2. Der Unfall

Es tat gut in der Stille der Nacht zu sitzen und nur dem Rauschen des Windes zu lauschen, der einem durch die Haare blies. Am liebsten wäre ich die ganze Nacht auf dem Dach sitzen geblieben, nur um meinen eigenen Gedanken nachzuhängen, aber nach einer guten halben Stunde, bestand Tim darauf aufzubrechen.
» Wir müssen langsam los«, flüsterte er und nahm meine Hand.» Schließlich haben wir noch was vor.«
Da ich endlich seinen Plan hören wollte, folgte ich ihm. Wir rannten mit hoher Geschwindigkeit durch die Straßen; es fühlte sich an, als würde ich fliegen, da meine Füße nur ab und zu den Boden berührten. Kein Mensch begegnete uns; erst als wir am Park ankamen, sahen wir noch ein paar Passanten, die noch in letzter Minute ihre Einkäufe erledigten, da sie bis spät abends noch auf der Arbeit gewesen waren.
Ich folgte Tim zu einer der Parkbanken, aber er steuerte auf einen kleinen, düster wirkenden Laden zu, der, wie es aussah, Scherzartikel verkaufte. Er blieb zwischen den Büschen versteckt stehen und nach kurzer Gedenkzeit, ließ er sich auf dem Boden nieder, beobachtete jedoch die ganze Zeit das Geschäft.
» Und? Was hast du jetzt vor?«, durchbrach ich schließlich die Stille.
» Es wird an der Zeit, dass ich dir den Plan erkläre«, sagte Tim und endlich sah er mich an.» Aber..., ich habe Angst, dass er dir nicht gefällt.«
In seinem Gesicht spiegelte sich Sorge wider.
» Du hast gesagt, dass Vertrauen wichtig ist«, begann ich langsam.» Was immer du für eine Idee hast, ich werde mit ihr einverstanden sein, ganz egal wie haarsträubend sie auch sein mag. Ich vertraue dir und wenn du meinst, dass das, was du mir sagst nötig ist, dann werde ich mich an dein Wort halten.«
Er betrachtete mich genau, als würde er befürchten, dass ich meine Meinung noch ändern würde; da er aber keinen Widerspruch in meinem Blick wahrnahm, fuhr er schließlich fort.
» OK... Also du hast dich sicher gefragt, warum du dir noch einen Rucksack mitnehmen solltest?«, fing er an und ich nickte, da ich ihn nicht unterbrechen wollte.» Ich hatte da die Idee, dass wir einen Unfall inszenieren, während du auf dem Weg zur Schule bist. Ich dachte da an einen Autounfall.« Er setzte das Wort in Anführungszeichen.» Deshalb sitzen wir hier vor dem Laden. Ich will etwas Kunstblut besorgen, damit der Unfall auch echt aussieht.«
Jetzt hatte ich doch etwas einzuwenden.» Aber... werden die Ärzte nicht merken, dass das kein echtes Blut ist? Ich meine, die sind ja nicht blöd und können das sicher von echtem Blut unterscheiden.«
» Kunstblut ist vom Aussehen her sehr schwer von echtem Blut zu unterscheiden«, erklärte er langsam.» Nur wenn sie es untersuchen, würden sie merken, dass das Blut nicht echt ist. Wenn sie dich jedoch auf der Straße untersuchen und deinen Puls fühlen, der nicht mehr existiert, dann werden sie sich die Nachforschungen ersparen. Das habe ich schon oft im Fernsehen gesehen«, warf er ein, da ich ihn ungläubig angeschaut hatte.» Außerdem war ich schon einmal an einer Unfallstelle dabei. Das ist jetzt zwar schon ein paar Jahre her, aber ich weiß noch ganz genau, wie das da ablief. Sie haben die Verletzten untersucht und die Menschen, die noch zu retten waren, haben sie ins Krankenhaus bringen lassen, aber das erste, was sie taten, wenn sie an eine Unfallstelle kamen, war, dass sie überprüften, ob die Person noch am Leben war. War dies der Fall, behandelten sie ihn und wenn nicht, dann schafften sie sie sofort ins Leichenhaus, wo der Tote gewaschen wurde, damit die Angehörigen Abschied nehmen konnten. Deshalb«, schloss er,» bin ich der Meinung, dass sie dich nicht erst untersuchen werden, wenn der Arzt feststellen muss, dass du tot bist.«
Ich fand es hilfreich, dass er so viel darüber wusste, daher sah ich keinen Grund, ihm nicht zu vertrauen.
