spuren ihrer vermutlich verblichenen Angehörigen suchten.
Die Flüchtlinge, die eigentlich in ihrer neuen Heimat angekommen waren, flüchteten weiter, diesmal in ihre Arbeit, die sie von den kommunalen Führern zugewiesen bekamen.
Das Mädchen, bzw. die junge Frau, die sie mittlerweile war, arbeitete in einem Krankenhaus. Sie war glücklich darüber, nicht wegen dem Geld, das sie dort verdiente, sondern hauptsächlich, weil sie viele Essensreste aus der Großküche dort mit nach Hause nehmen und damit ihre ganze Familie ernähren konnte.
Die Frau kam für einen Augenblick in die Gegenwart zurück und dachte daran, dass natürlich auch die jungen Leute von Heute noch wissen, dass man Geld nicht essen kann, aber das sind leere Phrasen, gedroschen von permanent überfressenen Esoterikern, die keine Ahnung haben, was Hunger ist und die diese Phrasen letztendlich doch wieder dafür missbrauchen, ihr geliebtes Geld zu verdienen.
Sie aber hatte eine Zeit erlebt, in der wirklich niemand so blöd gewesen wäre, einen Laib Brot gegen ein Stück bedrucktes Papier einzutauschen.
Drei Jahre, nachdem sie ankamen, starb ihr Vater, - weil er, wie man sich erzählte, ein kaltes Bier an einem heissen Sommertag zu schnell getrunken hatte. - Oder, weil er nicht leben wollte in diesem zerstörten Land, in dem keiner seinen Namen kannte. Er war ein Donauschwabe, ein Kind der Theiss und der Drawa und der Bega, der Flüsse, die seine Ländereien bewässerten, ein in den fruchtbaren Niederungen des Banats verwurzelter Großgrundbesitzer, der im Alter von 57 Jahren nicht mehr zu verpflanzen war. Ein gebrochener Vater, der nie seinen von Gräbern gepflasterten Weg vergessen würde, in dem auch zwei seiner Kinder lagen. Der keine Kraft mehr hatte, hier noch einmal neu anzufangen. Das würde er seiner überaus starken Tochter überlassen, die er zu dem Sohn erzogen hatte, der ihm leider versagt blieb. Ihr traute er zu, dass sie ihre Mutter, ihre einzig verbliebene Schwester sowie all die anderen Verwandten in eine bessere Zukunft führen konnte.
Tatsächlich hing das Schicksal der Familie an den Geschicken der jungen Frau. Ihre Mutter war eine ungarische Bauernmagd, aufgewachsen in der Wildnis der Puszta, konnte sie zwar das wildeste Pferd ohne Sattel und Zaumzeug reiten oder ein Feuer ohne Feuerzeug oder Streichhölzer entzünden, aber sie hatte niemals lesen oder schreiben gelernt und hatte ihre liebe Not mit der deutschen Sprache.
Alles hing an ihr, sie war sich niemals darüber bewusst, dass sie hoffnungslos überfordert war und so zog ihre Jugend davon.
Sie heiratete, brachte vier Kinder zur Welt, baute mit ihrem Mann zusammen ein Haus am Bodensee, weil es in der Gegend von Stuttgart keine Bauplätze mehr gab.
Sie war meistens zufrieden, jedoch niemals glücklich.
Nie hatte sie Zeit für ihr eigenes Leben, immer war sie nur für andere da.
Einmal träumte sie, ihre Kinder würden sie fragen, was sie ihnen für ihr Leben wünschen würde.
Sie antwortete: "Ihr sollt die Welt nie durch meine Augen sehen müssen, ihr sollt niemals sehen müssen, was ich gesehen habe!"
Aber sie konnte es natürlich nicht verhindern.
Ihre Ängste flossen in die Erziehung ihrer Kinder mit ein. Ohne dass es ihr bewusst war, sorgte sie dafür, dass die Geister der Vergangenheit die Macht über ihre Kinder gewannen. Diese wussten natürlich nicht, woher diese Ängste und diese Bedrohung, tief in ihren Seelen verwurzelt, überhaupt stammten. So konnten die Geister ihr Unwesen treiben, ohne erkannt und erfasst zu werden, denn die Kinder hatten die Ängste ihrer Eltern vermittelt bekommen, ohne die schrecklichen Ereignisse erlebt zu haben. Somit hatten sie keinen Bezug zu ihren eigenen Ängsten!
Es fing an mit ihrem ältesten Sohn. Im blühenden Alter von 43 Jahren starb er im Jahr 1993 durch eigene Hand. Ihr war gar nicht aufgefallen, wie er immer schwermütiger wurde. Sie selbst wusste nicht, was Schwermut ist. Für so etwas hatte sie nie Zeit. Doch jetzt hatten die Geister der Vergangenheit sich ihr erstgeborenes Kind geholt....
Zwei Jahre später starb ihre Mutter, allerdings im gesegneten Alter von 84 Jahren. Sie verstarb, in ihrem Sessel sitzend, Ihren zweijährigen Urenkel auf dem Schoss, der sich wunderte, dass seine Uroma plötzlich so ruhig geworden war.
Vier Jahre später folgte ihr Mann. Im nicht gerade biblischen alter von 73 Jahren verstarb er am Asthma, das ihn seit seiner Flucht aus dem serbischen Kriegsgefangenenlager quälte. Damals musste er als 17 jähriger die eiskalte Theiss durchschwimmen, um den serbischen Partisanen zu entgehen.
An allem Elend war dieser verdammte Krieg schuld. Niemals würde er sie aus seinen Klauen entlassen. Manchmal hatte sie sich den neuen Morgen anders vorgestellt...
Der Film der Zeit lief um so schneller an ihrem geistigen Auge vorbei, je näher sie der Gegenwart kam. Vor vielen Jahren erkrankte ihre Tochter, deren Leben allerdings durch eine Herztransplantation gerettet werden konnte. Den Geistern der Vergangenheit konnte in diesem Fall keine Schuld nachgewiesen werden.
Als sie sich selbst plötzlich wieder beten, weinen und fluchen hörte, war ihr klar, dass sie wieder in dieser Zeit angekommen war, in der Gegenwart, in die sie nicht mehr passte.
Dieses beginnende dritte Jahrtausend war nichts mehr für sie, nicht mehr ihre Zeit.
Ihre Zeit, das war ein anderes Jahrhundert in einem anderen Land, mit anderen Ängsten und Nöten, mit anderen Wertvorstellungen, mit anderen Hoffnungen.
Ihre Zeit war einfach verstrichen, hatte alles, was ihr lieb und teuer war, mit sich genommen, - und hatte sie als einzige zurück gelassen.


© Fone


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Ende

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Kommentare zu "Die Geister der Vergangenheit 4"

Re: Die Geister der Vergangenheit 4

Autor: Uwe   Datum: 24.11.2014 0:02 Uhr

Kommentar: Oh Fone...

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