» Wie genau hast du dir den Ablauf des Unfalls denn vorgestellt?«, fuhr ich fort.» Soll ich einfach auf die Straße rennen und auf gut Glück hoffen, dass mich ein Auto anfährt?«
Er schüttelte ungläubig den Kopf.
» Nein, natürlich nicht«, sagte er und grinste.» Ich werde schon dafür sorgen, dass ein paar Autos zusammenprallen. Du musst blos auf die Straße laufen und dich hinlegen. Am besten noch vor Zeugen.«
Ich dachte über seine Worte nach. Auf gar keinen Fall wollte ich, dass andere unschuldige Menschen in Mitleidenschaft gezogen wurden, nur damit mein Leben etwas leichter ablief. Tim schien zu spüren, dass mich etwas beunruhigte und sagte:» Ich werde natürlich dafür sorgen, dass den anderen Menschen nichts passiert.«
» Wenn du mir das versprichst, dann habe ich an deinem Plan nichts weiter auszusetzen«, sagte ich.» Aber, wenn du es erlaubst. Ich habe da noch eine Idee.«
Verblüfft sah er mich an.» Natürlich, nur zu.«
» Du sagtest doch, vor Zeugen«, erinnerte ich ihn.
Er nickte.» Ja, das wäre das Beste, aber worauf willst du hinaus?«
» Was wäre, wenn einer der Zeugen meine beste Freundin ist?«, fuhr ich fort.» Wir laufen schließlich jeden Tag gemeinsam zur Schule und wenn sie mich sieht, wie ich auf der Straße angefahren werde, dann... wäre es noch glaubwürdiger.«
Er dachte eine Weile über meinen Vorschlag nach.» Das ist eine sehr gute Idee. Wir müssen aber wissen, um welche Uhrzeit sie ungefähr hier auftauchen würde.«
Mein Magen zog sich zusammen, als er das sagte.
» Wir können das doch gar nicht so machen, dass mir auf dem Weg zur Schule etwas passiert«, sagte ich hastig.» Ich kann mich doch nicht in die Sonne legen. Fiona kommt ungefähr sieben Uhr vierzig hier an und da ist die Sonne schon längst aufgegangen.«
» Auch dafür habe ich schon lange eine Lösung«, warf Tim rasch ein.» Warum, denkst du, habe ich mir diese Kreuzung ausgesucht? Ersten, weil der Verkehr hier sehr dicht ist und zweitens, weil die Bäume so groß sind, dass sie den Schatten bis zur Straße werfen.«
» Genial«, entfuhr es mir unwillkürlich und ich wurde rot.
Um den peinlichen Moment zu überbrücken, sagte ich.» Ähm... und was genau passiert nachdem sie mich weggeschafft haben?«
» Sie werden dich ins Leichenhaus bringen und dann dort waschen«, sagte er, als hätte es gar keine Unterbrechung gegeben.» Morgen werden sie dann eine Trauerfeier machen, damit sich deine Freunde und Verwandte von dir verabschieden können. Sobald die Kirche leer ist, hole ich dich aus dem Sarg.«
All das klang in meinen Ohren logisch durchdacht und ich hatte keine Zweifel an seinem Plan. Das einzige, was mich etwas beunruhigte, war, dass ich ganze vierundzwanzig Stunden nichts würde trinken können und ich merkte mit Besorgnis, dass der Schmerz in meinen Zähnen allmählich zurückkehrte.
» Gehen wir vorher noch mal auf die Jagd?«, fragte ich kleinlaut.
» Natürlich, denkst du etwa, ich lasse dich auf die unschuldigen Ärzte los?«, sagte er und tat so, als würde allein die Vorstellung ihm einen furchtbaren Schrecken einjagen.
Ich lachte und schlug ihn sanft am Arm.» Hör auf dich über mich lustig zu machen.«
» Du hast recht, das ist eine ernste Sache«, sagte Tim, aber auch er musste sich das Lachen verkneifen.» Aber wir haben ja noch einen ganzen Tag Zeit und bis dahin brauchen wir uns noch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen. Sobald der Laden dort drüben zumacht«, er deutete auf die gegenüberliegende Straßenseite,» und ich etwas Blut geklaut habe, gehen wir noch mal jagen.«
Ich nickte angespannt und vertrieb mir die Zeit, indem ich die vorbeilaufenden Menschen beobachtete. Auch wenn Tim gesagt hatte, dass Vampire nicht so oft schlafen mussten wie Menschen, war ich doch ganz schön müde. Ich lehnte mich sanft an Tim und als ich merkte, dass er nichts dagegen einzuwenden hatte, ließ ich meinen Kopf auf seine Schulter nieder und schloss entspannt die Augen. Wenigstens ein paar Stunden Schlaf konnte ich gebrauchen, denn am Montag würde ich viel zu aufgeregt sein, um wirklich Ruhe zu finden.
Es war schon weit nach Mitternacht, als Tim sich zum ersten Mal regte. Er strich mir sanft übers Haar und flüsterte:» Ich komme gleich wieder. Warte hier, ja?«
Ich hob den Kopf und er stand rasch auf und flitzte auf den Laden zu, in dem er verschwand. Ein paar Minuten später kam er mit mehreren Beuteln Kunstblut zurück.
» Komm, lass uns etwas zu trinken für dich holen. Du kannst dann schlafen, sobald die Sonne aufgegangen ist«, sagte er und ich nickte müde, rieb mir die Augen und folgte ihm.
Er marschierte auf die umliegenden Felder zu, die am anderen Ende der Stadt zu finden waren und wir jagten ein paar weitere Feldhasen und auch ein verirrtes Reh. Ich musste zugeben, dass ich mich danach etwas besser fühlte, da der Schmerz in meinen Zähnen endgültig verschwunden war, auch wenn ich wusste, dass das nur vorübergehend so sein würde; aber trotzdem war ich noch hundemüde und so kehrten wir in den Park zurück, wo wir uns im Schatten der Büsche niederließen.
Erschöpft legte ich mich mit dem Rücken auf die harte Erde und betrachtete noch etwas die Sterne. Ich hatte nun sehr viel mit einem Stern gemeinsam; genau wie das Universum, in dem sie leuchteten, war mein Leben unendlich und würde niemals enden, außer ich würde Selbstmord begehen.
Seufzend drehte ich mich auf die Seite, legte meinen Kopf auf meine Arme und schlief ein. Als ich schließlich ausgeruht aufwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel und ich nahm die Geräusche von herumtobenden Kindern war, wie sie lachend über die Wiesen rannten. Ich setzte mich auf und blickte mich um. Tim lag neben mir, aber er schlief nicht, sondern lauschte. Als er merkte, dass ich wach war, setzte auch er sich auf und fragte:» Und gut geschlafen?«
Ich nickte und beschloss ihm meine Befürchtung anzuvertrauen.» Wird der Blutdurst immer so schlimm sein?« Ich sah ihn besorgt an.
» Nein, der legt sich mit der Zeit«, antwortete er.» Du bist aufgeregt, nicht wahr?«
Ich nickte wieder und ließ mein Blick durch die Parkanlage schweifen. Keines der Kinder musste sich Gedanken darüber machen, dass es seine Eltern womöglich nie wiedersehen würde. Jedes von ihnen würde noch viele wunderbare Erlebnisse mit seinen Eltern erleben und sich an ihrem Leben erfreuen können.
» Es ist schwer für dich, dein altes Leben hinter dir zu lassen«, stellte Tim fest.» Es tut mir so Leid, dass ich dir alles genommen habe, was dir wichtig gewesen war. Es ist alles meine Schuld. Ich kann verstehen, wenn du mich nach dieser Aktion nicht wieder sehen willst.«
Mit der Aktion meinte er offensichtlich den Unfall, aber trotzdem fand ich, dass er übertrieb.» Ich habe dir doch schon gesagt, dass ich nicht sauer auf dich bin«, sagte ich, aber ich merkte, dass ich nicht ganz überzeugend klang.» Wenn ich schon dieses neue Leben habe, dann möchte ich auch etwas Sinnvolles damit anfangen.«
» Und was?«, fragte er neugierig.
Ich zuckte mit den Schultern.» Das weiß ich noch nicht genau.«
Wir schwiegen.
» Ganz egal, was du später mal tun willst, ich werde dich unterstützen«, sagte Tim plötzlich.» Ich lasse dich nicht im Stich.«
Ich musste lächeln.
Der restliche Tag floss zäh dahin und ich musste immer an den nächsten Tag denken und daran, wie Fiona reagieren würde, wenn sie mich auf die Straße laufen sieht oder Alex oder, ich schluckte schwer, meine Eltern. Sie werden am Boden zerstört sein, wenn sie mich reglos auf den Boden liegen sehen, blutüberströmt und mit leerem Gesichtsausdruck.
Wie immer, wenn etwas Unangenehmes bevorstand, schien die Zeit doppelt so schnell zu vergehen und ich fand, dass diese Nacht schneller verging, als die restlichen Nächte, in denen ich mit Tim durch den Wald gelaufen war.
Während allmählich die Sonne aufging, sah ich mich noch einmal in meiner Umgebung um. Die Straßen lagen noch ruhig da, aber ich wusste, dass es in ein paar Stunden hier nur so von Autos und Menschen wimmeln würde. Mein Blick schweifte zu Tim, der neben mir auf dem Ast saß und gerade damit beschäftigt war, die Beutel mit Kunstblut sauber zu öffnen.
» Das sieht eklig aus«, sagte ich ausdruckslos.
» Du sollst es ja auch nicht essen«, meinte er und sah mich an.» Hey, mach dir keine Sorgen. Es wird alles ganz glatt ablaufen, du wirst schon sehen.«
Ich nickte nur und versuchte den Kloß in meinem Hals runter zu schlucken, der mich schon seit letzten Abend quälte.
Allmählich ging die Sonne auf und tauchte die Spitzen der Bäume in mattes grün. Ich blickte auf die Straße, auf die ich mich in ein paar Minuten würde hinlegen müssen und ich war erleichtert, dass Tim mit seiner Behauptung recht gehabt hatte. Genau wie er sagte, wurde die Straße von der Sonne nicht berührt und ich würde keine Schwierigkeiten mit ihr bekommen.
» So, bist du bereit in Blut zu Baden?«, neckte er und fing an, mir das klebrige Zeug über den Kopf zu schütten. Ich schauderte, denn es fühlte sich echt widerlich an.
Als er fertig war, warf er die leeren Beutel in den Mülleimer und sagte:» OK, also sobald du Fiona siehst, schaust du zu mir herüber und gehst langsam auf die Straße zu. Falls sie dich ruft, dann hör nicht drauf, klar?« Ich nickte, denn ich war mir nicht sicher, ob ich meiner Stimme trauen durfte.» Du läufst einfach weiter und während du das tust, renne ich auf die Straße und sorge für den Crash. Sobald die Autos stehen, legst du dich einfach auf die Straße«, fuhr er fort.» Gut... ach ja, pass bitte auf, dass du von den Autos nicht gestreift wirst. Wenn du dich nämlich wirklich verletzt, dann fliegt das Ganze auf.«
» Ich versuch es«, knurrte ich, denn ich war echt zu angespannt, als dass er mir mit seinen Vorschlägen noch auf die Nerven gehen musste. Schließlich war ich es und nicht er, die sich auf die Straße legen und ihren eigenen Tod vortäuschen musste.
Er erhob sich und sprang leichtfüßig zehn Meter in die Tiefe. Man hörte keinen Aufprall, als er katzengleich auf dem Boden aufkam und er flitzte auf die Büsche, nahe der Straße zu.
Ungeduldig warf ich immer wieder einen Blick auf meine Uhr und beobachtete dabei angespannt die Straße, die zu meinem Haus führte, da ich ganz genau wusste, dass Fiona aus dieser Richtung kommen würde.
Endlich, nach einer viertel Stunde, sah ich Fiona auf den Park zukommen. Ich stand auf, sprang leise vom Baum und machte mich langsam auf den Weg zur Straße, während ich im Gehen einen Blick mit Tim tauschte, der nun wusste, dass die Show gleich losging.
Ich blickte mich um, denn ich war mir sicher, dass Fiona mich nun ohne Probleme würde erkennen können, sobald sie ihren Blick hob und lief weiter. Damit das Ganze auch realistischer aussah, hatte ich mir meinen Schulrucksack auf den Rücken geschnallt. Kaum kam ich am Ende des Parks an, da ertönte hinter mir Fionas Stimme.
» Hey Jess, warte Mal«, rief sie.
Ich ignorierte sie und marschierte entschlossen auf die Straße zu, ohne ein Anzeichen davon zu machen, dass ich sie gehört hatte; ich wechselte abermals einen kurzen Blick mit Tim und dann begann das Chaos...
Mit atemberaubender Geschwindigkeit raste Tim auf die Straße zu, genau in den Moment, als ich dabei war, diese zu überqueren. Am Rande meines Blickfeldes nahm ich das Ausweichen der Autos war und eines das direkt auf mich zusteuerte. Der Mann in dem Wagen starrte mit schreckgeweiteten Augen durch die Windschutzscheibe und versuchte seinen Lenker herum zu reißen als er mich sah, aber er hatte keinerlei Kontrolle mehr über seinen Wagen. Im letzten Moment sprang ich zur Seite, um nicht von dem entgegenkommenden Auto zerquetscht zu werden. Das Knirschen von verbogenen Metall war zu hören und dann der Aufprall, als ein weiteres von ihnen gegen die Straßenlaterne fuhr; Staub wirbelte auf und dann war alles still. Ohne Zeit zu verlieren rannte ich auf die Überreste der Wagen zu und legte mich mit geschlossenen Augen zwischen ihnen auf den Boden. Erst als sich der Staub legte, waren die angsterfüllten Rufe und Schreie der Menschen zu hören. Aus all dem Tumult konnte ich jedoch ganz genau die Stimme meiner besten Freundin heraus filtern.
» Jess!«, schrie sie und ich lauschte ihre Schritte, bis sie schließlich neben mir zu Boden sank und schluchzte.» Jess, bitte... sag doch was.« Sie schüttelte mich leicht und es kostete mich all meine Anstrengung, ruhig liegen zu bleiben und kein Lebenszeichen von mir zu geben.
Im Hintergrund nahm ich weitere Rufe wahr.
» Ruft mal jemand den Krankenwagen!«, schrie einer der Umstehenden.
Ich versuchte mich zu beruhigen, damit mich nichts verriet, aber Fionas Schluchzen lenkte mich ab, denn das Geräusch verursachte in mir ein komisches Gefühl. Am liebsten wäre ich aufgesprungen, hätte sie in den Arm genommen und gesagt, dass alles gut sei und dass sie sich keine Sorgen um mich machen musste.
Wieder hörte ich eilige Schritte, die auf mich und Fiona zukamen und dann die Stimme jenen Mannes, der wohl in dem Auto gesessen haben musste, das direkt auf mich zugekommen war.
» Ist alles OK?«, fragte er und fühlte meine Stirn.» Es ist alles meine Schuld. Ich hatte den Wagen nicht mehr unter Kontrolle. Irgendwas ist auf die Straße gerannt und als ich ausweichen wollte... ich habe sie viel zu spät gesehen.«
Fiona hielt weiterhin meine Hand und murmelte vor sich hin.
» Du wirst wieder gesund... es wird alles gut...«
Endlich hörte ich die Sirene eines Krankenwagens und ich entspannte mich etwas, denn wenn ich einmal im Leichenwagen liegen würde, dann hätte ich den größten Teil des Plans hinter mir. Ich hörte wie jemand ausstieg und dann auf uns zukam.
» Was ist passiert?«, fragte eine Stimme, wieder die eines Mannes.
» Sie wurde.. angefahren«, erklärte Fiona mit zitternder Stimme.» Der Fahrer hat irgendwie die Kontrolle über den Wagen verloren... ich weiß nicht wieso und dann... sind sie zusammengeprallt... und Jess... lag hier...« Ihre Stimme zitterte so heftig, dass ich mich wunderte, dass der Arzt alles verstanden hatte, was sie ihm erzählte.
» Ich habe sie angefahren«, sagte der Fahrer mit brüchiger Stimme.» Bitte, sagen sie, dass sie wieder gesund wird.«
Ich spürte, wie kalte Finger meinen Puls abtasteten und lauschte angespannt.
» Was ist mit dem Mädchen?«, fragte eine andere Stimme, offensichtlich ein Sanitäter.» Sollen wir die Trage holen?«
» Nein, dafür ist es zu spät«, antwortete der Mann neben mir betrübt.» Sie ist tot.«
» Sie.. ist tot?«, fragte Fiona.» Nein, das... das darf nicht sein...«
» Oh mein Gott, Jessica«, schrie jemand und meine Magen krampfte sich schmerzhaft zusammen. Diese Stimme würde ich überall heraus hören.
» Jessica«, wiederholte meine Mutter und ich spürte, wie sie meine Hand nahm.» Liebling, was ist mit dir? Sag doch was, bitte.«
» Darf ich fragen, wer sie sind?«, fragte der Arzt misstrauisch.
» Verzeihung... ich bin ihre Mutter... Veronika Casley...«, sagte sie verstört.
» Es tut mir Leid Ihnen das sagen zu müssen, Ms Casley, aber Ihre Tochter hat den Unfall nicht überlebt«, sagte der Arzt ruhig.
» W- was? Meine Tochter ist tot?«, erwiderte sie schockiert.» Nein... s- sie darf nicht... das g- geht nicht... Jess...« Sie strich mir übers Haar und ich musste mich zusammenreißen, dass ich keine Miene verzog, denn es fiel mir schwer mich zu kontrollieren. Hatte ich mir denn nicht schon ausgemalt, wie sie reagieren würde? Aber trotzdem schien es das nicht besser zu machen, im Gegenteil: es war noch viel schlimmer als ich es mir vorgestellt hatte.
» Was ist passiert?«, wiederholte meine Mutter die Frage, die schon der Arzt gestellt hatte.
» Sie wurde angefahren«, erwiderte er.» Das hat uns jedenfalls ihre Freundin hier gesagt.«
» Fiona..., was.. hast du gesehen?«
» Sie lief vor mir«, erzählte sie und versuchte genauso gefasst zu sprechen, wie der Doktor.» Ich habe sie... gerufen, aber sie hat... mich nicht gehört... Sie kam vor mir an der Straße an.... als sie rüber gehen wollte... ist dann das Auto auf sie zugekommen... Es ging alles so schnell... das letzte was ich sah, war, dass sie versucht hat auszuweichen, aber... der Fahrer hat sie gerammt...«, schloss sie mit einem Schluchzen.
In meinem Körper herrschte ein Chaos von Gefühlen. Ich wusste nicht, was ich als erstes fühlen sollte, ob Schmerz, Trauer oder Verzweiflung.
» Wir werden sie ins Leichenhaus bringen«, unterbrach der Arzt die Stille und versuchte beruhigend auf meine Mutter einzureden.» Sie wird morgen früh in die Kirche gebracht, da können Sie sie noch einmal sehen.«
Ich spürte, dass es meiner Mutter schwerfiel mich loszulassen, aber sie küsste mich nur auf den Kopf und ließ meine Hand los. Ich merkte, wie mich mindestens zwei Sanitäter auf eine Trage hievten und sie mich mit einem weißen Laken bedeckten. Dann schoben sie mich in einen Wagen und schlossen die Tür. Erst als sich das Auto in Bewegung setzte, war das für mich ein Zeichen, die Augen endlich wieder zu öffnen.

Tausende Gedanken rasten mir durch den Kopf während das Auto in Bewegung war. Ich wusste nicht, ob ich mich freuen sollte, dass unser Plan bis jetzt funktionierte, denn als ich gemerkt hatte, wie sehr meine Mutter gelitten hatte, zweifelte ich zum ersten Mal an unserem Vorhaben. Jetzt ist es jedoch zu spät, um noch irgendwas zu ändern, dachte ich traurig. Tim würde an der Kirche auf mich warten und mich aus dem Sarg holen, sobald alle Trauergäste verschwunden waren. Ich wollte mich auf die Seite drehen, da die Rückenlage für mich sehr unbequem war, aber ich wusste, dass das nicht ging, denn dann würden es die Sanitäter merken.
Nach etwa zehn Minuten hielt der Wagen und ich schloss die Augen, als ich aus dem Wagen gehoben und in ein Gebäude getragen wurde; Türen öffneten und schlossen sich wieder; die Leute, die mich trugen, setzten mich ab; Schritte waren zu hören, dann das Zuschlagen einer Tür und dann herrschte Stille.
Ich hoffte inständig, dass sie sich beeilten, denn würde ich erst mal im Sarg liegen, dann konnte ich guten Gewissens die Augen wieder öffnen, denn ich kam mir ziemlich dämlich vor, mit geschlossenen Augen auf einem Tisch zu liegen. Allein der Gedanke daran, dass ich von anderen toten Menschen umringt war, jagte mir einen Schauer über den Rücken, aber ich musste mich zusammenreißen.
Endlich hörte ich Schritte auf mich zukommen und schloss schnell wieder meine Augen, als mir jemand das Tuch vom Gesicht riss.
» Armes Mädchen«, sagte die Stimme einer Frau.» Sie sieht noch so jung aus. Haben sie die Papiere?«
» Hier«, sagte eine vertraute Stimme. Ich registrierte sie als die des Arztes, der mich am Unfallort untersucht hatte.
» Ihr Name ist Jessica Casley«, fuhr er fort und ich hörte deutlich das Rascheln des Papieres.» Ihre Mutter war vorhin schon am Unfallort.«
» Oh Gott, das muss schrecklich für sie sein«, antwortete die Ärztin.» Wie alt?«
» Sechzehn«, erwiderte er.» Sie war wohl auf dem Weg zur Schule, als sie von dem Auto erfasst wurde. Die Eltern haben für morgen Nachmittag einen Trauergottesdienst geplant, damit sich alle von ihr verabschieden können.«
» Da sollte ich sie bis dahin fertig machen«, sagte die Frau und ich vernahm das Plätschern des Wassers, welches offensichtlich in einem Eimer aufgefangen wurde.» Das Mädchen hatte noch ihr ganzes Leben vor sich. Da kann man mal sehen, wie schnell sein Eigenes zu Ende sein kann.«
Es dauerte fast eine halbe Stunde bis ich endlich in einen hölzernen Sarg gelegt und in die Kirche gefahren wurde. Ich hatte jedenfalls so viel mitbekommen, dass der Sarg während der Feier offen blieb, damit mich alle Gäste noch einmal sehen konnten, was es für mich natürlich noch schwerer machte, denn ich durfte mich dann mehrere Stunden lang nicht bewegen, geschweige denn einen einzigen Laut von mir geben.
Als ich die Tür der Kirche ins Schloss fallen hörte, öffnete ich mit einem Seufzer die Augen und sah mich um. Die Jalousien waren zugezogen, was mir ganz gelegen kam, denn so konnte mich die Sonne nicht berühren, denn nach meiner Zeitrechnung war es gerade mal Mittag. Jedenfalls war ich unendlich froh, das Kunstblut los zu sein. Ich hob den Blick und registrierte das Innere der Kirche. Die Decke war sehr hoch und mit verschiedenen Mustern der Entstehungsgeschichte bemalt; hinter dem aus schwarzen Holz geschnitzten und mit Blumen verzierten Sarg, standen etliche Kerzen und Kerzenständer, sowie mehrere Rosenkränze auf einer kleinen Nische. Über der Eingangstür hing ein Holzkreuz. Ich schritt durch die langen Bankreihen durch die Kirche und lugte vorsichtig aus einem der kleinen Fenster. Niemand war auf dem Friedhof zu sehen, der direkt an die Kirche grenzte. Ich wandte mich vom Fenster ab und setzte mich auf eine Bank.
Wo waren meine Eltern jetzt? Saßen sie zu Hause und weinten sich die Augen aus? Hatten sie Fiona nach Hause gebracht oder war sie in die Schule gegangen, um allen in meiner Klasse zu erzählen, was passiert war? All diese Fragen schwirrten mir durch den Kopf.
Ein Geräusch ließ mich aufhorchen und als sich die Schritte näherten, schnellte ich hoch und legte mich in den Sarg zurück. All das hatte gerade mal zwei Sekunden gedauert und ich war froh, dass ich so überdurchschnittlich schnell war. Die Person kam jedoch nicht in die Kirche und ich hörte erleichtert, wie die Schritte in der Ferne verklangen.
Draußen vor den Fenstern wurde es endlich dunkel. Ich saß in meinem Sarg und schaute gebannt zur Tür, als würde ich jemanden erwarten, aber ich wusste sehr genau, dass niemand kommen würde, um mich zu besuchen; außerdem war die Tür abgeschlossen.
» Na, wie gefällt dir dein Sarg«, sagte eine Stimme hinter mir und ich zuckte so sehr zusammen, dass ich fast das Gleichgewicht verloren hätte und aus dem Sarg gefallen wäre. Fast.
» Hey, ich bin’s doch nur«, sagte Tim und lachte.» Wir sind heute etwas schreckhaft, wie?«
» Kannst du dir nicht mal angewöhnen, mich vorzuwarnen«, zischte ich genervt.» Es gibt Menschen, die mögen so was überhaupt nicht.«
» Entschuldige, ich dachte nur, du brauchst etwas Gesellschaft«, meinte er verlegen.» Aber du musst doch zugeben, dass der Plan bis jetzt gut verläuft.«
» Wenn du damit meinst, dass ich mit anhören musste, wie meine Freundin und meine Mutter sich die Augen ausheulen, nur weil sie denken, dass ich tot bin, dann kann ich nicht mit dir übereinstimmen«, fauchte ich.
» Du weißt so gut wie ich, dass wir keine andere Wahl hatten«, verteidigte er sich.» Erstens, habe ich dir gesagt, der Plan würde dir sicher nicht gefallen, woraufhin du gesagt hast, dass du alles machen wirst, ganz egal wie verkorkst der Plan auch sein mag und zweitens, selbst wenn ich dich nicht verwandelt hätte, wärst du an deinen Verletzungen gestorben und das hätte einen ähnlichen Effekt gehabt, nur mit dem kleinen Unterschied, dass du jetzt noch quicklebendig bist.«
» Dann hätte ich ihnen lieber alles erzähl«, gab ich zurück und unterdrückte meine Tränen.» Sie hätten mich genommen, wie ich bin, ganz egal, ob ich nun ein Vampir bin oder nicht. Sie hätten mich nicht in ein Versuchungslabor gesteckt.«
» Woher willst du das wissen?«, fragte er sarkastisch.
» Sie sind meine Eltern«, schrie ich.
» Nicht so laut«, bat er.» OK, es tut mir Leid, aber... was würde es deinen Eltern denn nützen, wenn sie wissen, dass du zwar am Leben, aber doch anders bist? Du vergisst, du wirst niemals sterben, Jessica, nie. Wenn man mal davon ausgeht, dass du dich nicht umbringst.«
» Sie würden wenigstens wissen, dass es mir gut geht und sich keine Sorgen um mich machen«, sagte ich und ließ meinen Blick abermals durch die Halle schweifen.
Tim verließ mich kurz vor Sonnenaufgang und versprach mir, dass er in meiner Nähe bleiben würde, bis alles vorbei war.
Als sich die Kirchentür schloss ( die Tim aufgebrochen hatte), legte ich mich wieder in den Sarg und schloss die Augen. Ich überlegte sogar, ob ich nicht doch schlafen sollte; dann würde ich wenigstens nichts groß von der Trauerfeier mitkriegen und musste mich nicht mit sonstigen Gedanken quälen. Diese Idee verwarf ich jedoch wieder, als ich die verschiedenen Stimmen von draußen wahrnahm. Es dürfte jetzt nicht mehr lange dauern, dachte ich und versuchte mich zu fassen. Genau in dem Moment, als die Tür aufging, schloss ich die Augen und um mich abzulenken, lauschte ich den Schritten der Leute, die nacheinander in die Halle strömten.

Tim stand auf der Feuerleiter und beobachtete vom Fenster aus das Geschehen. Wenn niemand auf den Gedanken kam, das Fenster genauer zu mustern, dann würde man ihn sicher nicht entdecken. Die halbe Stadt schien Jessica die letzte Ehre erweisen zu wollen. Er selbst kannte außer dem blonden Mädchen Fiona, die in der ersten Reihe Platz nahm, niemanden von Jessicas Freunden oder Verwandten. Neben Fiona saß noch ein Junge mit braunen kurzen Haaren. Offensichtlich war das noch ein enger Freund von ihr, denn er schien nicht älter, als sie selbst. Auf Fionas linker Seite saßen die Eltern von Jessica, die beide ganz in Schwarz gekleidet waren. Der Rest der Trauergäste schienen Schüler, Lehrer und andere Bekannte der Familie zu sein.
Tims Blick blieb an Jessica hängen, die seelenruhig in ihrem Sarg lag. Nur er wusste, dass sie nicht wirklich tot war, aber wenn man sie von einem anderen Standpunkt aus betrachtete, könnte man annehmen, dass sie schliefe.
Die Tür öffnete sich wieder und der Pfarrer erschien. Er lief durch die Halle und blieb an einem Holzpult stehen. Die Gespräche der anderen verstummten augenblicklich und alle wandten ihren Blick dem Pfarrer zu.

Es war totenstill während der Pfarrer zu Sprechen begann. Ich schnappte von seiner Rede nur einzelne Wortfetzen auf, da ich mit meinen Gedanken ganz woanders war und mich viel zu sehr darauf konzentrieren musste, mich nicht zu regen.
» ... Sie war noch sehr jung und hat sich mit ihren Freunden und Klassenkameraden sehr gut verstanden...«, sagte der Pfarrer gerade.
Ich versuchte zu erhören, wo genau meine Eltern saßen, aber ich konnte es nicht ausmachen und so nahm ich mir fest vor, Tim zu fragen, damit er mir alles haarklein beschrieb, sobald ich hier herauskam.
»... Nun bitte ich sie nacheinander vorzutreten und ihre Geschenke vorzubringen«, endete der Mann und ich spürte, wie er zur Seite trat und hörte, wie alle aufstanden und sich ihre Schritte näherten.

Tim sah auf die Szenerie herab, als alle nacheinander aufstanden und mit Blumensträußen oder einzelnen Blumen nach vorn traten, um diese dann neben den Sarg zu legen. Als erstes kamen die Eltern an dem Sarg vorbei, nach ihnen folgte Fiona und dann der Junge, dessen Namen er nicht kannte. Aber etwas machte ihn stutzig, denn er glaubte eine schwache Bewegung von Jessica wahrgenommen zu haben, als der Junge sich näherte.

Viele Körper die an mir vorbei rauschten, konnte ich anhand des Geruchs erkennen und so wusste ich, dass die ersten, die meinen Sarg streiften, meine Eltern waren. Ich spürte ganz deutlich ihren Blick auf mir ruhen und ich bemühte mich, keine Miene zu verziehen. Als nächstes lief Fiona an meinem Sarg vorbei, die ich anhand ihres Schluchzens erkannte, denn sie hatte gestern nur geweint, als sie mich auf der Straße hatte liegen sehen. Plötzlich schlug mir ein süßer Duft entgegen, den ich nicht deuten konnte und automatisch fingen meine Zähne wieder an zu schmerzen.


© ZoeyRedbird96


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